Den Tag des Misstrauensvotums von CDU/CSU gegen Bundeskanzler Willy Brandt habe ich in meiner Schule, dem Deutschorden-Gymnasium in Bad Mergentheim erlebt.
An diesem 27. April 1972, wir waren kurz vor den mündlichen Prüfungen zum Abitur, sassen wir in der Schule vor einem Fernseher und haben die Debatte im Bundestag verfolgt und auf das Ergebnis der geheimen Abstimmung gewartet.
Als Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel das Ergebnis bekannt gab, war der Jubel gross. Die meisten hatten darauf gehofft (und die anderer Meinung waren, haben nichts gesagt), dass Willy Brandt Bundeskanzler bleibt, aber befürchtet, dass er gestürzt wird. Der Jubel und die Erleichterung über das gescheiterte Misstrauensvotum hatte inhaltliche Gründe, aber es ging auch um die „politische Kultur“. Der Begriff war mir damals wahrscheinlich noch nicht geläufig, was damit gemeint ist, war mir aber schon damals wichtig.
Ich war seit anderthalb Jahren Mitglied der SPD und schon vorher aktiv bei den Jungsozialisten in einer kleinen Stadt, in der die CDU damals noch absolute Mehrheiten bei allen Wahlen holte. Von meinen Eltern wusste ich, dass sie 1969 zum ersten Mal nicht mehr CDU gewählt hatten, auch weil sie die Kampagnen gegen den von den Nazis ins Exil getriebenen Willy Brandt für unanständig gehalten haben, erst recht von Parteien die das “C“ im Namen führen.
Für mich stand Willy Brandt für eine andere, für eine neue, eine bessere Politik. Ich verband mit ihm grosse Hoffnungen. Innenpolitisch ging es um soziale Gerechtigkeit, gleiche Chancen in der Bildung unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, um Beteiligung und Demokratie über den staatlichen Bereich hinaus und die Befreiung von überkommenen Zwängen. Aussenpolitisch ging es darum, dass die Bundesrepublik Deutschland auch gegenüber ihren Nachbarn im Osten und gegenüber der Sowjetunion auf Verständigung und Ausgleich setzt und nicht allein auf militärische Stärke.
Dazu kam, dass ich, wie viele in meiner Klasse, das Misstrauensvotum gegen den 1969 gewählten Bundeskanzler als den Versuch gesehen habe, mit Hilfe von Überläufern im Parlament das Ergebnis der Bundestagswahl ins Gegenteil zu verkehren. Ich hatte das Gefühl, CDU/CSU wollten mit Hilfe von Verrätern zurück an die Macht, auf die sie ein angestammtes Recht zu haben glaubten.
Viele Beiträge in der aktuellen Diskussion über die deutsche Politik gegenüber Russland in den Regierungszeiten von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Bundeskanzlerin Angela Merkel erinnern mich an die Zeiten Anfang der siebziger Jahre. Damals haben die CDU und die in Bad Mergentheim und der ganzen Region überdurchschnittliche starke NPD, die 1968 mit knapp 10 Prozent in den Landtag von Baden-Württemberg eingezogen war, Hetzkampagnen gegen Willy Brandt und die SPD betrieben. Bei öffentlichen Veranstaltungen und in Leserbriefen wurden Sozialdemokraten als vaterlandslose Gesellen verleumdet, Brandt als Volksverräter beschimpft, und es gab Transparente, auf denen stand „Verzicht ist Verrat“ und „Brandt an die Wand“.
In der heutigen Diskussion über die deutsche Russland-Politik der vergangenen Jahrzehnte und den russischen Überfall auf die Ukraine erlebe ich wieder den Versuch, die SPD in Verruf zu bringen und ihr die moralische Integrität abzusprechen. Verleumdung, Verzerrung und Lügen treten an die Stelle differenzierter Auseinandersetzung und Kritik. Heuchelei und selektive Wahrnehmung haben Hochkonjunktur. Wenn über tatsächliche oder vermeintliche Fehler der deutschen und europäischen Politik gegenüber Russland in den vergangenen zwanzig Jahren gesprochen und geschrieben wird, haben zu viele jedes Mass verloren. Schuld an allem hat immer die SPD.
Das kommt zum Teil von den gleichen politischen Kräften und ihren medialen Antreibern und Lautsprechern, die Anfang der 70er Jahre die Politik des Ausgleichs und der Verständigung von Willy Brandt mit allen Mitteln bekämpft haben. Wir erleben eine gefährliche „Moralisierung“ der Politik, die Moral als Schlaginstrument zur Bekämpfung des politischen Gegners missbraucht statt sie als Orientierung für praktische Politik zu verstehen. Starke Gesinnung und der Eindruck, die Moral für sich gepachtet zu haben, treten an die Stelle von verantwortlichem Handeln. Abwägen und die Konsequenzen des eigenen Handelns für alle Beteiligten und Betroffenen zu bedenken, wird als moralisch hingestellt. Genau das ist aber Aufgabe verantwortlicher Politik. Ohne Moral kann es keine verantwortliche Politik geben, aber Moral ist kein Ersatz für verantwortliche Politik.