1. Position der Bundesregierung
Am 14. Juni 2023 hatte die Bundesregierung ihre Nationale Sicherheitsstrategie vorgelegt, die Druckfassung trägt das Datum 21. Juni 2023. Die Erarbeitung dauerte mehr als ein Jahr, der Prozess war schwierig, die Federführung wurde schließlich vom Auswärtigen Amt ins Kanzleramt verlegt. Verabredet war diese Vorlage, eine Neuerung im deutschen Politikwesen, im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung.
Diese Strategie ist „umfassend“ konzipiert, d. h. ihr wurde ein breites, ressortübergreifendes Verständnis von Sicherheit zugrunde gelegt. Die Strategie soll ein „Dachdokument“ sein, auf das spezielle Strategien anderer Ressorts mit Sicherheitsaufgaben sich beziehen können. Sie sollte im Schwerpunkt koordinierend wirken. Dass in diesem Dokument eine Entwicklung konkreter militärischer Fähigkeiten angekündigt würde, war nicht zu erwarten.
Und doch fand sich in ihr, recht unscheinbar, im Rahmen einer Aufzählungsliste, die (grammatikalisch etwas holperige) Formulierung (S. 34):
„Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähige Präzisionswaffen befördern.“
Darauf nimmt der Bundeskanzler heute Bezug, wenn er von Journalisten auf die allseits überraschende Bekanntgabe der Zustimmung Deutschlands zur Entscheidung der USA angesprochen wird, in Deutschland landgestützte Mittelstreckenwaffen mit einer Reichweite von bis zu 2.800 km zu stationieren. Diese US-seitige Entscheidung ist bereits am 13. April 2021gefällt worden und wurde auch zeitgleich öffentlich kommuniziert. Die Fraktion der Linken hatte sich zeitnah nach dem Erfordernis einer deutschen Zustimmung in Form einer Kleinen Anfrage im Deutschen Bundestag erkundigt.
Der Scholzsche Hinweis besagt: Wir haben uns im Kabinett damit befasst, wir haben innerhalb der Ampel-Regierung entschieden, dass wir weitreichende Waffen dieses Typs stationieren wollen. Wer heute davon überrascht ist, dass die Bundesregierung am 10. Juli 2024 den US-Stationierungsplänen zugestimmt hat, hat versäumt, den mandatierenden Beschluss der Bundesregierung zur Kenntnis zu nehmen.
Man hat zuzugeben: Die gesamte sicherheitspolitische Community in Deutschland hat beide Entscheidungen, sowohl die Stationierungsentscheidung der USA vom April 2021 als auch die strukturell bzw. verdeckend formulierte Zustimmung Deutschlands dazu vom Juni 2023, entweder nicht wahrgenommen oder absichtlich nicht an die Glocke gehängt. Dieses Urteil gilt auch für sämtliche Fraktionen im Deutschen Bundestag – mit Ausnahme der Fraktion der Linken. Ein Armutszeugnis für die Demokratie, die in Fachfragen auf die Think Tanks angewiesen ist.
2. Die Funktion des Schlüsselbegriffs “abstandsfähige Präzisionswaffen“
„Abstandsfähige Präzisionswaffen“ ist ein schillernder Begriff. Er stammt aus dem Luftwaffenjargon und meinte ursprünglich Lenkwaffen, die von Flugzeugen „auf Abstand“ eingesetzt werden können, bevor diese in die Reichweite der gegnerischen Luftverteidigung geraten. Rein vom Wortsinn her könnte man auch moderne Artillerie mit lenkbarer Präzisionsmunition und großer Reichweite unter diesem Begriff subsumieren. Am 10. Juli 2024 hat die Bundesregierung zur Überraschung der Fachkreise jedoch offenbart, entschieden zu haben, darunter auch Mittelstreckenraketen mit strategischer Reichweite fallen zu lassen. Der Vorgang vom 10. Juli 2024 in Washington ist nicht nur für sich überraschend. Die damit offenbarte Interpretation zeigt überdies, dass die Regierung ihre damalige Verwendung der Vokabel „abstandsfähige Präzisionswaffen“ zur Verschleierung genutzt hat. Also hat man der Frage nachzugehen, was die Bundesregierung damit bezweckt.
Die nun offenbarte Verwendungsintention des dubiosen abstrakten Doppel-Begriffs „Verwendung abstandsfähiger Präzisionswaffen“ impliziert schließlich die Möglichkeit der Wiederholung, d.i. die Stationierung weiterer Waffensysteme zu mandatieren.
3. Zweiter Nebenbeschluss am Rande des Washingtoner NATO-Jubiläums-Gipfel
Und tatsächlich: Der Fachjournalist Thomas Wiegold hat berichtet, dass er nach Verabschiedung der Nationalen Sicherheitsstrategie und insbesondere nach der Verwendung desselben kryptischen Wortlauts in den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 (S. 25), die das Verteidigungsministerium (BMVg) am 9. November 2023 als Spezialstrategie vorgelegt hat, gelegentlich in Kreisen des BMVg nachgefragt habe, was es mit dieser angekündigten Planung auf sich habe. Er sei regelmäßig vertröstet worden, aber immerhin mit einem Verweis auf laufende koordinierende Absprachen mit anderen Regierungen – im Plural. Gemeint waren damit offenkundig europäische Partner-Regierungen, eindeutig nicht die USA.
Am Rande des NATO-Gipfels wurde zwar als erstes am 10. Juli 2024 die schmallippige Erklärung mit der Zustimmung Deutschlands zur Entscheidung der USA vom April 2021, in Deutschland Mittelstreckensysteme erneut zu stationieren, verkündet[4].
Einen Tag später, am 11. Juli 2024, wurde in Washington zudem ein letter of intent für eine eigenständige Entwicklung von landgestützten weitreichenden Cruise Missiles aus europäischer Produktion unterzeichnet. Unterzeichner sind Polen, Deutschland, Frankreich und Italien. Mit Großbritannien ist man offenkundig noch im Gespräch. Das Dokument selbst ist nicht öffentlich. Die Erklärung des deutschen BMVg dazu lautet
„… die Absicht, mit Frankreich, Großbritannien und weiteren Partnern die kritische Fähigkeitslücke im Bereich der weitreichenden Abstandswaffen zu schließen. Es soll eine europäische Kooperation bei Entwicklung, Beschaffung, Betrieb und Ausbildung gefördert werden. Die Waffensysteme aus der Kategorie Deep Precision Strike (DPS) haben Reichweiten von über 500 Kilometern.“
Die Worte „Einführung“ bzw. „Stationierung“ fehlen in dieser Erläuterung; aber dass das impliziert ist, ist unzweifelhaft. Auch ist offen, für welche Trägersysteme diese autonom europäischen Cruise Missiles gedacht sind.
Aus anderen Quellen ist zu schließen, dass diese Absichtserklärung auf die ELSA-Initiative anspielt, unter der anscheinend landgestützte Cruise Missiles aus eigenständig europäischer Produktion mit einer Reichweite von 1.000 bis 2.000 km entwickelt werden sollen. ELSA steht für European Long Strike Approach.
Diese Initiative war beim Treffen der Verteidigungsminister des Weimarer Dreiecks am 24. Juni 2024 vorbesprochen worden. Damals war noch von sieben Initianten die Rede, von denen in Washington dann drei fehlten: UK, Spanien und Schweden. Inhaltlich geht es, so wurde am Rande verlautbart, um eine landgestützte Cruise Missile (CM). Eine naheliegende Option ist es, diese von der bereits eingeführten seegestützten CM des europäischen Herstellers MBDA mit einer Reichweite von 1.400 km abzuleiten. Das kann recht schnell gehen, die faktische Stationierung könnte sich mit der der US-Überschallflugkörper LRHW überschneiden. Die politische Debatte zu dieser Entscheidung steht also an, auch deshalb, weil sich die zur Boden-Stationierung geplanten beiden westlichen Kapazitäten, die der USA und die der Europäer, addieren. Und die Stationierung hat, der Sache gemäß, möglichst „frontnah“ zu sein, die Mithersteller-Staaten Frankreich, Italien (und Spanien sowie UK) sind keine naheliegenden Stationierungsstaaten.
4. Begrenzung des Mandats für “abstandsfähige Präzisionswaffen“!
Politisch gesehen reicht es somit nicht, allein die Stationierung von US-Mittelstreckensystemen in Deutschland zu thematisieren – beides reicht nicht. Es hat vielmehr auch darum zu gehen, der Bundesregierung den von ihr selbst ausgestellten Freibrief zu nehmen, mit der Selbst-Mandatierung der „Verwendung abstandsfähiger Präzisionswaffen“ beliebige weitere Mittelstrecken-Waffensysteme zu stationieren ohne eine Pflicht zur Begründung. Dazu hat man den Bedeutungsinhalt des Begriffs „abstandsfähige Präzisionswaffen“ zu begrenzen, zurückzuführen auf das, was damit sinnigerweise ursprünglich einmal gemeint war
„Abstandsfähig“ meint „fähig, mit Abstand Wirkung zu erzielen“, also „fernwirkend“ – wobei „fern“ prinzipiell beliebig weit angenommen werden kann. Die Fernwirkung kann dem Zweck der Abwehr dienen oder dem Zweck des (vorauseilenden) Angriffs – der Beschluss der Bundesregierung vermeidet bezüglich dieser beiden Optionen eine Festlegung.
„Flugabwehr“ bzw. „Luftverteidigung“ sind termini technici für Abwehrwaffen, die also Schutz bieten. Der Schutznotwendigkeit ist durch die European Sky Shield Initiative (ESSI) Rechnung getragen worden. Die diesbezügliche Aufrüstung in Deutschland läuft, sie ist wenig strittig – obwohl da anscheinend ein Fehler unterlaufen ist, indem Bundeskanzler Scholz direkt nach dem 24. Februar 2022 mit dem System Arrow-3 die Anschaffung eines Abwehrsystem verabreden ließ, welches auf ballistische Raketen eines Typs ausgelegt ist, über welche Russland nicht verfügt. Zudem gilt: Schutz gegen fernwirkende Waffen des Gegners ist bei weitem nicht allein mit fernwirkenden Mitteln, mit Sprengköpfen, zu erreichen.
In diesem Kontext ist die magere Erfolgsbilanz des Einsatzes westlicher Cruise Missiles sowie der steuerbaren Artilleriegeschossen kürzerer Reichweite in der Sommeroffensive 2023 der ukrainischen Armee von Interesse. Insgesamt hatten Frankreich und Großbritannien der Ukraine 300 Storm Shadow und SCALP zur Verfügung gestellt. Der Effekt des Einsatzes auf die Logistik und die Befehlszentren der russischen Streitkräfte war gering. Sehr erfolgreich waren diese Waffen gegenüber der russischen Schwarzmeerflotte – doch für das Ergebnis, das Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive, trug die Verwendung mit diesem Erfolg nichts aus.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Erfolgsstatistik des sog. „Präzisions“-Artillerie-Geschosses „M982 Excalibur“ (aus US-Herstellung). Am Beginn, im Frühjahr 2022, lag die Treffer-Häufigkeit dieses gesteuerten Geschosses bei 70 %; im August 2023, also auf dem Höhepunkt der Sommeroffensive, war sie auf 6 % herabgefallen und lag damit unterhalb der Treffer-Häufigkeit ungesteuerter Artillerie-Geschosse zur selben Zeit. Das war zu einem Gutteil Effekt der angepassten elektromagnetischen Abwehrsysteme der russischen Armee.
Bleibt der Versuch, die weitreichenden „Angriffswaffen“, die landgestützten Cruise Missiles und Raketen mit Mittelstrecken-Reichweite, also innerhalb des im INF-Vertrag einstmals definierten Abstandsbereichs, als „abstandsfähige Präzisionswaffen“ zu rubrizieren. Deren Aufgabe im Kriegsfall ist die sog. „Abriegelung in der Tiefe“ – damit notwendig verbunden ist das sog. Präemptions-Risiko.
Die These der Verschleierungsintention müsste sich daran erweisen, ob der Begriff abstandsfähige Präzisionswaffen vorher in dem Sinne gebräuchlich war, dass er Mittelstreckenwaffen einschloss. Eine Google-Recherche für das Jahr vor Juni 2023, dem Zeitpunkt des Erscheinens der Nationalen Sicherheitsstrategie, hat zum Ergebnis: Es gibt lediglich einen Treffer, und der gibt das von der Bundesregierung im Juli 2024 offenbarte Verständnis nicht wirklich her. Es ist eine Erwähnung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag vom 29. März 2023. Dort wird in der Antwort auf Frage 2 bis 2b so formuliert:
„Die hohe Bedeutung abstandsfähiger Präzisionswaffen ist durch die NATO im Kontext „Deep Precision Strike Capabilities“ erfasst und wurde – in NATO-Planungszielen operationalisiert – in Form von Fähigkeitsforderungen an die NATO-Mitgliedstaaten adressiert. So werden von Deutschland neben Kampfhubschraubern auch weitreichende Artilleriesysteme und entsprechende Fähigkeitsträger der Luftwaffe gefordert.“
Damit ist klar, dass mit diesem Begriff auch weitreichende Systeme, jedoch allein luftgestützte, gemeint sind bzw. von der Bundesregierung so zu assoziieren lediglich angeboten wurden. Die These von einer Verschleierung seitens der Bundesregierung ist damit belegbar. Zudem gilt: Der Anspruch des Bundeskanzleramtes bzw. des Verteidigungsministeriums, sie hätten qua Kabinettsbeschluss ein Mandat für die Stationierung von fernwirkenden landgestützten Waffen im Mittelstreckenbereich, ist damit widerlegt.