Das KZ Auschwitz wurde von Überlebenden des Holocaust als „Hölle auf Erden“ bezeichnet. Vor 80 Jahren, am 27. April 1945, wurde das Konzentrationslager, in dem über eine Million Menschen, zumeist Juden, ermordet, vergast, erschossen wurden, von der Roten Armee befreit. „Für mich ist es, als ob es gestern wäre“, antwortete die 103jährige Margot Friedländer, die einst das KZ Theresienstadt überlebte, während ihre Mutter und ihr Bruder in Auschwitz vergast wurden. Sie redet, um den Menschen, den Schülern und Jugendlichen zu erzählen, wie es war. „Wir haben es erlebt, wir wissen, wie es war.“ Und mit Blick auf den wachsenden Rechtsextremismus, Faschismus, die Fremdenfeindlichkeit und den Antisemitismus warnt die kleine, schmale, mutige Frau: „So hat es damals in den 30er Jahren auch angefangen. Seid vorsichtig. Respektiert Menschen, das ist das Wesentliche.“ Ihre Mission sieht sie darin: „Dass es nicht wieder passiert.“
Wer einmal in Auschwitz war, wird es nicht vergessen, die Bilder, die er sah, die Texte, die er dazu las, all die Haare, die Schühchen der Kleinkinder, die Koffer, die Brillen, Überbleibsel des Massenmords an Menschen, weil sie Juden waren. Ich habe Auschwitz das erste Mal 1989 besucht. Anlässlich des 50. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs reiste eine Delegation unter Leitung des damaligen NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau nach Polen. Am 1. September 1939 hatten die Nazis die Westerplatte in Danzig beschossen, Adolf Hitler hatte seinen Krieg, den er immer wollte, um zuerst die Polen zu vernichten, dann Frankreich die Niederlage im Ersten Weltkrieg heimzuzahlen. Nach den Gedenkfeiern nahm ich mir ein Taxi, der polnische Fahrer fuhr mich für 100 DM nach Auschwitz, auf der Rückfahrt machten wir noch Station in Tschenstochau.
Nur Mord und Totschlag
Arbeit macht frei. Das las ich zuerst, als ich die Erinnerungsstätte betrat. Dann ging ich durch das einstige KZ, den schlimmsten Ort, den ich je gesehen hatte. Stunde um Stunde. Ganz allein. Der Fahrer des Taxi war draußen geblieben. Später habe ich ihn verstanden. Man braucht keinen Reiseführer, um Auschwitz zu lernen, falls es einem gelingt, zu verstehen, was hier einst geschah und warum. Industriell organisierter Massenmord, unter der Leitung von Deutschen, auf Befehl von Hitler, Himmler und wie sie alle hießen die Massenmörder. Ich ging durch das einstige Lager, blieb stehen vor Schaufenstern, hinter denen ich die Hinterlassenschaft von Opfern sah, das, was die Nazis übriggelassen hatten, weil sie es nicht zu Geld machen konnten. Goldzähne hatten sie ihren Opfern aus den Mündern gerissen und auf dem Weltmarkt verkauft. Ich werde diese Bilder nie loswerden. Sprach- und fassungslos steht man da und schaut und schaut, schluckt das eine oder andere herunter. Spät am Abend zurück in Warschau schmeckt mir das Abendessen nicht, das Bier ebenso wenig. Ich hatte vor der Reise einiges über Auschwitz gelesen, in der Schule war das Thema nicht behandelt worden. Mag sein, dass die Geschichtslehrer selber Nazis gewesen waren und sich deshalb vor dem Problem drückten. Wir haben auch nicht nachgefragt, weil wir damals darüber nichts oder zu wenig wussten. Erst die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt, der couragierte hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer brachten das Ausmaß eines Grauens ans Tageslicht, das dann nicht mehr zu leugnen war. „Von morgens bis abends nur Mord und Totschlag“. So fassten Medien die Aussagen von Wachmännern in Auschwitz zusammen.
Auschwitz steht für die Entrechtung von Menschen, dafür, dass die Nazis ihnen alles nahmen, auch ihre eigenen Namen, sie gaben ihnen Nummern. Sie wollten sie kleinkriegen, Tiere waren ihnen mehr wert als Menschen, deshalb erniedrigten sie sie. Sie sollten sich schämen, wenn sie nackt vor ihnen standen oder in ihrer völlig verdrecken Kleidung. Sie sollten sich nicht wieder erkennen.
„Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen.“ So mahnte und warnte der Auschwitz-Überlebende Primo Levi 1986, damit man nicht nachlasse in der Erinnerung an die Verbrechen des Holocaust. Schweigen sei ein Fehler, so Levi, ein italienischer Schriftsteller, der die Grauen des KZ Auschwitz überlebte und darüber Bücher schrieb. Er hatte Sorgen, dass dieser Zivilisationsbruch vergessen werde. Zwar hatte es immer wieder das“ Nie-wieder“ gegeben, hatten viele geschworen, Nie wieder Auschwitz, Nie wieder Krieg, Nie wieder wegschauen. So hatten sich am 19. April 1945 die Befreiten des KZ-Buchenwald geschworen, „den Nazismus mit seinen Wurzeln zu vernichten.“ Doch schon bald nach dem Untergang des Nazi-Regimes lebte in Deutschland rechtsextremes Gedankengut wieder auf, fielen Menschen rechtsextremen und rassistischen Gewalttaten zum Opfer, gab es antisemitische und fremdenfeindliche Terrorakte. Schon in den 50er Jahren. Darunter die Schändung der Kölner Synagoge am 24. Dezember 1959, das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968, das Oktoberfest-Attentat in München am 26. Oktober 1980, die Pogrome von Solingen und Rostock, der Terror des NSU, der Mord an Walter Lübke, der versuchte und zum Glück gescheiterte Massenmord am jüdischen Versöhnungstag(Jom Kippur) in Halle an der Saale. Nur ein Ausschnitt aus all der Statistik über die Gewalt des Rechtsextremismus in Deutschland.
Mengele, Höss, Eichmann
Rund sechs Millionen Juden fielen während der NS-Zeit der Ausrottungspolitik der Nazis zum Opfer. Allein über eine Million in Oswiecim, so heißt Auschwitz auf polnisch. Der Ort liegt nur 60 Kilometer entfernt vom schönen Krakau. Das war von den Nazis so gewollt. Auch Dachau, dort entstand 1935 das erste KZ, wurde auserwählt, weil er nah bei München lag, der Stadt der Kunst, der Hauptstadt der Bewegung, wie die Nazis die bayerische Metropole nannten, Das KZ Buchenwald liegt vor den Toren von Weimar, der Stadt von Goethe und Schiller. Auschwitz steht für den KZ-Arzt Mengele. Der Mann floh später nach Südamerika. Auschwitz steht für Eichmann, der war im Auftrag von Himmler der Organisator des Massenmords, auch er floh nach Südamerika, wo ihn die Israelis eines Tages entdeckten und nach Jerusalem entführten, um ihm den Prozess zu machen. Auschwitz steht für den Kommandanten Rudolf Höss, der neben der Todesfabrik seine Villa mit Garten hatte, wo seine Familie lebte. Er versteckte sich später nahe Flensburg, wurde aber von einem jüdischen Mitarbeiter der Briten entdeckt, an die Polen ausgeliefert, die ihn aufhängten. Höss lehnte jede Verantwortung für die Verbrechen ab, er habe nur auf Befehl gehandelt.
Die Nazis ließen ihre jüdischen Opfer verhungern und erfrieren, sie mussten im Dreck leben, stundenlang nackt im Schnee stehen, bis sie umfielen. Sie mussten sich zu Tode arbeiten oder erstickten in den Gaskammern. Als die Rote Armee am 27. April das Lager einnahm, fanden die Soldaten nur noch 7000 Häftlinge vor, bis auf die Knochen abgemagert. Die Soldaten mussten sich angesichts der Bilder teilweise übergeben. An anderer Stelle stießen sie auf Leichenberge. Grauenhaft.
Das Ziel der Ausrottung der Juden, des Mordes an Millionen Menschen, wurde mit erschreckender Nüchternheit und Akribie betrieben. So veranstaltete Adolf Eichmann extra eine sogenannte Wannsee-Konferenz in einer ehemaligen Industriellen-Villa, um mit NS-Experten europaweit genau die Zahl der lebenden und auszurottenden Juden zu ermitteln. Die entsprechende Tabelle habe ich vor vielen Jahren in der Ausstellung zu Gesicht bekommen. Es waren über 11 Millionen Juden in ganz Europa, sechs Millionen töteten die Nazis. Ja, die Organisation war teils mustergültig, das Zusammentreiben der Juden, ihre Deportation in Zügen, die nicht beheizt waren, ohne Toiletten, ohne Wasser. Dann die Rampen am Ende der jeweiligen Zugfahrt, die Selektion der Opfer, wer arbeitsfähig war, kam an der Gaskammer vorbei, die anderen wurden sogleich ermordet. Die KZs in Dachau und Sachsenhausen sollen als „Mörderschulen der SS“ gedient haben, quasi als Vorbilder. Es wurde an Menschen getestet, was sie körperlich aushielten, andere wurden mit Krankheiten infiziert, um Medikamente zu testen. Das war das Werk des Arztes Mengele. Andere Patienten mussten Kampfgase einatmen oder Meerwasser trinken. Viele überlebten diese Experimente nicht.
Die geschwächten und unterversorgten Opfer mussten Zwangsarbeit leisten, die zum Teil auch gefährlich war. Stets waren sie der Willkür der Wachmänner ausgeliefert. Sie arbeiteten in Steinbrüchen oder im Straßenbau oder beim Kanalbau. In jeder größeren deutschen Industriestadt waren diese marschierenden Arbeitskolonnen zu sehen, morgens zur Arbeit, abends zurück ins Lager. „Eine vertraute Erscheinung im Straßenbild“, so der Historiker Hans-Ulrich Wehler. Auch für die Rüstungsindustrie spielten die Sklavenarbeiter aus den Lagern eine wichtige Rolle. Die Insassen von Dachau stellten Waffen her. Gegen Ende des Krieges arbeiteten Wehler zufolge eine halbe Million Zwangsarbeiter in der Rüstung. Namhafte deutsche Firmen verdienten daran Millionen und Millionen. In Auschwitz-Monowitz mussten die Häftlinge für die IG-Farben das Zyklon B produzieren, mit dem in den Vernichtungslagern wie Auschwitz Hunderttausende ermordet wurden.
Als ob es gestern wäre
80 Jahre Auschwitz-Befreiung. Als ob es gestern wäre? Christoph-Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, begrüßt bei vielen den Willen zur Erinnerung an die Verbrechen der Nazis. „Ich sehe Menschen, die sich darauf einlassen. Aber ich sehe auch Menschen, die sagen: Es muss doch endlich mal Schluss sein mit der Erinnerung.“ Dabei besteht angesichts der politischen Entwicklung in Deutschland und in Europa- Rechtsruck- die berechtigte Sorge, „dass unser Land wieder falsch abbiegt und in schwere Wasser gerät, was Rechtsextremismus und populistischen Hass angeht. “
Ja, man fragt sich, was ist aus dem Nieder-Faschismus geworden, Nieder-Wegschauen, Nie-Wieder-Stillhalten? Zugegeben, es wird wieder demonstriert gegen den Rechtsextremismus, die AfD in Köln und anderswo, es gibt Lichterketten in Pankow. Aber die AfD sitzt fast in allen deutschen Parlamenten, sie fordert Regierungsbeteiligung, mindestens, sie liegt auf Platz 2 in allen Umfragen, vor der SPD, der ältesten deutschen Partei, die damals 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte, was Hitler alle Macht gab, um der Demokratie von Weimar den Todesstoß zu versetzen. Margot Friedländer warnt: „Seid vorsichtig. So hat es damals auch angefangen.“ Die Holocaust-Forscherin Löw sieht deutliche Parallelen zu den 30er Jahren. Man könne sehen, „wie sich damals rechtsradikale Parteien den Weg in die Parlamente gebahnt hatten“ Und sie nennt als Belege u.a. die Forderungen der AfD nach Remigration und Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft für bestimmte Gruppen.
Eine Reise nach Auschwitz ist keine einfache Fahrt. Jede deutsche Schülerin, jeder deutsche Schüler sollte sie machen. Machen müssen. Und vielleicht zuvor Primo Levi lesen. „Ist das ein Mensch?“ Die Nazis wollten ihm und anderen Juden den Gedanken daran auslöschen. Er überlebte, wurde das Grauen im Kopf, die Erinnerung an diese Hölle nie los. Der Mann mit der Häftlings-Nummer 174 517 im Konzentrationslager Auschwitz-Monowitz nahm sich am 11. April 1987 das Leben, indem er vom Dach seines Hauses in die Tiefe sprang.
Der ehemalige deutsche Botschafter in Israel, der Sozialdemokrat Rudolf Dressler, der vor wenigen Tagen gestorben ist, erlebte mehrfach den 27. Januar in Israel. „Dann ruhte kurz das Leben im Land, stand für eine Minute der Verkehr still, blieben alle stehen, nichts rührte sich, die Menschen gedachten der Befreiung von Auschwitz, des Holocaust.“ Wäre das nicht auch eine Gelegenheit, Herr Bundespräsident, in Deutschland, dem Land der Täter, eine Minute still zu halten und sich dieses Menschheitsverbrechens zu erinnern?
Bildquelle: Bundesarchiv, B 285 Bild-04413 / Stanislaw Mucha / CC BY-SA 3.0 de