Nach dem Schock, schreiben die Medien. Putins Werk, so die Schuldzuschreibung des Krieges, den Russlands Präsident Putin gegen die Ukraine angezettelt hat. Und damit haben wir eine Zäsur, lese ich, eine neue Zeit. Es wird so getan, als sei der Krieg in Europa etwas völlig Neues, Unbekanntes. Was nicht so ganz stimmt, denn es gab die Jugoslawienkriege, es gab Srebreniza und anderes. Eben Europas Kriege mit vielen Toten und Verwüstungen. Aber richtig ist: Noch nie ist uns in den letzten Jahrzehnten ein Krieg so nah gekommen wie der jetzige. Bis zur Grenze der Ukraine mag es eine Flugstunde sein von Berlin, bis zur Hauptstadt Kiew deren zwei. Gerade so weit oder nah, wie wenn wir an die Adria fliegen, nach Venedig. Nein, wir hören den Donner der Geschütze nicht, den Einschlag der Bomben, das Rattern und Knattern von Panzern und anderem militärischen Gerät nicht, die Tiefflieger sind hier nicht zu vernehmen. Und doch sind wir schockiert, weil wir es nicht glaubten, nicht für möglich hielten, dass dieser Wahnsinnige im Kreml so weit gehen würde. Aber wer weiß denn, ob dies nicht nur der Anfang ist von Putins Kriegs-Träumen, die für uns und die Menschen in der Ukraine Albträume sind? Um seine neue Weltordnung zu zimmern oder besser herzubomben.
Ich wiederhole mich gern, damit das nicht falsch verstanden wird: Wir alle haben uns in Putin getäuscht, haben geglaubt an die europäische Ordnung, die Sicherheit verlieh und Berechenbarkeit, haben gemeint-oder eher gehofft?- dass einer wie Putin nicht ausscheren werde. Nein, an Schröders Beurteilung, der russische Präsident sei ein lupenreiner Demokrat, habe ich nie geglaubt. Ich fand, das hat der damalige Kanzler einfach so dahin gesagt, ohne es wörtlich zu meinen. Das war zu Zeiten, als Putin seinen bejubelten Auftritt im Reichstag hatte. Ein zweiter Gorbatschow? Dabei hatten wir wohl Putins Laufbahn verdrängt, seine Zeit beim Geheimdienst in Leipzig, als es die DDR noch gab. War es naiv anzunehmen, der einstige KGB-Mann sei geläutert? Oder ist es ehrlicher, zu behaupten: Einmal KGB immer KGB?
Sirenen heulen, Menschen in Angst
Jetzt, da die Sirenen heulen in der Ukraine, russische Truppen schon in Kiew sind, Menschen fliehen vor Angst, es werden schon weit über 100 Tote gemeldet, kommen wir zu dem Schluss: Mit dem ersten Schuss der Russen auf das Gebiet der unabhängigen Ukraine endet eine Zeit, eine Zeit des Ausgleichs und der Interessen, werfen die einen den einst erfolgreichen Grundsatz „Wandel durch Handel“ über Bord, von dem beide Wirtschaften im Westen wie im Osten über Jahrzehnte profitiert haben. Die, die schon immer gegen De-Eskalation waren, gegen Entspannung, plädieren heute für klare Kante, Härte, betonen: Zurück zu einer Politik der Abschreckung, wie wir sie im Kalten Krieg gehabt haben, die in der Spitze eine nukleare Abschreckung war zwischen Nato und Warschauer Pakt. Da hatte man auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs so viele atomare Vernichtungswaffen stationiert, dass man die ganze Welt hätte in die Luft jagen können. Der ältere Zeitgenosse kennt den Spruch: Wer als erster auf den Knopf drückt, stirbt als zweiter.
Es soll alles falsch gewesen sein, behaupten einige. Putin habe sein wahres Gesicht gezeigt, das des Betrügers und Lügners, des Diktators, dem Menschenrechte fremd sind, das Gesicht des Mannes ohne Gewissen, eben der vom KGB, dem Leben außer seinem wenig bedeutet. Erste Recherchen führen zu Vergleichen Stalin Putin, Verbrecher sie beide, Mörder, die Kontrahenten beseitigen, Kriege inszenieren wie jetzt. Dass unsere Politiker dem die Hand reichten? Darf die Frage erlaubt sein. Wem hätten sie sonst im Kreml die Hand reichen sollen? Putin ist der dortige Chef, der alleinige. Mit wem hätte man Politik machen sollen? Mit dem Überfall, das ist klar und nicht zu bestreiten, greift der Autokrat die Freiheit in der Ukraine an, in einem sogenannten Bruderland, viele Menschen hüben wie drüben sprechen die russische Sprache. Aber hätten wir nicht wissen können, dass einer wie Putin Freiheit nicht schätzt, es überhaupt nicht mag, wenn Freiheiten im Leben von Menschen übergreifen könnten über Grenzen. Wer sagt denn, dass Russen, wenn man sie ließe, nicht auch frei sein möchten- wie die Ukrainer. Kann das nicht ansteckend sein und zu Forderungen nach mehr Freiheit führen, am Ende gar zu freien Wahlen? Dann wäre es vorbei mit dem Herrscher im Kreml.
Erinnerungen an 1938
Krieg zerstört, nicht nur Freiheiten, sondern Leben von Menschen, von freien Menschen. Putin ist aus dem Lager der Feinde der Freiheit. Das wissen wir heute auch, andere wussten es vorher. Sagen sie uns heute. Ja, man kann an Hitler erinnern, an 1938, das Sudetenland, an Chamberlain, Daladier, denen Hitler das Münchner Abkommen abtrotzte. Wenige Tage vorher trafen sich Hitler und der britische Außenminister Chamberlain am 22. 9. im Rheinhotel Dreesen hier in Bonn, nur ein paar Kilometer entfernt von meinem Wohnsitz in Kessenich war das. „Weltgeschichte am Rhein“ so hieß es auf einer Postkarte. Tage später wurde das Abkommen unterzeichnet. Europa atmete auf, man glaubte, der Frieden sei gerettet vor diesem Wahnsinnigen, dem Nazi aus Braunau. Ein Jahr danach überfiel Hitler Polen, der 2. Weltkrieg begann.
Sigmar Gabriel, der frühere Außenminister, ein Sozialdemokrat, der heute für die Atlantik-Brücke spricht, betont in einem Spiegel-Gespräch, der Westen müsse jetzt zusammenhalten, die Sanktionen geschlossen durchziehen, sich nicht auseinanderdividieren lassen. Putin halte die Menschen im Westen für Weicheier, die die Konsequenzen aus den Sanktionen nicht tragen wollten, also mehr für Energie bezahlen, möglicherweise auch weniger Gas und Öl verbrauchen, was dann schon mal zu kälteren Wohnzimmern führen könnte, Sanktionen könnten die ohnehin schon hohen Inflationsraten weiter in die Höhe treiben, all dies würde an den Geldbeutel gehen. Vor allem der normale Zeitgenosse und die Ärmeren der Gesellschaft würden unter den höheren Belastungen zu leiden haben, sie träfen nicht Biden und nicht Putin, auch nicht Merz, Habeck und Scholz, um nur ein paar zu nennen.
Der Fall Gerhard Schröder
Sicher auch nicht einen wie Gerhard Schröder, den seine Kritiker als Putin-Lobbyisten schmähen, weil er auf dem Gehaltszettel von Gazprom und Co stehe. Gabriel äußert sich nicht zu seinem Parteifreund, mit dem er sich freundschaftlich verbunden fühlt, andere wie SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert tun es. Schröder möge die Mandate niederlegen. Kühnert hatte dem Genossen schon mal vorgeworfen, seine Gier nach Geld, nach viel Geld sei der Grund, dass er Putin nicht kritisiere wegen seiner Ukraine-feindlichen Politik. Ja, es ist aufgestoßen, dass der einstige SPD-Kanzler der Ukraine Säbelrasseln vorgeworfen hat, während er den Kreml schonte und damit seinen Freund Putin. Schröder, das ist hier nur ein Rand-Thema, aber ein unschönes, weil es die älteste deutsche Partei betrifft, die eines Willy Brandt, eines Friedensnobelpreisträgers, der einst die Entspannungs- und Aussöhnungspolitik mit dem Osten, mit Warschau und Moskau „erfunden“ hat. Brandt wie Schröder waren Parteivorsitzende. Es stört echte Sozialdemokraten, die immer Respekt vor der Laufbahn Schröders gehabt haben, wie er sich jetzt wegduckt, wo sein Freund Putin einen Krieg gegen die Ukraine inszeniert hat.
Unzählige Verbrechen habe man Putin durchgehen lassen, lese ich im Feuilleton der SZ, weil man den Konflikt scheute. um ihn nicht zu reizen. Die Rede ist von der Sehnsucht nach einer alternativen Weltordnung, in der nicht nur die Amerikaner herrschen. Von den Illusionen, denen wir uns im Westen hingegeben hätten und dabei gute Informationen verdrängt hätten. Deshalb habe der Westen Putin lange, zu lange verharmlost. War das so? Er hat uns alle belogen, über den Tisch gezogen. Weil Deutschland Geschäfte machen wollte mit Russland, die schon zu Zeiten der UdSSR begannen. Man denke an das Röhren-Gas-Geschäft, die Röhren kamen aus NRW, das Gas aus Russland. Das war vor Putin. Damals wurden diese Geschäfte auch politisch gewürdigt, Moskau galt als zuverlässiger Partner. Jetzt wird auf Putin anders gezeigt: der ist nicht vertrauenswürdig. Und daraus wird jetzt der Vorwurf abgeleitet, man habe sich in Deutschland in eine zu große Abhängigkeit vom Gas und Öl aus Russland begeben und sei damit erpressbar. Man wird die Folgen dieses Krieges auch bald in Deutschland spüren, weil die Energiepreise noch weiter ansteigen werden. Die Bedrohung des deutschen Wohlstands aufrechnen gegen die nötige Solidarität mit der Ukraine. Da ist mancher Sarkasmus zu hören.
Ja, Putin ist ein Despot, ein übler Zeitgenosse. Man lese nur seine Rede nach, in der er u.a. davon sprach, die Ukraine zu entnazifizieren, wissend, dass er damit auch den Präsidenten des Landes, Selenskyj, mitten ins Herz traf. Selenskyj ist Jude. Die Ukraine gehörte mit zu den Regionen, die unter den Nazi-Verbrechen am meisten gelitten haben, die Ukraine war einer der Hauptkriegsplätze, auf denen SS und Wehrmacht Tausende und Abertausende Menschen ermordeten. Selenskyj hat Putin in seiner eigenen Ansprache geantwortet: „Wie kann ich ein Nazi sein? Sagt das meinem Großvater, der als Infanterist der Sowjetarmee gekämpft hat und als Oberst in der unabhängigen Ukraine gestorben ist.“
Nun sollen wir nachrüsten, die Kalten Krieger, die wieder auf dem Markt sind, haben daraus längst aufrüsten gemacht. Es geht wieder mal um mehr Geld für Rüstung, dabei wäre es an der Zeit, erstmal dafür zu sorgen, dass Flugzeuge und Hubschrauber fliegen, dass Panzer rollen und Gewehr ordentlich schießen. Da empören sie sich, die immer schon mehr Geld fürs Militär gefordert haben, als wenn damit Putins Krieg vermieden worden wäre. Kevin Kühnert hat es zusammen mit Graf Lambsdorff in der Sendung Maischberger formuliert: es geht um Ausrüstung, die beste für unsere Soldaten, wenn wir sie schon ins Feld schicken, damit sie unser Land und unsere Werte verteidigen können.
Keine Waffen liefern
Krieg, lese ich von Oskar Lafontaine, früherer SPD-Chef, der seit Jahren Mitglied der Linken ist, „ist kein Mittel der Politik. Daher ist der Angriff Russlands auf die Ukraine ebenso scharf zu verurteilen, wie die anderen Angriffskriege in den letzten Jahren“, schreibt Lafontaine in den „Nachdenkseiten“. Man dürfe nie vergessen: „Opfer dieses Krieges sind nicht Putin oder Biden, sondern die Ukrainer und die Russen, die man täglich im Fernsehen sieht, die hungern oder frieren und nicht wissen, wohin sie fliehen sollen. Russland muss die Kampfhandlungen sofort einstellen und an den Verhandlungstisch zurückkehren.“ Lafontaine gibt der Bundesregierung Recht: „Kriegführenden Staaten darf man keinen Waffen liefern.“ Das würde nur das Leid der Menschen vergrößern und den Krieg verlängern. Das Völkerrecht, so der Saarländer, gelte für alle. Den brutalen Bruch des Völkerrechts durch Putin könne man nicht durch den Verweis auf die völkerrechtswidrigen Kriege der USA und ihrer Verbündeten rechtfertigen. Beispiel: Irak-Krieg, von US-Präsident Bush geführt und mit Lügen vor der UNO begründet.
Die Sanktionen offenbarten zudem die „Doppelmoral und Heuchelei der westlichen Werte“, kritisiert der frühere SPD-Chef. Ironisch fügt er hinzu: „Wir müssen Putin genauso bestrafen, wie wir Clinton, Bush und Obama für ihre völkerrechtswidrigen Kriege bestraft haben. Wir müssen die russischen Oligarchen jetzt genauso bestrafen, wie wir in der Vergangenheit die US-Oligarchen für ihre Öl- und Gaskriege bestraft haben.“ Am Ende zitiert Lafontaine Stefan Zweig, der am Vorabend des 1.Weltkriegs notiert hatte: „Sie hatten die Hasstrommel geschlagen und schlugen sie kräftig, bis jedem Unbefangenem die Ohren grellten und das Herz erschauerte. Gehorsam dienten sie fast alle in Deutschland, in Frankreich, in Italien, in Russland, in Belgien der Kriegspropaganda und damit dem Massenwahn und Massenhass des Krieges, statt ihn zu bekämpfen. „Wer jetzt Hass sät“, so Lafontaine, „bereitet den nächsten Krieg vor.“
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