Erinnerungskultur? Schön wär´s, wenn da noch Kultur vorhanden wäre in dieser Angelegenheit, die längst zur Affäre geworden ist. Oder ist es nicht hochnotpeinlich, wenn der Stellvertreter des bayerischen Ministerpräsidenten, also der Vize des Freistaats Bayern, ein gewisser Hubert Aiwanger in der Buchenwalder KZ-Gedenkstätte nicht willkommen ist. Man befürchtet dort einen „Ablasshandel“, käme der Chef der Freien Wähler an den Ort, der einst gefürchtet war, weil viele Menschen, die in Buchenwald eingeliefert wurden, dem Tode geweiht waren. Ist es nicht peinlich, wenn man den Aiwanger auch in der KZ-Gedenkstätte Dachau vor der Landtagswahl im Freistaat am 8. Oktober nicht sehen möchte? Weil ein solches Erscheinen des Ministers Aiwanger als öffentlichkeitswirksam empfunden werden könnte, ja empfunden wird. Weil man damit rechnen muss, dass der Aiwanger das nur aus Wahlkampfgründen macht. Wahlkampf in Dachau, mit Dachau? Wo sind wir gelandet?
Schämt sich irgendwer der Betroffenen oder Aiwanger selber, dass die Vorsitzende der Israelitischen Gemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, die Entschuldigung Aiwangers nicht angenommen hat? Was empfindet einer wie Aiwanger, wenn der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, damit zitiert wird, er habe jene Reue und Demut vermisst, die Ministerpräsident Markus Söder von seinem Vize gefordert hatte? Und was macht es eigentlich mit uns, den Deutschen, wenn wir hören, dass sich mehr und mehr Stimmen von Deutschen jüdischen Glaubens Sorgen machen wegen des heutigen Umgangs von Hubert Aiwanger mit der Affäre? Ist es nicht schlimm genug, wenn sich Juden in Deutschland sorgen wegen des Aufstiegs der rechtsradikalen AfD zur bisher zweitstärksten Partei in Deutschland, ja möglicherweise sogar zur stärksten Partei in Thüringen, folgt man Umfragen? Sie haben Angst, dass es so werden könnte wie damals in den 30er Jahren, einige von ihnen, habe ich gelesen, sitzen auf gepackten Koffern. Macht das niemand von uns betroffen? Es ist eine Schande.
Anstand gefragt, nicht Macht
Nimmt niemand Rücksicht auf Frau Knobloch, auf das, was sie als Kind im Nazi-Staat erleben musste? Charlotte Knobloch ist eine Überlebende des Holocaust. Und jetzt erlebt sie das mit dem Auschwitz-Flugblatt, das der 17jährige Schüler Hubert Aiwanger in seiner Schultasche trug. Soviel hat er eingestanden, geschrieben haben soll es sein Bruder. Jugendsünde? Wenn er glaubwürdig Reue gezeigt und nicht im nächsten Atemzug eine Wahlkampf-Offensive gestartet hätte, um sich als Opfer darzustellen und den anderen eine Schmutzkampagne vorzuwerfen, um ihn, den guten Hubsi zu vernichten. Er drohte denen dann noch mit juristischen Schritten. Wie erbärmlich! Das Flugblatt ist so widerlich, dazu fällt einem normalen Menschen nichts ein. Warum konnte Aiwanger nicht alles von sich weisen, den ganzen antisemitischen Dreck, sich entschuldigen und dann etwas schweigen. Demut zeigen. Das Leben besteht nicht nur aus Bierzelt und Wahlkampf, Politik besteht nicht nur aus Kampagnen und Attacken. Hin und wieder ist Anstand gefragt, Haltung. Moral und nicht nur Macht. Meine ich zumindest.
Markus Söder hat Rat gesucht bei Charlotte Knobloch bei seiner Entscheidung, pro oder contra Aiwanger. Sie hat sich hinter ihn gestellt, wozu Mut gehörte. Also blieb Aiwanger im Amt. Welch eine Frau! Die Ehrenbürgerin von München, die damals überlebte, weil eine Haushälterin das Kind Charlotte als ihr eigenes, uneheliches Kind ausgab, ihre Familie wurde ermordet. Eine Frau, die Brücken bauen kann, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sie gelobt hat anlässlich einer Feier zu ihrem 90. Geburtstag vor einem Jahr. Eine Frau, die es vor Jahren geschafft hatte, dass die Hauptsynagoge in München gebaut wurde. Man hatte dafür Jahrzehnte gebraucht in der einstigen Hauptstadt der Bewegung. Warum auch immer. Eine Frau, die als Kind mit ansehen musste, wie am Boden liegende Juden in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 mit Füßen getreten wurden. Deshalb war sie gegen Stolpersteine, deshalb werden in München und anderswo Stelen vor Häusern errichtet, in denen Juden gelebt haben, bis die Nazis sie abholten nach Dachau, Auschwitz, Theresienstadt. Und diese Frau Knobloch, geht sie heutzutage an der Isar spazieren, wird von zwei Personenschützern begleitet, geschützt. Oft wurde sie von Rechten beschimpft und bedroht. Und trotz allem betont sie: „Ich werde nicht schweigen, solange ich fähig sein werde, ein Wort zu sagen.“ Deutschland 2023.
Unsinn auf den Punkt gebracht
Erinnerungskultur? Wieso kommt einer wie Friedrich Merz dazu, Söders Entscheidung pro Aiwanger als ‚“bravourös“ zu bejubeln. Er hätte besser dazu geschwiegen. Aber der Sauerländer glaubte wohl, im Sinne des Bayerischen auftreten zu müssen. Sein Trachtensakko hätte genügt, das Schwadronieren von Gillamoos als wahres Deutschland im Gegensatz zu Kreuzberg, billig. Oder wie es in einer Kolumne der SZ steht: „Unsinn prägnant auf den Punkt gebracht“. „Souverän“ beurteilte CSU-Generalsekretär Martin Huber das Vorgehen seines Chefs. Dabei hat der im Grunde nur so entschieden, wie man es von ihm erwarten konnte: Macht geht vor Moral. Söder will im Amt bleiben, dazu braucht er die Freien Wähler, die Grünen hat er im Wahlkampf in Bausch und Bogen verdammt. Die Musik spielt auf Volksfestplätzen. Spott über gendernde Veganer, eine unfähige Ampel. So ähnlich kann man es zusammenfassen.
Weiter mit Aiwanger, weil die CSU und Söder fürchten, dieser wäre sonst als Märtyrer im Wahlkampf zu einer Art Heiligenfigur aufgestiegen. Hubert in seiner Opferrolle. Darüber könnte man lachen. Der Mann, der schon mal die Demokratie zurückholen wollte, als wäre sie geklaut worden, der denen in Berlin vorhielt, „sie hätten wohl den Arsch offen“. Manches erinnert an die Politik eines Trump. Dazu hat sich der frühere CSU-Parteichef, der auch mal Generalsekretär war, Erwin Huber, geäußert. Man könne Aiwanger zwar nicht direkt mit Trump vergleichen, so groß sei der Freie-Wähler-Chef nicht. „Aber die Methoden ähneln sich“. Da hat er Recht der Mann, der im Alter- er ist 77- weise zu werden scheint. „Man nimmt gar nicht zur Kenntnis, dass es Vorwürfe gibt. Man leugnet das einfach. Man droht mit Klage. Zweitens: Man macht sich zum Opfer. Das hat schon Ähnlichkeiten mit dem Trumpismus.“ Und was die Antworten Aiwangers auf die Fragen Söders betreffen, sagte Huber: „Hubert Aiwanger hat eigentlich gar keinen Aufklärungswillen“.
Als Weizsäcker anklagte
Erinnerungskultur? Ob der gemeine Wähler sie verinnerlicht hat oder vergessen? Ist alles lange her. 1945 ist lange vorbei. Schwamm drüber, forderten vor Jahrzehnten schon viele, sogar der Nazi-Gegner Konrad Adenauer. Und Franz-Josef Strauß. Alfred Dregger. Strauß fand, man müsse die Debatte über Schuld und Verantwortung jetzt mal beenden. Und Alfred Dregger, Chef der Unions-Fraktion im Bundestag, sagte in einer Rede zum Volkstrauertag: „Es muss endlich Schluss sein mit der uns von den Siegermächten aufgezwungenen Geschichtsbetrachtung“. Beide konservativen Reaktionen waren auf Richard von Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985 gefolgt, als dieser im Bundestag erklärt hatte: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Das war nicht im Sinne der Konservativen, man vernahm viel Geraune danach, vor allem weil der Präsident auch aufgeräumt hatte mit so manchen Narrativen, würde man heute sagen. Von wegen nichts gewusst. Jeder habe sehen können, wie Juden deportiert wurden, die Verfolgung war offenkundig, an den Bahnhöfen wurden die Menschen zusammengetrieben, die in die Konzentrationslager verschleppt werden sollten.
Ich kann mich gut an die Rede erinnern, die Reaktionen im Publikum konnte man von der Pressetribüne verfolgen, die Köpfe gingen hin und her, als der Bundespräsident, der ja nach dem Krieg seinen Vater mit verteidigen musste gegen entsprechende Anklagen, deutlich machte, dass Auschwitz für die Deutschen im Alltag mehr als eine Legende gewesen war. Und ebenso Dachau. Wie ich hinzufüge. Die Leute wurden vor aller Augen abgeführt, teils beschimpft, angespuckt. Man verschloss vor dem Verbrechen die Augen. Die Deutschen, die Abgeordneten, die Gäste im Plenum mussten sich von Weizsäcker die harte Wahrheit anhören über die deutsche Schuld am Krieg und am Holocaust. Zu dem Juden gehörten, Sinti, Roma, Homosexuelle.
Man kann zur Erinnerungskultur auch kurz sagen, was ich in der schon erwähnten SZ-Kolumne gelesen habe. „Andere legten ihren Antisemitismus hingegen eines Tages ab. Millionen Deutsche schafften das am 8. Mai 1945 sogar innerhalb eines einzigen Tages“. Und wenn man sich die Umfragen der letzten Wochen anschaut, die Umfragen in Bayern, scheint das mit dem Flugblatt die meisten Leute kaum zu interessieren. Plötzlich ziehen Aiwangers Freie Wähler gleichauf mit den Grünen, rutscht die CSU auf nur noch 36 Prozent. Die Aufregung um ein antisemitisches Flugblatt in der Tasche des Schülers Aiwanger hat offenbar der CSU geschadet, lese ich in der „Welt“ unter Berufung auf das ZDF-Politbarometer. Die Freien Wähler befinden sich im Höhenflug und bekämen, würde jetzt gewählt, 16 Prozent der Stimmen wie die Grünen, die SPD erhielte nur 9 Prozent, FDP und Linke würden scheitern. Man fasst sich an den Kopf. Affäre? Mit Aiwanger? Bierzelt siegt vor Erinnerungskultur?