* Übersetzung des Beitrags von Joachim Bitterlich und Nicole Gnesotto in „Le Monde“ vom 9. Februar 2022
Vorbemerkung: Joachim Bitterlich war von 1993 bis 1998 Leiter der Abteilung für Aussen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik im Bundeskanzleramt und hat als „Sherpa“ die internationalen Gipfel-Treffen für Bundeskanzler Helmut Kohl vorbereitet. Heute ist er u.a. Mitglied im Verwaltungsrat des „Jacques Delors Instituts“, seine Mitautorin ist Vizepräsidentin dieses Instituts.
Der Beitrag macht deutlich, dass einer der engsten aussenpolitischen Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl den Konflikt um die Ukraine sehr viel differenzierter sieht als der Grossteil der politisch Verantwortlichen und der Medien in Deutschland. Besonders bemerkenswert ist, dass Bitterlich und seine Mit-Autorin am Ende ihres Beitrags eine Perspektive skizzieren, die weitreichende europäische Zusammenarbeit auf vielen Feldern unter Einschluss Russlands vorsieht und dass sie ausdrücklich über die NATO hinausdenken:
„Es ist Zeit, dass die Europäische Union sich beherzt um die ukrainische Krise kümmert“
Der Traum der Europäer, in ihrer gesamten Nachbarschaft von Partnern und Freunden umgeben zu sein, ist weit entfernt von der Wirklichkeit unserer Tage: Europa ist umgeben von Konflikt- und Risiko-Zonen, von Russland bis Nordafrika, von der Sahel-Zone bis zum Nahen Osten. Über ihre Besonderheiten hinaus sind diese negativen Entwicklungen auch das Ergebnis einer gemeinsamen Verantwortung in der Folge einer Kette von Fehlern oder wechselseitigen Nichtverstehens. Wir haben „dem anderen“ weder zugehört noch die Veränderungen, die im Gang sind, richtig bewertet, die Möglichkeit oder die Risiken – und vor allem haben wir es nicht geschafft, eine wirklich gemeinsame Aussenpolitik zu entwickeln.
Die Ukraine ist in dieser Hinsicht beispielhaft. Das ist eine Zone latenten Konflikts seit dem Ende der Sowjetunion, verstärkt durch die gemeinsame Geschichte des Landes mit Russland und durch die besonderen Empfindlichkeiten auf beiden Seiten. Erinnern wir uns an die Entwicklung seit 1991: Von Anfang an war seine Zukunft Teil der Streitigkeiten und der Einigkeit über Uneinigkeit zwischen Russen und westlichen Ländern. In Wirklichkeit hat Russland die Selbstständigkeit der Ukraine nie akzeptiert. Durch die Annexion der Krim und durch die aggressive Einmischung im Osten der Ukraine spielt Russland mit dem Feuer. Es versucht um jeden Preis seinen Status als Grossmacht zurückzugewinnen. Durch direkte bilaterale Verhandlungen will es wieder gleichberechtigt mit den Amerikanern sprechen.
Die Europäische Union (EU), teilweise uneinig mit Blick auf ihre östlichen Nachbarn, wird auf eine zweitrangige Rolle abgeschoben, trotz der Anstrengungen Frankreichs und Deutschlands mit dem „Normandie-Format“.
Im Westen, vor allem in der NATO, scheint die Politik gegenüber Russland, Rückzieher zu machen. Die positiven Signale und die Chancen von vor zwanzig Jahren sind vergessen.
Es herrscht der Hochmut der Sieger, man weigert sich Russland anders als einen feindlichen Verlierer der Geschichte zu sehen. Die Folgen sind offensichtlich: Die Risiken eines Konflikts sind ernst, einschliesslich derer aus Zufall und/oder durch Provokation. Das ändert nichts daran, dass die Überlegungen Frankreichs und Deutschlands zur Ukraine vom Ende der 1990er Jahre für eine politische Lösung des Konflikts, die positiv für die Ukraine und für Europa wäre, nichts an Aktualität verloren haben. Das Land sollte eine Brücke bilden im Herzen dieses neuen Europas, zwischen dem früheren Westen und dem früheren Osten, auf Grundlage einer Garantie seiner territorialen Integrität durch Russland, die USA, Polen, Frankreich und Deutschland, dadurch, dass es nicht Mitglied der NATO wird, seine innerstaatlichen Strukturen föderalisiert, durch einen auszuhandelnden besonderen Status für die Krim, ein Assoziierungsabkommen mit der EU und mit der neuen Wirtschaftsunion im Osten, all das mit einer Klausel zur Überprüfung nach zwanzig Jahren.
Darüber hinaus müssen wir uns dringend zusammenreissen und zu einem anderen europäischen Verhalten kommen. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Wir müssen zurück zu einer kreativen Diplomatie und uns an den vielversprechenden Diskussionen der 1990er Jahre orientieren, indem wir einen dauerhaften Dialog aller europäischen Nationen einrichten und einen neuen Mechanismus zur Lösung von Krisen schaffen. Zu schaffen sind: Ein Europäischer Sicherheitsrat. Wieder in Schwung zu bringen: ein kollektives Eintreten für Rüstungskontrolle und Abrüstung. Von neuem zu erfinden: Die ganze vergessene gesamteuropäische Agenda – von der KSZE zur OSZE oder zur Charta von Paris – dieses Mal aber ernsthaft!
Was sollte das Ziel sein? Eine gemeinsame europäische Architektur, die die grossen Themen der Helsinki-Vereinbarungen (von 1975) aufnimmt: ein gesamteuropäischer Markt, ein gemeinsamer Energiemarkt, Zusammenarbeit auf dem Gebiet der inneren Sicherheit, der Menschenrechte, des Umweltschutzes, kulturelle Zusammenarbeit und ein permanenter Krisen-Mechanismus. Vor zwanzig Jahren haben wir eine lobale Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU knapp verfehlt:
Die Kooperationsvereinbarung von 1997 ist nicht erneuert worden. Das Thema stellt sich aber weiter. Für die Europäer versteht es sich von selbst, dass das Ziel einer gemeinsamen europäischen Verteidigung weiter verfolgt werden muss. Das ist ein grosser Schritt nach vorne in die politische Festigung der Union, zu der eine allgemeine Überprüfung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den USA, auch in Verteidigungsangelegenheiten, gehören sollte. Es handelt sich um eine langfristige Zukunftsperspektive, die notwendigerweise schrittweise entwickelt werden muss und bedeuten könnte, dass die vor 75 Jahren geschaffenen Allianzen ihren Charakter verändern.
Es ist Zeit, dass die Europäische Union und die Europäer aufwachen und sich beherzt um die grossen Herausforderungen kümmern, die auf ihrem Boden zu lösen sind. Die Ukraine ist das drängendste Problem, dem das andere folgen muss: der Balkan.“