Die Ratstreffen der Europäischen Union sind nur selten eine Bühne für starke Auftritte. Zuviel Gefeilsche, zu viele faule Kompromisse und eine ärgerliche Leisetreterei gegenüber den Nationalisten und Autokraten, die das historische Einigungswerk von innen aushöhlen und letztlich zu zerstören drohen, trüben das Bild. Für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird auch ihr letzter Gipfel im Kreis der europäischen Familie vor der Bundestagswahl im September keine Erfolgsgeschichte begründen. Die EU ist in einem beklagenswerten Zustand.
Der aktuelle Streit mit Ungarn über ein neues Gesetz zur Beschränkung von Informationen über Homosexualität belegt aufs Neue die menschenfeindliche Politik der Regierung von Viktor Orban. Die Empörung ist groß, doch was unternimmt die EU tatsächlich, um antidemokratischen Tendenzen sowie Verletzungen der Grund- und Menschenrechte Einhalt zu gebieten? Der Abbau der Rechtsstaatlichkeit schreitet voran. Nach Ungarn und Polen auch in Slowenien. Die Untätigkeit der Europäischen Kommission wirkt offenbar ermunternd. Böse Briefe aus Brüssel scheren die demokratiefeindlichen Regierungschefs wenig.
Seit Anfang des Jahres ist die mühsam errungene Rechtsstaatsklausel in Kraft, doch die Kommission macht bisher keinen Gebrauch davon. Das sei eine Verweigerung der Pflichterfüllung, zetern Abgeordnete des Europäischen Parlaments, das nun versucht mit einer sogenannten Untätigkeitsklage Druck auf Kommissionschefin Ursula von der Leyen auszuüben. Der werfen Kritiker vor, im Gegenzug für die Stimmen aus der ungarischen Fides und der polnischen PiS-Partei bei ihrer Wahl die Regierungen Orban und Andrzej Duda zu schonen, und berufen sich dabei auch auf ein entsprechendes Stillhalteabkommen zwischen Merkel und Orban. Ein Unding, und die vordringliche Aufgabe der Kommission als Hüterin der Verträge – auch der europäischen Grundrechte-Charta – liegt offensichtlich nicht in guten Händen.
Um die zentralen politischen Fragen steht es nicht viel besser. In ihrer Regierungserklärung vor dem Gipfel unterstrich Merkel ihre Überzeugung, dass die Probleme der Zeit nur in der Staatengemeinschaft zu bewältigen sein werden. Darin unterscheidet sie sich von keinem ihrer Amtsvorgänger, die grundsätzlich für die europäische Einigung eingetreten sind. Doch in den konkreten Politikfeldern tun sich tiefe Risse auf. Am deutlichsten wird das beim Thema Migration.
Seit Jahren schwelt der Konflikt mit den Mittelmeeranrainerstaaten. Von Solidarität keine Spur. Stattdessen wird ein inhumanes Abschottungs- und Rückweisungssystem praktiziert, das unerträgliche Zustände in Aufnahmelagern hervorruft, das Ertrinken im Mittelmeer nicht stoppt und den europäischen Grundwerten Hohn spricht. Mit weiteren Milliarden soll der Flüchtlingspakt mit der Türkei gesichert werden. Die EU stellt der Regierung Erdogan verbesserte Handelsbeziehungen in Aussicht und hat dem Nato-Partner mit seiner aggressiven Politik in der Region und gegen die Opposition im eigenen Land wenig entgegenzusetzen.
Im Verhältnis zu Russland ergreifen Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Initiative für eine Rückkehr zum Dialog. Das ist einer der klassischen Vorstöße des deutsch-französischen Motors in Europa, der zwischen Merkel und Macron nur selten gezündet hat. In der Gipfel-Debatte zum Umgang mit Russland werden die bekannten Positionen aufeinandertreffen. Die Osteuropäer sind maximal skeptisch gegenüber dem Kreml und es wird schwer sein, wenigstens die Einsicht zu fördern, dass ein Mindestmaß an Zusammenarbeit der gemeinsamen Sicherheit dient und in globalen Fragen unverzichtbar ist.
Merkel wird, wie schon vor dem Bundestag, die gemeinsame Corona-Politik als europäische Erfolgsgeschichte darstellen. Zurzeit ist die Pandemie europaweit eingedämmt, die Impfungen kommen voran, die Schreckensnachrichten nehmen ab, ein digitaler Impfnachweis soll das Leben erleichtern; zugleich droht die Delta-Variante eine vierte Welle hervorzubringen, was nicht zuletzt die beginnende Reisewelle fragwürdig macht.
Tatsächlich historisch sind die gemeinsamen finanziellen Kraftanstrengungen, die Europa zum Neustart nach der Krise aufbringt. Nicht nur die Größenordnung, sondern auch der gemeinschaftliche Charakter des Wiederaufbaufonds mit einem Eintreten füreinander sind Ausdruck echter Solidarität. Es wäre ein Lichtblick für die Zukunft der EU, wenn sich der nationale Egoismus nicht nur in der Corona-Krise und nicht nur mit Blick auf die gemeinsame Wirtschaftskraft überwinden ließe.