Von Willy Brandt kennen wir den berühmt gewordenen Satz: Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört. Später machten Kritiker daraus, es wuchere zusammen, was nicht zusammen passte. Es war ja auch nicht so einfach nach 1989. 40 Jahre DDR mit Planwirtschaft, SED-Alleinherrschaft, die Rote Armee in großer Stärke im Land, alles unter kommunistischer Kontroller oder zumindest Einfluss, auf der anderen Seite die erfolgsverwöhnte BRD mit sozialer Marktwirtschaft, Presse- und Meinungsfreiheit, freien Wahlen, Reisefreiheit, vollen verlockenden Schaufenstern, die alles versprachen, wer es bezahlen konnte. Dazwischen eine unheimlich wirkende Mauer mit tödlicher Abschreckung, niemand dachte daran, dass sich das fundamental ändern würde. Und plötzlich war die Mauer gefallen, weil das SED-Regime morsch war und Menschen im Osten genug hatten von dieser Art von Diktatur, die ihnen die Freiheit genommen hatte, frei zu wählen, frei und ohne Folgen ihre Meinungen öffentlich zu äußern, unabhängigen Journalismus zu lesen, zu hören und zu sehen, frei zu reisen in alle Welt. Nun sollte das alles anders werden, wurde es auch, aber nicht so, wie viele es sich wünschten. Sie wurden übernommen, traten der Bundesrepublik bei. Ein Erfolg war es dennoch.
Dabei hatten sie Wünsche und Ideen, wollten lieber abstimmen über dies und jenes, was aber politisch nicht so gewollt war von der Bonner Republik, dessen Teil sie quasi über Nacht wurden. Wir rätseln seit Jahren über den Osten, weil er uns anders vorkommt, weil er sich verändern musste im Prozess der Vereinigung, während der Westen zunächst blieb, was er war, die Treuhand schaffte so manches ab und schuf manche Ungerechtigkeit, zumindest empfanden das viele Bürger der einstigen DDR, weil vieles wegbrach, was über Jahre ihre Sicherheit zu leben ausmachte. So entstand Unsicherheit, Unzufriedenheit. Im Buch „Tausend Aufbrüche- Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren“ versucht die Professorin für Geschichte, Christina Morina, eine Spurensuche an Hand von Bürger-Briefen, Flugblättern und anderen bisher unerforschten Selbstzeugnissen, die Demokratievorstellungen normaler Bürgerinnen und Bürger im Westen und vor allem im Osten zu schildern und den Nährboden aufzuzeigen für das Erstarken des Nationalismus wie den Aufstieg des Rechtspopulismus und der AfD. Ein lesenswertes Buch, gut geschrieben.
Die Ostdeutschen waren blutige Anfänger in Sachen Demokratie, keine Frage, aber das allein muss ja kein Nachteil sein. Lernen kann ja Spaß machen. Ich habe während des Lesens des Buches immer mal wieder an Dirk Oschmanns flotte und auch provokante Erzählungen gedacht, die vielfach einseitig waren, was ich aber verstanden habe. Er hat uns das alles bewusst um die Ohren gehauen, damit wir ihm endlich zuhören, begreifen, was ihn wurmt, wütend macht und auch bedrückt. Ob es der Wechsel von dem autoritär regierten System war, dem von der SED den Menschen im Osten amtlich verordneten Antifaschismus, oder was auch immer zum Rechtsextremismus im Osten führte, die Professorin versucht uns Erklärungen zu geben, damit wir besser verstehen. Überhaupt habe ich in meinen wenigen Berliner Jahren lernen müssen, einstige Ostberliner besser zu verstehen, ihnen zuzuhören. Was sie zum Beispiel von mir wollten, war, dass ich ihr Leben und ihre Lebensleistung anerkenne. Was ich nie bezweifelt habe. Aber vieles Materielle beispielsweise wurde von uns als selbstverständlich genommen, was für sie unerreichbar schien. Da darf man schon die Frage stellen: Warum das so war? Man lebt nur einmal.
Sie waren von oben erzogen worden, mitzumachen, was einige gern taten, denn dadurch wuchs mehr Gemeinschaft in Dörfern und Städten heran, was aber nicht unbedingt Nähe zum Staat bedeutete. Viele hatten unangenehme Erfahrungen mit der Stasi machen müssen, wenn sie der Aufforderung gefolgt waren, ihre Ideen, Wünsche, Forderungen aufzuschreiben und sie an die staatlichen Stellen zu schicken. Mielkes Stasi-Leute fingen diese Briefe ab, lasen sie und prompt erhielt der eine oder andere Bürger schon mal Besuch, weil man ihn verdächtigte, er liebäugle mit der Opposition, schaue vielleicht West-Fernsehen und plane die Flucht in den gelobten Westen. Sie erfuhren mit der Zeit, dass das mit der Demokratie im Osten nicht so gemeint war, wie sie das erhofften. Die sozialistische Demokratie stand in der Verfassung, sie war aber das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben war. Es galt der Spruch von Walter Ulbricht: Es müsse demokratisch aussehen, aber die führende Partei, also die SED, müsse alles im Griff haben. So war es. Und doch funktionierte das mit dem Mitmachen, glaubte mancher an die propagierte Gleichberechtigung, nur weil er mitwirken durfte. Er durfte es nur nicht falsch verstehen und meinen, er dürfe mitregieren. Was Wir-alle-Gefühl entpuppte sich irgendwann als Heuchelei. Zumal es die MfS-Leute als staatsgefährdend einstuften und als subversiv.
Aber die Deutschen sind so, wie sie sind, im Osten wie im Westen: Viele Briefe und Papiere landeten im Archiv, wurden aufgehoben und können heute zu Forschungszwecken eingesehen werden. Aus den Briefen kann man erkennen, dass die Ostdeutschen sehr lebendige Demokratievorstellungen hatten, sie wollten immer wieder Bürgerentscheide, Volksentscheide. Später bekamen wir einen Eindruck von ihren Wünschen, die im Großen und Ganzen nicht erfüllt wurden. Sie gibt es auf Bundesebene nicht, im Land nur begrenzt für ganz bestimmte Bereiche.
Die Kommunalwahlen 1989 offenbarten dann, was einige schon immer ahnten: Dass gemogelt wurde, betrogen. Dass die 99 oder 98 vh nie echt waren, sondern von vornherein feststanden. Die Funktionäre wurden von den Bürgerinnen und Bürgern ertappt, weil die Bürgerinnen und Bürger das Heft in die Hand nahmen und die Wahl in den Wahllokalen überprüften. Ein Verrat am Volk. Wobei nicht vergessen werden darf, dass der sowjetische KP-Chef Gorbatschow entscheidend für eine Öffnung des Systems sorgte. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, ist so ein Satz, der ihm nachgesagt wird. Richtig daran ist, dass die alte KP-Garde in Ostberlin die Zeichen der Zeit überhaupt nicht erkannte. Und erleben musste, das anders als 1953 die Rote Armee mit ihren Waffen und Panzern am 9. November 1989 in den Kasernen blieb. Die Demonstranten hatten mit ihren Kerzen gewonnen. Wir sind das Volk. War ihr Ruf. Die friedliche Revolution ohne einen Schuss Munition ging in die Geschichte ein.
Wo ist der Runde Tisch geblieben? Der Wunsch nach mehr Plebisziten? Nach der Möglichkeit, direkt bei der Gestaltung von Gesetzen mitzuwirken? Am Ende muss man feststellen, dass die Bürgerbewegung im Osten an der Gestaltung der deutschen Einheit im Grunde nicht beteiligt war. Aber waren es die Westdeutschen? Oder war es nur Sache der Parteien, des Kanzlers Kohl und seiner Minister wie Schäuble? Es kam zu keiner neuen Verfassung, über die dann alle Bürger der neuen Bundesrepublik hätten abstimmen können. So endete dann die ostdeutsche Demokratieanspruchsgeschichte, wie es Christina Molina beschreibt. Aber ist es das, weswegen eine AfD Erfolg hat in Deutschland, wegen ihrer Kritik an der Parteienherrschaft? Als wenn eine AfD, käme sie an die Macht, wirkliche Demokratie ausüben lassen würde. Sie würde ja schon an Artikel 1 Grundgesetz scheitern: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Aber richtig ist sicher, dass Demokratie eben kein festes Gericht ist aus dem Kühlregal, sondern etwas, was sich entwickelt und weiter entwickeln kann, es kann erfolgreich sein, es kann aber auch scheitern. Und richtig ist gewiss auch: Das Problem der AfD ist kein rein ostdeutsches, es ist ein gesamtdeutsches Produkt. Wir sollten uns mehr mit den Wünschen und Sorgen und Befindlichkeiten der Bürgerinnen und Bürger vor Ort, in jeder Stadt und in jedem Dorf befassen. Das gilt nicht nur für die Flecken im Osten, sondern auch für die im Ruhrgebiet. Gerade so, wie es der frühere SPD-Chef und langjährige Minister Sigmar Gabriel mal seinen politischen Mitstreitern empfohlen hatte: Man müsse dahin gehen, wo es brennt, wehtut, stinkt.