Winfried Kretschmann, der Grünen-Politiker, der seiner Partei vor Jahren den ersten Ministerpräsidenten in ihrer Geschichte präsentiert und dabei der seit 57 Jahren regierenden CDU in Baden-Württemberg eine schmerzliche Niederlage beigebracht hatte, merkte man die Genervtheit an und das Fernsehen lieferte die Bilder dazu. Sie machten glasklar, wie gereizt der Politiker auf Fragen des ZDF-Moderators Christian Sievers reagierte. Die Atom-Ausstiegs-Debatte spaltet nicht nur die Gesellschaft, sie hat die Grünen erreicht. Auch einen wie Kretschmann, eigentlich ein Polit-Profi, der aber Wirkung zeigte. Den Kern der Grünen-Politik würde es treffen, wenn sie auch nur vorübergehend diesen Ausstieg infrage stellten. Also schrie der erfahrene Mann der Grünen- Kretschmann ist 74 Jahre alt- ZDF-Moderator Christian Sievers an, der die Frage nach der klaren Ablehnung von verlängerten Atomkraftwerklaufzeiten gestellt hatte, aber dann nicht weiter kam, weil Kretschmann dazwischen rief: Nein, nein, nein. Zehnmal schrie der Grünen Regierungschef sein Nein in die Kamera.
Aber so leicht ist einer wie Sievers nicht vom Kurs eines Interviews abzubringen, zumal aus dem klaren Nein mindestens ein Jein der Grünen geworden ist. „Also keine klare Ablehnung?“ hakte der TV-Mann nach, der wiederum von Kretschmann mit einem lauten „Nein „unterbrochen wurde. „Ich habe gesagt, weder die Grünen noch sonst eine demokratische Partei will zurück zur Atomkraft in Deutschland,“ sagte Kretschmann, der dann sein klares Bekenntnis zur Beibehaltung des Ausstiegs aus der Kernkraft aufweichte, indem er hinzufügte, es gehe nur darum, ob man sie eine Zeit lang weiter laufen lasse. Das werde nun nüchtern und sachlich geprüft. Und wiederum fasste der ZDF-Mann nach, weil Kretschmanns lautes und pausenloses Nein deutlich gemacht hatte, wie ihn, den Grünen, das Thema beschäftigt. „Gut“, begann Christian Sievers seinen erneuten Anlauf, weil er die Nöte spürte, in der sich der Grünen-Politiker befand, „aber durch Ihr sehr engagiertes Nein, Nein, Nein gerade eben kann ich doch annehmen, dass diese Prüfung am Ende durchaus so ausfallen könnte, dass wir Ende des Jahres erst mal zumindest weiter auch auf Atomkraft setzen.“ Und Kretschmann atmete tief durch, um sich zusammenzureißen: Man müsse auf das Ergebnis der Prüfung Ende August warten, dann erst werde eine Entscheidung fallen. „Es macht keinen Sinn, da jetzt rumzuspekulieren.“
Welt aus den Fugen
Die Lage ist, wie sie ist. Dank Putins Krieg gegen die Ukraine gerät die Welt aus den Fugen. Auf Sanktionen reagiert Putin mit Drohungen, der Westen muss sich darauf einstellen, dass Moskau ihm den Gashahn zudreht. Das würde große Teile der deutschen Industrie gefährden, viele Tausend Arbeitsplätze aufs Spiel setzen und natürlich auch den Verbraucher treffen, der sich inzwischen ausmalen kann, dass die gewohnte und bequeme Wärme in seiner Wohnung zumindest um ein paar Grade reduziert wird. Putin treibt sein Spiel mit uns, kann sein, dass es ihm gefällt, weil er weiß, wie abhängig gerade Deutschland von russischem Gas ist. Ein übles Spiel, weil es Krankenhäuser treffen kann, Patienten, Kinder, Alte, die sozial Schwachen als erste und wohl auch am schlimmsten. Und weil Putin die Fäden in der Hand hat, müssen wir schauen, wie wir seinen teuflischen Plan überleben oder gar durchkreuzen. Energie sparen, Heizung runterdrehen, Verzicht üben. Mit kalt duschen und Licht aus bei der Außenbeleuchtung des Präsidialamtes wird es nicht reichen. Wir werden dafür zahlen müssen, kräftig. Der Staat wird versuchen zu helfen, da wo es brennt, wird er als Feuerwehr gefragt sein, muss es Entlastungen geben. Wir müssen lernen, mit Energie bedachter umzugehen. Und am Ende des Prozesses müssen wir unabhängiger werden, es darf nie wieder so sein wie es war.
Die Grünen spüren, dass ihre einstigen Gewissheiten auf dem Spiel stehen. Etwas überspitzt hatte ihre Spitzen-Frau Annalena Baerbock, die Bundesaußenministerin, vor einem Volksaufstand im Herbst gewarnt. Politiker sollten nicht so reden, aber die Lage könnte sich verändern, verschärfen, die Balance der Republik ins Rutschen bringen. Man merkt, wie die Stimmung bröckelt, weil man nicht mehr ausschließen kann, was passieren könnte. Nein, Herr Kretschmann, es geht hier nicht ums Rumspekulieren, sondern um schlichte und wichtige Vorsorge der Politik, die ihre Bürgerinnen und Bürger auf eine Notlage vorbereiten muss. Die Debatte hat ja auch längst begonnen, wenn die Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium, Franziska Brantner, eine Grüne, davon spricht, dass beim Thema Atomkraft das letzte Wort noch nicht gesprochen sei. Ähnlich war die Vizepräsidentin des Bundestages, Katrin Göring-Eckardt, ebenfalls eine Grüne, zu vernehmen. Und wenn die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Britta Hasselmann, daran erinnert, dass es einen gesellschaftlichen Konsens zum Ausstieg aus der Atomkraft gebe, den man nicht aufs Spiel setze, so die Grüne gegenüber der Neuen Westfälischen in Bielefeld, merkt man, wie ernst das Thema die Spitzen der Politik erreicht hat. Und so geht das hin und her. In München haben SPD und Grüne eingelenkt. Es gibt noch drei laufende Atomkraftwerke in Deutschland, eines in Bayern, eines in Baden-Württemberg und eines im Emsland. Nichts ist entschieden, aber die Debatte läuft heiß.
Opposition, hat der SPD-Politiker Franz Müntefering, vor Jahr und Tag gesagt, sei Mist. Müntefering kennt beides, Regieren und Opponieren. Das trifft auch für die Grünen zu, die 1980 als Partei gegründet wurden und dabei eine Bewegung gegen vieles waren und vor allem gegen die Atomkraft. Sie verstanden sich immer als eine Interessenvertretung gegen die weitere Zerstörung des Klimas. Deshalb ihr Kampf gegen die Kohle, gegen Öl, gegen Verbrennerautos, für ein Tempolimit. Ja, es war leicht für die Grünen, solange sie eine Bewegung gegen vieles waren. Als Opposition konnten sie die etablierten Parteien attackieren und Stimmen sammeln. Seit sie aber begonnen haben, mitzuregieren, beginnend in Hessen, dann im Bund, haben sie gemerkt, was Verantwortung übernehmen bedeutet. Realpolitik ist nichts für Träumer. Man frage Joschka Fischer, der einst in Wiesbaden ins SPD-geführte Kabinett von Holger Börner eintrat: als Umweltminister und in Turnschuhen. 1998 wurde derselbe Fischer Bundesaußenminister unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Der Staatsmann Fischer hatte die Turnschuhe und die Jeans gegen einen blauen Anzug und entsprechendes Schuhwerk getauscht. Und er musste Verantwortung übernehmen, weil die neue Bundesregierung sich für Kriegseinsätze deutscher Soldaten aussprach.
Waffen in Krisengebiete
Das hatte es seit 1945 nicht gegeben. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Wie sie sich seit dem Ukraine-Krieg geändert haben, der wahrlich eine Zeitenwende eingeläutet hat. Deutschland liefert schwere Waffen in Krisengebiete, was man früher ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Man will die Ukraine in ihrem heldenhaften Kampf gegen das übermächtige Russland unterstützen. Und die Grünen sind hier richtige Treiber, sie drängen auf mehr Waffen Richtung Kiew. Man muss das nicht mögen, es wirkt für mich auch oft zu laut das Kriegsgeschrei. Da wirkt der Kanzler von der SPD, Olaf Scholz, beruhigend mit seiner Art, Politik zu machen. Und das ist gut so. Russland darf den Krieg nicht gewinnen. Sagt Scholz. Und im übrigen gehe es darum, eine Ausweitung des Kriegs auf die übrige Welt, den Westen zumal ebenso zu verhindern wie einen Atomkrieg. Was sind das für Zeiten!
Bleiben wir bei den Grünen, deren herausstechende Minister Robert Habeck und Annalena Baerbock immer wieder den Menschen ihre Politik erklären, auch das mit den Waffen. Sie müssen ihnen auch das mit der Energie erklären, ihren Sinneswandel bei der Atomkraft. Denn das ist es- ein Sinneswandel, eine Haltungsänderung, auch wenn sie nur vorübergehend sein sollte. Da müssen sie an die Front, zu ihren Leuten und den Kopf hinhalten. Und sagen, was ist. Das ist nicht leicht, aber es geht nicht anders. Weil wir, durch Putins Krieg und seine Erpressungs-Politik, dazu gezwungen sind. Und noch eins an die Adresse des anderen Koalitionspartners der Ampel, die FDP: Herr Lindner, kippen sie das Tempo-Limit. Es ist lächerlich, in Zeiten wie diesen an der gesetzlich erlaubten Raserei festhalten zu wollen. Nur weil Sie Porsche-Fahrer sind. Das kostet viel Benzin, das wir aber einsparen müssen. Sparen heißt die Devise, sparen beim Heizen, beim Duschen, beim Autofahren. Sparen und Solidarität üben. Oder wie es der Kanzler gesagt hat: Unterhaken. In Deutschland, in Europa, weil wir bedroht werden. Von Putin. Er darf dieses Spiel gegen uns alle nicht gewinnen.
Kaum eine Partei hat sich in so kurzer Zeit und derart radikal von ihren Grundsätzen verabschiedet: „Frieden schaffen ohne Waffen“; „Atomkraft – nein danke“ usw. War da was? Dass die Grünen dennoch Aufwind verspüren, dürfte u.a. damit zusammen hängen, dass sie emotional hochbesetzte Politikfelder vertreten: Krieg und Energieversorgung. Bisweilen hat man den Eindruck, Habeck und Baerbock regieren allein. Herr Lindner begnügt sich damit, seine „Klientel“ zu bedienen und die SPD lässt sich „treiben“ (im doppelten Wortsinn).
Die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz schrieb dieser Tage: „Krieg ersetzt Vernunft durch Gefühle“. Gefühle werden z.Zt. reichlich bedient, vor allem durch die Medien und Teile der Grünen. Letztere sollten sich nicht zu sicher fühlen: Emotionen schlagen schnell ins Gegenteil um, z.B., wenn es wirklich ans Eingemachte geht. Das könnte schon ab dem Herbst der Fall sein.
Wem damit gedient sein soll, dass die Wirtschaft den Bach runtergeht, erschließt sich mir nicht. Auch hätte ich es kaum für möglich gehalten, dass sich die bellizistischen Meinungsmacher derart ungehindert ausbreiten können – allen voran die Grünen. Ob die Partei das einfach so wegsteckt?