Primo Levi, der italienische Schriftsteller, der 1987 starb, zählte zu den wenigen Holocaust-Überlebenden. Ihn trieb Zeit seines Lebens die Pflicht, Zeugnis abzulegen, zu sagen und aufzuschreiben, was die Nazis den europäischen Jüdinnen und Juden angetan hatten. Damit es nicht vergessen werde. Die Gewalt, die die Nazis, die SS, die Wachleute den Häftlingen antaten, die öffentliche und allgemeine Nacktheit im Lager, die absichtliche Demütigung dadurch, dass man den Gefangenen Löffel vorenthielt, „die Abhandlung eines Themas, nämlich des vermeintlichen Rechts der Übermenschen, das Volk der Untermenschen zu knechten oder auszurotten“. Aus Schikane und Demütigung wurde Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Sechs Millionen Juden wurden ermordet. Die Geretteten, schreibt Primo Levi, hätten Scham empfunden, ja Schuld, weil sie überlebten hatten. Weil er selber einen winzigen Schluck Wasser zwar mit Freund Alberto, nicht aber mit Daniele geteilt hatte, auch wenn sie das Grauen von Auschwitz überlebte wie er. Aber Levi ließ der Gedanke nie los, er könnte leben an Stelle eines anderen, ja auf Kosten eines anderen, könnte jemanden verdrängt haben, „und das heisst de facto, getötet haben“. Die „Pflicht, Zeugnis abzulegen“, das ist quasi seine letzte Botschaft an die Jugend vor seinem Tod. „Wir, die Überlebenden sind Zeugen, und jeder Zeuge ist gehalten, vollständig und wahrheitsgetreu auszusagen. Es handelt sich für uns um eine moralische Pflicht. Weil unsere schon immer kleine Gruppe immer kleiner wird.“ Seine Mahnung gilt der Jugend in der Welt. „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Und darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.„
Zentraler Gedenktag
Der 9. November ist wohl kein Schicksalstag der Deutschen, aber ein historisch wichtiger Tag für Deutschland ist er allemal. Ein zentraler Gedenktag könnte er sein- im guten wie im negativen Sinne. Beispiel 1: Der 9. November ist im Grunde der Gründungstag der Weimarer Republik, der ersten, wenn auch nicht erfolgreichen Demokratie, weil sie von Radikalen- Nationalsozialisten wie Kommunisten- bekämpft wurde, bis sie kraftlos den Nazis in die Hände fiel. Beispiel 2: Am 8. und 9. November 1923 wollte Adolf Hitler, der Führer der NSDAP, die Reichsregierung stürzen. Doch Hitlers Marsch auf Berlin – an seiner Seite marschierten u.a. General Erich Ludendorff und Hermann Göring-wurde schon an der Feldherrnhalle in München gestoppt. Die bayerische Polizei hatte sich ihm in den Weg gestellt. Mehrere Polizisten, Kaufleute, Bankbeamte, ein Hutmacher, ein Oberkellner und ein Student sowie 16 Putschisten, von den Nazis als Gefallene bezeichnet, wurden getötet, viele verletzt. Hitler versteckte sich am Staffelsee und wurde am 11. November 1923 verhaftet, die NSDAP verboten. Später erhoben die Nazis den 9. November zu ihrem Gedenktag, die getöteten Putschisten wurden als „Blutzeugen der Bewegung“ verklärt. Womit wir zum Beispiel 3 kommen: Dieses Gedenken wäre 1939 Hitler fast zum Verhängnis geworden: Am Vorabend des 9. November 1939 redete er im Münchner Bürgerbräukeller vor den „alten Kämpfern“. Aber weil der oberste Nazi früher als geplant den Saal verließ, verfehlte die Bombe des Widerstandskämpfers Georg Elser ihr Ziel. Sie explodierte in der Bierschwemme des Lokals, aber der Führer war schon weg. Was wäre den Deutschen und der übrigen Welt erspart geblieben, hätte Elser mit seinem Attentat auf den Nazi-Verbrecher Erfolg gehabt? Der 2.Weltkrieg hatte gerade erst mit dem Überfall auf Polen begonnen. Wer weiß, was passiert wäre? Ob die Nazi-Diktatur vorzeitig beendet, der Krieg gestoppt worden wäre, der am Ende weltweit 60 Millionen Menschen das Leben gekostet hat? Beispiel 4 : Der 9. November 1989 ist ein deutscher Feiertag. Historisch der Auftritt von Günter Schabowski an diesem Tag, als er sich im Grunde verzettelte. „Ab sofort, unverzüglich“, beantwortete der hohe SED-Funktionär die Frage eines italienischen Journalisten, wann denn die neuen Reiseregelungen in Kraft treten würden, die den Menschen in der DDR den Weg in den Westen erlaubten. Das mit dem „sofort, unverzüglich“ stand nicht auf Schabowskis Zettel, das war seine Auslegung. Und die Menschen nahmen das wörtlich, Tausende und Abertausende rannten los, die Mauer wurde zunächst einen Spalt geöffnet, der immer größer wurde und sich am Ende nicht mehr schließen ließ. Das Monstrum Mauer, das häßlichste Gemäuer, das ich je gesehen habe, brach in sich zusammen mit Stacheldrath, Todesstreifen, Hundestaffel, Panzerweg und Schießbefehl. Kein Jahr später war die DDR Geschichte, Deutschland wiedervereinigt.
Goebbels stimmte sich mit Hitler ab
Beispiel 4 und damit zum Anfang unserer Geschichte: Der 9. November 1938. Die Nazis redeten die von ihnen ausgelöste Gewalt als Reichskristallnacht schön, in der Tat handelte es sich um eine Reichspogromnacht, inszeniert von NSDAP-Propaganda-Chef Josef Goebbels nach Abstimmung mit Hitler. Die tödlichen Schüsse des minderjährigen Herschel Grynspan auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath in Paris hatten Goebbels endlich den Grund geliefert, gegen die Juden deutschlandweit losschlagen zu lassen. SA-Schläger standen parat, sie organisierten Gewaltexzesse, was nach außen hin wie ein spontan entfachter Volkszorn gegenüber den Juden aussehen sollte. 1400 Synagogen wurden angezündet, jüdische Einrichtungen zertrümmert, Fensterscheiben eingeschlagen, Juden in ihren Wohnungen und auf den Straßen verprügelt, Tausende in Konzentrationslager geschleppt, darunter in Dachau und Buchenwald und dies teils unter den Augen neugieriger Deutscher, die die Juden anspuckten und beschimpften. Es gab viele Tote. Bei den Ausschreitungen schauten viele Deutsche untätig zu, die Polizei stand dabei und griff nicht ein, die Feuerwehr durfte Brände nicht löschen. Göring sorgte dafür, dass die Juden für den Schaden aufkommen mussten: eine Milliarde Reichsmark.
Es war die Zeit, da waren die Juden im Reich schon entrechtet. Das hatte man von 1933 an systematisch getan. Sie durften auf offener Straße angegriffen und niedergeschlagen werden, sie hatten weitgehend Berufsverbot, ihr Eigentum wurde ihnen entzogen durch Arisierung, jüdische Geschäfte wurden boykottiert-Kauft nicht bei Juden, hatten die Nazis entsprechende Zettel angefertigt, die sie an jüdischen Schaufenstern befestigten.
Firma geht in arischen Besitz über
In einer Dokumentation „Juden und Jüdisches Leben in Rheda“ findet man, aufgelistet, all die Demütigungen, die die Nazis den Juden in ihrer Stadt und in ganz Deutschland antaten, eine vorbildlich gestaltete Broschüre, wie sie hauptamtliche Historiker nicht besser hätten zusammenstellen können.

April 1933 Boykott jüdischer Geschäfte, erste Emigranten Gebr. Weinberg, Firma geht in arischen Besitz über. 1934 Streichung des städtischen Zuschusses für jüdischen Religionsunterricht, September 1935 Nürnberger Rassegesetze. Hier füge ich hinzu, dass zu diesen Autoren dieser schlimmen Gesetze auch der spätere Kanzleramtschef von Bundeskanzler Konrad Adenauer, Globke gehörte. Ein Beispiel für viele andere alte Nazis, die nach dem Krieg einfach weitermachen durften, sie wechselten nur ihr braunes gegen ein weißes Hemd. Tausende von Juristen, die den Nazis gedient hatten, arbeiteten fortan für die parlamentarische Demokratie. Auch im deutschen Bundestag saßen jede Menge Alt-Nazis. Zurück zu Rheda: 1936/37 heißt es da in der Doku, verstärkte jüdische Abwanderung, März 1938: SA-Leute mißhandelten Alex Ziegler, im August geht die Sperrholzfabrik Gebr. Thalheimer in Besitz des Deutschen Reiches über, November Pogromnacht. Mai 1939: SA-Leute überfallen Familie Arthur Weinberg, Ausverkauf jüdischen Besitzes, 1941 Beginn der Deportationen, letzter Jude in Rheda: Hugo Heinemann. März 1942: letze Juden in Herzebrock, Juli letzte Juden in Wiedenbrück. 1943: Das Deutsche Reich wird offiziell für „judenrein“ erklärt.
Was in Rheda passierte, geschah auch in München, in Essen, Hamburg, Berlin. Überall gab es Deportationen, Ermordungen. Davon berichten die Stolpersteine, die deutschlandweit gelegt worden sind über die Jahre, um an jüdisches Leben zu erinnern, an ihre Ermordung, um Juden einen Namen zu geben. Die Stolpersteine in Rheda beginnen mit Henriette Weinberg, geborene Israel, ermordet 1942 in Auschwitz, sie enden laut Doku mit Ernst Neuhoff, ermordet 1944 in Buchenwald. 132 Juden aus Rheda konnten ihr Leben retten, indem sie emigrierten.
Knobloch mahnt zur Erinnerung
Ich habe bewusst Rheda-Wiedenbrück als Beispiel genommen, weil dort seit Jahren in den Rhedaer Schriften jüdisches Leben nachgezeichnet wird. Obwohl es keine Juden mehr in der Stadt gibt, der jüdische Friedhof aber ist ein Zeugnis jüdischen Lebens vor dem Krieg. Und jedes Jahr gedenken sie der schlimmen Ereignisse am 9. November. In diesem Jahr haben sie die Gedenkfeier ein wenig vorverlegt. Der Gast, die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, die heute der Israelitischen Kultus- Gemeinde in München und Oberbayern vorsteht. Sie hat das unfassbare Leid der Juden erlebt. In der Zeitung „Die Glocke“ wird über die Gedenkfeier auf dem jüdischen Friedhoff in Rheda berichtet.

Im Folgenden berufe ich mich auf die Schilderungen in dem ostwestfälischen Blatt: „Die kleine Charlotte ist gerade einmal sechs Jahre alt, als sie mit ihrer Familie Explosionen von Hass überstehen musste. Das junge Mädchen, das zu diesem Zeitpunkt nahezu sein gesamtes Leben mit Gewalt , Herabwürdigung und Verstoßung zu kämpfen hatte, kann es nicht fassen, dass alles noch schlimmer werden sollte.“ So ähnlich hat Charlotte Knobloch aus ihrem Leben berichtet und davon, wie sie den 9. November, in dem viele Juden ihr Leben lassen mussten, zwar überlebte. Aber, wörtlich Frau Knobloch: „Das Tor zu Auschwitz war aber fortan aufgeschlossen.“ So die schlimmen Erinnerungen mehr als acht Jahrzehnte später. Und was sie getroffen hat, schildert sie eindringlich: „Weil alle stumm blieben. Es braucht nicht nur die, die den Brand legen, sondern auch die, die nicht löschen, damit so etwas geschehen kann.“
Die 89jährige Charlotte Knobloch, Trägerin des Großen Verdienstkreuzes, zeigt sich beeindruckt von der Veranstaltung in Rheda, davon, dass rund 300 Menschen, darunter viele jüngere erschienen sind, um die Erinnerung an schwere Zeiten wachzuhalten. „Verhindert,“ ruft sie den Zuschauern zu, „dass Geschichte noch einmal Gegenwart wird. Erinnert Euch, aber erkennt und benennt auch Fehlentwicklungen. Sorgt dafür, dass nichs vergessen wird.“ So ihr Appell vor allem auch an die Schüler der Israel-AG am Einstein-Gymnasium in Rheda. Lebendige Erinnerung ist nach der Einschätzung der Augenzeugin der NS-Gräuel Charlotte Knobloch wichtig, weil es bald keine Zeitzeugen mehr geben werde. Sie sei auch wichtig, weil Deutschland mit Blick auf jüdisches Leben noch oder schon immer weit weg von der Normalität gewesen sei. In Zeiten, in denen jede zehnte Stimme an rechtspopulistische Parteien gehe und Judenhass offen nach außen getragen werde, müsse entschieden deutlich gemacht werden, dass Menschenfeindlichkeit keinen Platz in der Gesellschaft haben dürfe.
Deutschland- Land der Täter
Deutschland, das Land der Täter, tat sich lange schwer im Umgang mit der Nazi-Zeit. Jahrzehnte wurde diese braune Zeit verdrängt, Täter nicht verfolgt, weil es ein BGH-Urteil gab, das so etwas ermöglichte. Auseinandergesetzt hat man sich in der Republik mit den Verbrechen der Nazis kaum. Die Zeit wurde beschwiegen, wie das der Historiker Prof. Wolfgang Niess formuliert hat. Eine zentrale Gedenkveranstaltung, bei der ein führender Repräsentant des Staates gesprochen hat, nämlich Bundeskanzler Helmut Schmidt, gab es erstmals 1978 in der Kölner Synagoge. Niess plädiert für einen Nationalen Gedenktag, weil sich im 9. November wie in keinem anderen Tag der lange und von Rückfällen unterbrochene Kampf um die Demokratie in Deutschland spiegele. Hitler habe nicht Recht gehabt, so Niess, als er den Putschisten in München aufs Denkmal habe schreiben lassen: Und ihr habt doch gesiegt. Eben nicht!, befindet der Historiker. Gesiegt hätten die Demokraten und daran sollten wir Jahr für Jahr erinnern. Wörtlich Niess: „Der 9. November könnte zu einem Tag werden, an dem sich Deutschland jedes Jahr seiner demokratischen Traditionen ebenso bewusst wird wie seiner historischen Verbrechen und an dem es sich zu Demokratie und Menschenrechten bekennt.“
Quellen: Juden und Jüdisches Leben in Rheda. Eine Gesamt-Dokumentation. 2021. Wiedenbrücker Schule. Museum für Kunst- und Stadtgeschichte. Stadt Rheda-Wiedenbrück. Deutschlandfunk. Wolfgang Niess im Gespräch mit Christoph Heinemann. 22. 10. 21.