Hartz IV, so lautete die Wahlkampfwerbung der Links-Partei in den 2000er Jahren, das ist Armut per Gesetz. Damals war Gerhard Schröder noch Kanzler der ersten rot-grünen Bundesregierung. Jener Schröder, der es geschafft hatte, von ganz unten nach ziemlich oben zu kommen. Schröder war ein ganz armer Schlucker, er wuchs in wirklich armen Verhältnissen auf, seine Mutter ging putzen. Und derselbe Schröder war der Erfinder der Hartz-Gesetzgebung, die beinahe die SPD gespalten hätte, Tausende und Abertausende Genossen verließen aus Wut und Enttäuschung die älteste deutsche Partei. Hartz-IV, das hing der SPD an, sie stürzte ab, wegen ihrer Sozialpolitik. Ausgerechnet die SPD, die man doch auch wegen ihrer Sozialpolitik, der Politik für die Arbeiter, die kleinen Leute, gewählt hatte. Hartz-IV, das ist Geschichte, jetzt haben wir das Bürgergeld. Ist nun alles besser? Nichts ist besser, rufen die Aktivistinnen Helena Steinhaus und Claudia Cornelsen. Die Probleme seien geblieben. Dabei behaupten sie in ihrem Buch: „Es braucht nicht viel“, um „unseren Sozialstaat demokratisch, fair und armutsfest zu machen.“ Die Autorinnen schreiben ziemlich offensiv, manchmal aggressiv, um die vielen Vorurteile, die es gibt in der deutschen Öffentlichkeit, abzuräumen, um aufzuräumen mit den falschen Vorstellungen, die nicht wenige haben, wenn sie über Arme, Obdachlose, Wohnungssuchende reden und schreiben. Man merkt den beiden Aktivistinnen an, dass sich bei ihnen Wut angestaut hat über die Jahre, Frust über den Sozialstaat. Sie mussten sich ihren aufgestauten Ärger von der Seele schreiben. „Puh. Das musste jetzt mal raus“. Ich kann es verstehen, was nicht heißt, dass ich jeder These folgen würde. Darum geht es auch nicht. Sie wollen sich Gehör verschaffen und den Sorgen der Armen, deshalb greifen sie auch an, überspitzt, facettenreich, kenntnisreich. Sie kennen für jeden Fall Betroffene, haben mit ihnen geredet, sich in die Lage derer versetzt, die ganz unten angekommen sind, teils ohne eigene Schuld. Armut kann auch vererbt werden. Ihnen zu helfen, das ist ihr Ziel, und uns, denen es verdammt gut geht, mitzunehmen auf diese Reise, um endlich zu begreifen, dass wir was ändern müssen. Nicht viel, ich weiß. Wenn der Strom gesperrt wird Was bedeutet Armut? „Wenn die Jahresendabrechnung des Stromversorgers Überschuldung und Stromsperren bedeutet“. Armut heißt ganz allgemein: sich Sorgen machen, krank werden, traurig sein, wenn es nicht reicht, man nirgendwo dabei sein kann. „Arm sind Menschen, die regelmäßig zur Essensausgabe der Tafeln gehen“, weil das Geld zum Kauf von Lebensmitteln fehlt. Zwei Millionen Menschen stehen beinahe täglich in den Schlangen der Tafeln. 2022, lese ich in dem Buch, „meldet jede zweite Tafel doppelt so viele Kunden wie im Jahr zuvor, unter ihnen unzählige Kinder“. Das sind nur zwei Millionen, schreiben unsere Autorinnen. „Arm sind aber tatsächlich 17,3 Millionen Menschen in Deutschland. Das ist jede fünfte Person. Das ist jedes fünfte Kind. 20,9 Prozent der Bevölkerung. Im viertreichsten Land der Welt. Die Armut tobt sich hier richtig aus“. Armut ist eine Katastrophe, aber kein Naturereignis wie ein Erdbeben, auch kein individuelles Verschulden, auch wenn sich solche Erzählung „hartnäckig hält“. Etwa so, wie auch Vermögen angeblich selbst verdient sei, dafür hätten Menschen hart gearbeitet, seien früh aufgestanden, hätten Steuern bezahlt. Nein, halten unsere angriffslustigen Schreiberinnen dagegen, „Armut ist vor allem das Ergebnis von politischen Entscheidungen, eine Folge von Umverteilung, die sich seit Jahren verstetigt, und zwar von unten nach oben, von vielen Armen zu wenigen Reichen. Das ist nicht selbstverschuldet oder selbstverdient. Das hat System“. Wenn ich die Frage nach der Armut in dem Buch lese, erinnere ich mich an Debatten im Bekanntenkreis. Motto: Es gibt doch bei uns keine Armut. Sie meinen wie in Afrika oder in Teilen von Asien, in Peru. Aber kann man, darf man so vergleichen? Müssen wir Armut nicht definieren in Deutschland, gemessen am Niveau der anderen, des Mittelstands, wo man fein herausgeputzte Häuser hat, Autos, in den Urlaub fliegt, täglich selbstverständlich frühstückt mit Kaffee, einem gekochten Ei, frischen Brötchen, etwas Obst? Man hat davon im Überfluss. Und die anderen? Die Schulkinder, die ohne Frühstück in die Schule gehen, denen das Geld für den Schulausflug fehlt, fürs Schwimmbad, das Kino, ein Eis. Und. Und. Und. Zur Monatsmitte nur noch Kartoffeln Es braucht nicht viel. Helena Steinhaus weiß, worüber sie schreibt, was Armut bedeutet. Sie wuchs auf bei einer alleinerziehenden Mutter, gehörte der ersten Hartz-IV-Generation an. Sie war angewiesen auf den Sozialstaat. Sie und ihre Mutter machten die Erfahrung, dass es „zur Monatsmitte nur noch Kartoffeln oder Nudeln“ gab. Ihre bitteren Erfahrungen führten dazu, dass sie den Verein „Sanktionsfrei“ gründete, ein Solidarfonds, der versucht, die finanziellen Sanktionen auszugleichen, die Hartz-Empfänger bekommen, wenn sie ihre Leistungen nicht erfüllen. Sie werden bestraft durch das Jobcenter, wenn sie einen Termin versäumen. „Sanktionsfrei“ kämpft dagegen an, will die Sanktionen abschaffen, hält sie für ungerecht, unmenschlich. Frau Steinhaus und ihre Co-Pilotin Claudia Cornelsen legen ihre Finger in die Wunden des Sozialstaats, in die der Gesellschaft. Sie versuchen, diese aufzurütteln. Was gerade jetzt wichtig ist, angebracht, da wir über Kinderarmut diskutieren und erleben mussten, wie die FDP die Kindergrundsicherung zusammenstampfte. Milliarden Euro wurden den Kindern gestrichen, fürs Militär haben wir das Geld, für die Reichen sowieso. Setze ich ein wenig provokant hinzu. Und wie war das noch, als wir die Banken vor dem Untergang retteten? Man frage Angela Merkel oder Peer Steinbrück. Jeder kennt Arme, auch wenn er sie persönlich nicht kennt, oder besser erkennt. Sie verstecken sich ein wenig, weil sie sich schämen, aber sie stehen neben uns bei Rewe oder Edeka, sie sitzen an der Supermarktkasse, kassieren an der Tankstelle, liefern uns die Pakete quasi ins Haus, reinigen das Hotelzimmer, kontrollieren das Gepäck am Flughafen. Beispiele aus dem Buch, man könnte so viele andere Beispiele ergänzen. An Niedriglohn-Beziehern ist in diesem reichen Land kein Mangel. Es braucht nicht viel, um Armut zu erkennen, sie ist alltäglich. Das, was wir uns wie selbstverständlich leisten, fehlt ihnen. Wenn man das Existenzminimum kürzt Was heißt Existenzminimum? Es ist doch ein schlechter Witz, wenn von diesem Minimum noch Abstriche gemacht werden. Minimum heißt doch, weniger geht nicht, um zu überleben, es reicht gerade, oft auch nicht. Und doch wird da noch gekürzt. Und die Medien sind in der Regel nicht auf der Seite der Armen, sie kommentieren schnell mal, dass man mit weniger Geld auch auskommen könne. Sollen halt aufhören zu rauchen und Alkohol zu trinken. Da sind sie wieder die Vorurteile, als würden die Armen nur aus Kettenrauchern und Säufern bestehen. Diejenigen, die wir mit ihrem Rad durch die Straßen radeln sehen, von Mülleimer zu Mülleimer, suchen nach Flaschen, um dafür das Pfand zu kassieren. Cent-Beträge. Es lohnt sich, diesen Menschen zuzusehen, aber bitte aus der Ferne, sie wollen nicht erkannt werden. Nehmen wir doch etwas Rücksicht, Respekt wäre wünschenswert. Die Autorinnen nennen das Bürgergeld „Bürgerhartz“, weil sie es für Etikettenschwindel halten, weil sich dadurch materiell nichts bessere. Selbst die Anhebung der Regelsätze sei kaum mehr als ein verspäteter Inflationsausgleich. Puderzucker. Ein Beispiel, wie man mit Armen umspringt: Ein Darlehen für einen Kühlschrank wurde vom Jobcenter abgelehnt, weil im Haushalt keine Kinder mehr lebten und Lebensmittel gekauft werden könnten, die keiner Kühlung bedürften. Wir haben fünfeinhalb Millionen Bürgergeld-Beziehende, darunter eine Million erwerbstätige Menschen. Darunter viele „Aufstocker“, deren Arbeitslohn zum Leben nicht ausreicht, Kinder und Jugendliche und Menschen, die Angehörige pflegen oder aufgrund einer Erkrankung nicht arbeiten können. Faul? Und dann räumen die Autorinnen noch auf mit den Vorurteilen der Union gegen das Bürgergeld. Tatsächlich haben die Unionsparteien die Ampel-Reform bekämpft mit dem Argument, Bürgergeld sei die lohnende Alternative zur Arbeit. Wer diese Passagen in dem Buch nachliest, dürfte ein anderes Bild von den Armen dieser Gesellschaft erhalten. Die Argumentation der Union ist reine Wahlkampf-Propaganda, man will den Kanzler Scholz treffen, seine Politik kritisieren, Stimmung gegen die Ampel machen. Aber Politik? Politik ist das nicht für eine Partei, die manche Sozialpolitiker im Ministerrang gestellt hat. Das Buch ist auch eine Anklage. Richtig so! Jeder sollte es lesen. Es sind gerade mal 256 Seiten, flott geschrieben, in Kenntnis der Lage dieser Gesellschaft und der der Armen. Es braucht nicht viel, um dies zu ändern. Wenn wir es nur wollten! Helena Steinhaus, Claudia Cornelsen: Es braucht nicht viel. Wie wir unseren Sozialstaat demokratisch, fair und armutsfest machen. 256 Seiten. S. Fischer-Verlag Frankfurt/Main. 24 Euro. ISBN 978-3-10-397557-4.
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