Eigentlich könnte einem die Sache egal sein. Wie oft haben neu gewählte Vorsitzende der SPD in der Vergangenheit im ersten Überschwang kühne Ankündigungen gemacht, die sich im Lichte einer überaus grauen Wirklichkeit als allzu forsch erwiesen haben. Und richtig ist auch: Die beiden in Rede Stehenden haben ihr Ziel seinerzeit ja schon nach vier Wochen in den gewählten Ämtern wieder dementiert. Also eigentlich alles ganz normal? Nicht ganz, denn in diesem Fall ging und geht es um Vertrauen, das angeblich neu aufgebaut werden soll.
Doch der Reihe nach: Am 6. Dezember 2019 gab die SPD-Vorsitzende Saskia Esken in einem Interview unserer Parteizeitung „VORWÄRTS“ auf die Frage, was denn die Ziele bis Ende 2020 sind, folgende Antwort: „Zustimmungswerte für die SPD von 30 Prozent und vielleicht mehr.“ Keine vier Wochen später, am 4. Januar 2020, meldeten die Agenturen das große Dementi. Der Mit-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans erklärte gegenüber der Funke-Mediengruppe: „Niemand von uns hat gesagt, dass wir 30 Prozent bei der nächsten Bundestagswahl holen.“ Womit er sinngemäß übrigens recht hatte, denn diese 30 Prozent sollten ja schon 9 Monate vor der Bundestagswahl 2021 erreicht werden – kurz nach Weihnachten 2020.
Man könnte angesichts der Possenhaftigkeit dieses Vorgangs zur Tagesordnung übergehen. Doch die Angelegenheit reicht tiefer, weil sie für etwas steht, was in „meiner“ SPD, der ich seit einem halben Jahrhundert als Mitglied angehöre, leider seit geraumer Zeit mehr und mehr grassiert: sich kurzzeitig illusionären Ziele hinzugeben, dann unter Druck zurück zu rudern und sich wie andere über die gegenwärtige Lage der SPD zu täuschen. Ich weiß nicht, was man mit einem solchen Schlingerkurs gewinnt, aber Vertrauen bei der Wahlbevölkerung bestimmt nicht.
Ein Blick auf die Zahlen der Demoskopen ist ernüchternd: Vor einem Jahr rangierte die SPD zwischen 13 und 16,5 Prozent, jetzt Ende November 2020 sind es zwischen 15 und 17 Prozent. Noch 30 Tage hätten die beiden SPD-Vorsitzenden „bis Jahresende 2020“ Zeit, wollte man sie ernsthaft an ihren Zielvorgaben von vor einem Jahr messen.
Auf keinen Fall sollte man sich die Lage so schönreden, wie das der SPD-Vize Kevin Kühnert tut, als er kürzlich darauf hinwies, dass die aktuellen 16 Prozent im Lichte der Tatsache, woher man gekommen sei, schon „ein Stück nach oben gegangen“ sind. Wenn das der Anspruch ist, nach einer von Kühnert und seinen Jusos „erfolgreich“ betriebenen Vorsitzenden-Wahl und fast einem Jahr Führungsverantwortung des Duos an der Spitze, ein bis zwei Prozentpunkte zugelegt zu haben, dann kann man sich den Wahlausgang nur noch schön ausmalen oder schönreden – aber das hat weder etwas mit der Wirklichkeit noch mit politischer Ernsthaftigkeit zu tun.
Denn dass die demoskopische Lage der SPD ernst und gleichermaßen trist ist, wird von niemandem in der SPD bestritten. Eigentlich hört man hinter vorgehaltener Hand nur noch Töne der Verzweiflung, die sich mit den üblichen Durchhalteparolen abwechseln. Ja, es ist wahr und tragisch zugleich: Die SPD hat in der aktuellen GroKo viele ihrer Projekte durchsetzen können. Sie hat in der Tat gut regiert, verfügt über exellente Ministerinnen und Minister, die ihren erkennbaren Beitrag dazu geleistet haben, dass die Corona-Pandemie nicht mit sozialen Verheerungen einhergeht.
Im Gegenteil: Dem umsichtigen und krisenfesten Bundesfinanzminister Olaf Scholz, seit gut drei Monaten sogar SPD-Kanzlerkandidat, ist es gelungen, in diesem und im kommenden Jahr Bundeshaushalte durchs Parlament zu bringen, die scheinbar „ohne Limit“ zu sein scheinen.
Die Menschen spüren, dass die Bundesregierung wirklich alles in ihrer Macht stehende tut, damit die Corona-Krise keine Krise von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wird. Es ist daher absolut unverständlich, warum die SPD noch immer mit der von ihnen seit Jahren politisch getragenen Bundesregierung erkennbar fremdelt, warum sie sich selbst in der größten wirtschaftlichen Krise unseres Landes immer noch nach anderen „linken“ Mehrheiten sehnt, die seit Jahren in keiner Umfrage eine gesellschaftliche und schon gar keine politische Mehrheit auf sich vereinigen konnte.
In knapp 300 Tagen ist Bundestagswahl. Doch es ist keine Strategie erkennbar, wie eine „Mehrheit diesseits der Union“ erreicht werden könnte.
Stattdessen werden die Ankündigungen der Protagonisten aus der SPD-Spitze schwächer und unbestimmter. Auf keinen Fall strebe man eine erneute Koalition mit der Union an, obwohl man sich bei vielen Vorhaben gegen genau diesen Koalitionspartner politisch durchgesetzt und gute Lösungen für Millionen Menschen bei uns erreicht habe. Das verstehe, wer will.
Realistische Einschätzung der Lage
Die potenziellen Wähler scheinen es jedenfalls nicht zu überzeugen. Da hilft es auch nicht, wenn Kevin Kühnert vor ein paar Monaten in einem WELT-Interview eine erneute große Koalition nicht ausschließen wollte. Die anschließende Verwirrung unter seinen Getreuen versuchte der Juso-Chef in den sozialen Netzwerken rasch unter Kontrolle zu bringen. Aber das politische Signal war kaum noch zu zerstreuen: Im Notfall mache ich, Kevin Kühnert, alles mit, auch eine Fortsetzung der Koalition mit den Schwarzen.
Gut so, möchte man ausrufen. Und das meine ich wirklich und ehrlich. Denn zur politischen Ernsthaftigkeit gerade in Umbruchszeiten wie diesen gehört eine realistische Einschätzung, was in den folgenden zehn Monaten angesichts der aktuellen Ausgangslage wahlpolitisch möglich ist. Natürlich kenne auch ich den Satz, dass zehn Monate in der Politik eine Ewigkeit sind. Natürlich kenne ich die offizielle Durchhalteparole aus dem Willy-Brandt-Haus, nach der bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 Angela Merkel nicht mehr antritt. Und natürlich freue ich mich an jungen und alten Menschen in meiner Partei, die endlich mal etwas anderes erleben wollen als immer wieder sogenannte große Koalitionen, die über die Jahre aber und zudem an politischem Gewicht und Reichweite verloren haben.
Doch jetzt geht es um etwas Anderes. Und mein Eindruck ist, die Menschen draußen spüren dieses „Andere“ stärker und mehr, als es meine Partei wahrnimmt. Sie haben schlicht Angst um ihre Jobs. Und dies zu Recht! Denn die Herausforderungen für Deutschland und seine herkömmliche Wirtschaftsstruktur werden im nächsten Jahrzehnt gewaltig sein. Es geht um nichts weniger als um den politisch beförderten und begleiteten Komplett-Umbau unseres Modells Deutschland, damit die soziale Marktwirtschaft , auch im Geiste Karl Schillers, in der aufkommenden Ära des digitalen Umbruchs – mit allen seinen wirtschaftlichen Begleiterscheinungen und sozialen Verwerfungen – eine Zukunft hat, die zugleich die ökologische Belastbarkeit unseres Planeten nicht überfordert.
Was bedeutet das in Bezug auf die in 300 Tagen stattfindende Bundestagswahl? Obwohl sich die CDU eine kuriose Debatte um einen neuen Vorsitzenden erlaubt, legt sie in Umfragen sogar zu. Deswegen führt an der Erkenntnis kein Weg vorbei, dass derzeit in Deutschland gerade mal zwei Zweier-Konstellationen als Regierungskoalition möglich sind: Schwarz-Grün und Schwarz-Rot. Und spätestens seit dem Bundesparteitag der Grünen wissen alle, die es wissen wollen: Die Grünen verschwenden viel weniger Gedanken an eine „linke“Mehrheit in Deutschland als die „Linken“ in der SPD!
Erfolgreiche Regierungskoalition
Was folgt daraus für mich? Die SPD wäre gut beraten, endlich ein entkrampftes Verhältnis zu entwickeln zu der, von ihr mitgetragenen und politisch erfolgreich gestalteten, Regierungskoalition mit vielen sozialdemokratischen Gesetzen und Projekten. Das muss seinen politischen Ausdruck finden im selbstbewussten Auftritt und in einem kühnen und modernen Gesellschaftsentwurf, der über das enge Quartier von Sozial-, Umverteilungs-, Identitäts- und Genderpolitik hinausreicht. „Meine“ SPD kann doch nicht ernsthaft glauben, dass man wieder in die Nähe „Mehrheitsfähigkeit“ gelangen kann, wenn man keine Stimme mehr einbringen kann in den öffentlichen Meinungsstreit zu den zentralen Fragen der Wirtschafts-, Wissenschafts-, Migrations-, Energie-, Innovations- oder Digitalpolitik, die unser ökonomisches Gewicht im globalen Wettbewerb bestimmen!
Die SPD steht, ob sie es einstweilen wahrhaben will oder nicht, vor einer historischen Entscheidung: Wenn sie weiter zuwartet, ihre politischen Arenen minimiert auf wenige soziale oder gesellschaftliche Verteilungsfelder von Politik und ansonsten auf ein Wunder hofft, dass ihre demoskopische Position unversehens in lichte Höhen treibt, sollte sie einen Astrologen oder eine Lotto-Annahmestelle aufsuchen. Doch dafür ist die Lage des Landes zu ernst. Die Grünen haben sich schon auf den Weg gemacht – hin zu einer neuen Koalition, ohne die SPD!
Wenn meine Partei den Trend zu Schwarz-Grün noch stoppen will, dann sollte sie sich bald erklären – und zwar zur Fortsetzung eben dieser erfolgreichen Koalition. Ansonsten besteigt sie einen Zug, dem schon im Bahnhof die Lokomotive fehlt. Der Weg in die politische Opposition oder auf das Abstellgleis ist dann nur noch folgerichtig. Man kann das so wollen, doch die Menschen wählen bei uns – das zeigt die politische Erfahrung – vor allem Parteien, die mitgestalten wollen und ernsthaft stolz auf das von ihnen Erreichte sind. Die SPD hat allen Grund – nach allem, was sie in den letzten Monaten geleistet hat – auch die Zukunft unseres Landes über die nächste Bundestagswahl hinaus mitgestalten zu wollen. Sie muss sich nur entscheiden! Hic rhodus, hic salta!
Der Autor ist Vorsitzender der Karl Schiller Stiftung
Bildquelle: Wilhelm Kleinöder, CC BY-NC-ND 3.0 DE
lieber herr prinz, gesundbeten hilft nicht mehr: wer sich in den zeiten von heinemann und brandt von der muttermilch der spd ernährt hat, „mehr demokratie wagen“ und „ein volk von guten nachbarn sein“ wollte, fand mit „wir sind die spd der 80-er jahre“ auch sein ende: schmidt, der kalte-krieger-kanzler mit dem „doppelbeschluss“, lafontaine vom „basta-„macher schröder entfremdet – wo ist das gesicht, wo ist das profil, das programm, die person, die die spd an jene friedenspolitische zeit wieder anknüpfen lässt. nein, das sozialdemokratische jahrhundert ist mit dem zerfall des kommunistischen imperiums vorbei, wie uns ralf dahrendorf prophezeit hat: es braucht keinen puffer mehr zwischen west und ost, weil der globalisierte markt längstens die herrschaft über die politik übernommen hat, die „soziale marktwirtschaft“ ist unter der ägide der seeheimer partei deutschlands zur „marktkonformen demokratie“ verkommen. weil demokratie als herrschaft des volkes und der vielen mit kapitalismus als herrschaft der eliten, der wenigen unverträglich ist, haben längst die black rocks, vanguards, state street und deloitte und ihre willigen vollstrecker in der banken- und wirtschaftswelt – eine art neuer „harzburger front“- die zügel in die hand und uns die illusion genommen, diese art von oligarchie sei noch demokratisch zu retten – vergessen sie es: die welt ist auf dem andern weg in die formen autoritär-faschistischer regime, in denen der nationalismus und chauvinismus wieder fröhlich urständ feiert: liberté, egalité und fraternité und die früchte der aufklärung sind nur noch archivalisch zu erreichen.