Der 27. April 1972, der Tag des gescheiterten Misstrauensvotums gegen Bundeskanzler Willy Brandt war gleichzeitig ein äußerst knappes Votum für die Fortsetzung der damaligen Entspannungspolitik. Die Einleitung dieser neuen Ostpolitik hatte für mich eine lange Vorgeschichte.
Obwohl Egon Bahr schon am 15. Juli 1963 in seiner Rede in der Evangelischen Akademie in Tutzing unter dem Titel „Wandel durch Annäherung“ einen Strategiewechsel in der westdeutschen Deutschland- und Wiedervereinigungspolitk während des Kalten Krieges umrissen hat und obwohl Willy Brandt – damals noch Regierender Bürgermeister von Westberlin, allerdings noch nicht Vorsitzender der Bundes-SPD – ihm Flankenschutz bot, hat es noch bis 1969 gedauert, bis eine neue Ostpolitik eingeleitet werden konnte.
Der Bau der Berliner Mauer als Anstoß für eine Politik der Entspannung
Vor allem der Bau der Berliner Mauer und das Nichteinschreiten der westlichen Besatzungsmächte, vor allem der USA, dagegen, brachten Brandt und Bahr zu der Einsicht, dass Block-Konfrontation nicht weiterhilft, sondern dass, wenn schon die Mauer nicht aus der Welt zu schaffen sei, darüber reden müsse, wie sie ein Stück weit durchlässiger gemacht werden könne. Brandt erklärte damals auf einem Landesparteitag der Berliner SPD, es gehe um die “Wiedervereinigung der deutschen Menschen, wo sie heute leben”. Brandt hielt zu dieser Zeit auch Vorlesungen an der Harvard-Universität über die „Koexistenz zwischen Ost und West“.
Dennoch waren politische Vorstöße zu einem Strategiewechsel in der deutsch-deutschen Frage oder für eine Entspannungspolitik auch innerhalb der vom Vorsitzenden Erich Ollenhauer administrierten westdeutschen SPD noch Tabu. Vor allem durfte nicht laut darüber gesprochen werden. Denn die Stimmungslage in der Politik und den Medien Deutschlands war gerade aufgrund des Mauerbaus vergleichbar aufgewühlt, wie sie angesichts des militärischen Überfalls Putins auf die Ukraine gegenüber den zurückliegenden Jahrzehnten der Politik der friedlichen Verständigungsversuche mit Russland heute wieder ist. Angesichts der Schärfe der Angriffe auf politische Positionen und Politiker, die die Verständigungspolitik zwischen Ost und West oder eine Politik des „Wandels durch Handel“ verteidigen, kann man den Eindruck gewinnen, als wären 50 Jahre Frieden in Deutschland und Mitteleuropa, die diese Entspannungspolitik gesichert hat, nur eine Lebenslüge, ja als wäre es aus dem Gedächtnis getilgt, dass dieser Strategiewechsel in der deutschen Politik erst die Vereinigung Deutschlands mit ermöglicht hat.
In den sechziger Jahren setzte die Mehrheitsmeinung in der Politik und in den Medien auf eine „Politik der Stärke“. Die Politik war beherrscht von der Auffassung, dass Änderungen in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) nur durch (auch militärischen) Druck auf das verhasste Regime in der Sowjetunion und dessen internationaler Isolierung denkbar seien. Parallelen zum heutigen politischen und medialen Mainstream sind unverkennbar.
Konflikte des Sozialdemokratischen Hochschulbunds mit der SPD über die Ostpolitik
Ich war Ende 1964 in die Gruppe des Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB) an der Freien Universität in Berlin eingetreten. Der SHB hatte in diesem Jahr auf einer Delegiertenversammlung gefordert „im Rahmen einer Gesamtkonzeption der Entspannung als Weg zu einer erfolgreichen Deutschlandpolitik einen Auszug aus einem Friedensvertragsentwurf vorzulegen, der eine Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze vorsieht.“ (Alle folgenden Zitate aus „SHB, Beschlüsse und Stellungnahmen“, herausgegeben vom Bundesvorstand des SHB, als Manuskript gedruckt 1966, S. 18f.)
Für die damalige SPD-Führung war das eine Provokation und Unbotmäßigkeit des sich „sozialdemokratisch“ nennenden Studentenverbandes sondergleichen.
1965 – da war ich in Bonn Bundesgeschäftsführer und danach im Bundesvorstand des SPD-nahen Studentenverbandes – gab es neuen Ärger mit der „Mutterpartei“: Die 6. Bundesdelegiertenversammlung in Marburg forderte den Verzicht auf die „Hallstein Doktrin“. Diese außenpolitische Doktrin bestimmte, dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR durch Drittstaaten als „unfreundlicher Akt“ gegenüber der BRD betrachtet und mit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen gedroht wurde. Zusätzlichen Ärger mit der SPD brachte dem SHB ein Memorandum ein, in dem vorsichtig die „nationalstaatliche Zielsetzung“ der Bonner Wiedervereinigungspolitik und der Alleinvertretungsanspruch der BRD in Frage gestellt wurden.
Dieser politischen Ausrichtung entsprechend, hielt der SHB „verstärkte Kontakte zu Osteuropa (einschließlich der UdSSR und der DDR) für notwendig“ und fordert von der SPD die Aufhebung der damals für Parteimitglieder geltenden „Richtlinien für Ostkontakte“. Nach diesen Richtlinien drohte die SPD mit Parteiausschluss, wenn offizielle Kontakte zu kommunistischen Organisationen im Osten aufgenommen wurden. Im April 1966 habe ich an einem aus diesem Grund ausdrücklich „informell“ bezeichneten Gespräch mit Mitgliedern des Zentralrates der FDJ teilgenommen, in dem über gemeinsame Seminare zwischen SHB und FDJ gesprochen wurde. Alfred Nau, damals Schatzmeister der SPD, drohte mir in einem Schreiben bei einem weiteren Verstoß gegen Parteibeschlüsse den Ausschluss aus der Partei an.
Diese Konflikte mit der Partei brachten mir und anderen Vorstandsmitgliedern auch eine „Einbestellung“ beim stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD, Herbert Wehner, ein. Das war eine denkwürdige Begegnung. Wir kamen in der Bonner „Baracke“ – wie der Sitz der SPD genannt wurde – ins Büro von „Onkel Herbert“, er saß mit der obligatorischen Pfeife im Mund am Schreibtisch über Akten. Er schaute nicht auf. Plötzlich fing er an, uns anzubrüllen, etwa nach dem Motto, was wir Rotzlöffel, die wir noch grün hinter den Ohren seien, uns eigentlich einbildeten usw. usf. Er brüllte vielleicht fünf Minuten und warf uns dann aus dem Raum, ohne dass wir auch nur ein Wort sagen konnten. https://peaceful-spence.217-160-25-183.plesk.page/50-jahre-danach-erfahrungen-in-und-mit-der-68er-bewegung-teil-3/
Aus der „Politik der Stärke“ wurde mir der sozial-liberalen Koalition die Politik des „Wandels durch Annäherung“.
Auch der Eintritt der SPD 1966 in die Große Koalition mit Kurt Georg Kiesinger als Kanzler und Willy Brandt als Außenminister führte nicht zu einem Strategiewechsel in der Deutschland- und Ostpolitik. Kiesinger und seine CDU fingen alle Impulse die von Brandt in diese Richtung ausgingen, wieder ein. Erst 1969 mit dem Einzug Willy Brandts und Egon Bahrs ins Kanzleramt und in Übereinstimmung vor allem mit Walter Scheel von der FDP als damaligem Außenminister hieß es in der Regierungserklärung: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden – nach innen und nach außen.“ Es hat also Jahre gedauert bis aus einer „Politik der Stärke“ eine Politik des „Wandels durch Annäherung“ wurde.
Der heftig geführte Kampf der CDU und der CSU, dort an vorderster Stelle die wütenden Angriffe von Franz Josef Strauß, gegen die Neuausrichtung der deutschen Ostpolitik ist vielfach beschrieben. Auch in den Medien spiegelte sich die heftige Auseinandersetzung wider – es gab damals anders als heute zwei Lager. Durch die Bevölkerung ging geradezu ein Riss. Die parlamentarische Mehrheit der seit 1969 regierenden sozial-liberalen Koalition war fragil. Mehrere Abgeordnete von FDP und SPD traten im Kampf gegen die Ostverträge zur Union über. Die parlamentarische Auseinandersetzung spitzte sich immer mehr zu.
Oppositionsführer Rainer Barzel – der ohne Punkt und Komma reden konnte und dem Kritiker wegen seines Redestils nachsagten, er brauche „alle tausend Worte einen Ölwechsel“ – wollte mit einem Antrag vom 24. April 1972 auf ein konstruktives Misstrauensvotum den Sturz von Kanzler Willy Brandt als Bundeskanzler. Er versuchte das nicht mit einem Frontalangriff auf die Ostverträge, sondern, um möglichst viele Abgeordnete auf seine Seite zu ziehen, mit einem „So nicht“ zu den Ostverträgen. Am 27. April fand die Debatte und die Abstimmung über die Kanzlerschaft statt.
Zu dieser Zeit mischte ich nicht mehr aktiv in der Studentenpolitik mit, ich stand in der Endphase meiner Promotion. Dennoch war ich aufgewühlt und hatte geradezu Angst, dass nahezu zehn Jahre des politischen Kampfes für eine Abkehr von der „Kalte-Kriegs-Politik“ über Nacht rückgängig gemacht werden könnten.
Damals hatte ich noch keinen eigenen Fernseher, ich verfolgte die Debatte im Deutschen Bundestag mit Freunden bei den Eltern eines Kommilitonen. Als das Ergebnis bekannt gegeben wurde, dass das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt gescheitert war, lagen wir uns in den Armen. Wir rannten nach draußen, wo Autos hupend durch die Straße fuhren, gerade so als sei der 1. FC Köln Deutscher Meister im Fußball geworden. Wildfremde Menschen umarmten sich und jubelten vor Freude. Verlierer trauten sich wohl nicht ihrem Ärger auf der Straße Luft zu machen.
Ein halbes Jahr später, bei der vorgezogenen Bundestagswahl 1972, fand auch die Abstimmung an der Wahlurne statt. Die SPD erzielte ihr historisch bestes Wahlergebnis mit 45,8 Prozent der Stimmen und lag knapp ein Prozent vor der sieggewohnten CDU/CSU und auch die FDP erzielte ein Plus von 2,6 Prozent und kam auf 8,4 Prozent.
Es droht eine neuerliche Kehrwende in der Sicherheitspolitik
Exakt 50 Jahre nach dem Misstrauensvotum vom 27. April 1972 spitzt sich die politische Entscheidungslage erneut zu. Mit dem Beschluss im Deutschen Bundestag „schwere Waffen“ in die Ukraine zu liefern, steht eine neuerliche Kehrtwende in der Außen- und Sicherheitspolitik ins „hohe Haus“.
Geschichte wiederholt sich zwar nicht, zu unterschiedlich sind die inzwischen eingetretenen Verhältnisse, aber das Eintreten für eine neue Entspannungspolitik, für eine weltweite Abrüstung, für das Ziel einer europäischen oder gar globalen Sicherheitsarchitektur wird aufgrund des Angriffskrieges Russland mehrheitlich als gescheitert erklärt, ja teilweise sogar als Unterstützung für Putins Kriegsverbrechen ausgelegt. Die Stimmungslage in den Medien und in weiten Teilen der Politik seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 scheint in eine neue Haltung des Denkens wieder in militärischen Blöcken und der weltweiten Konfrontation gekippt zu sein, ein neues Leitbild, in dem Aufrüstung politisch und medial als Friedenssicherung dargestellt und in dem die Risiken einer Ausweitung des Krieges bis hin zu einer atomaren Katastrophe für ganz Europa einschließlich Russlands in den Talk-Shows bagatellisiert werden. Viele der Angriffe auf den vorsichtigen Umgang von Kanzler Olaf Scholz mit Waffenlieferungen an die Ukraine und der Vermeidung einer kriegerischen Konfrontation zwischen „dem Westen“ und Russland erinnern mich an die damaligen Attacken gegen den damaligen Kanzler Willy Brandt und dessen Entspannungspolitik. Und wieder einmal geht es um die Diskreditierung der Sozialdemokraten, auch wenn in den letzten vier Dekaden 33 Jahre die CDU den Kanzler und die Kanzlerin gestellt und das Verteidigungsministerium besetzt hatte. Die Stimmen dafür, dass Sicherheit etwas ist, das wir gemeinsam schaffen müssen, für ein Konzept der gemeinsamen Sicherheit und für Diplomatie scheinen kaum noch wahrgenommen zu werden. Diejenigen, die sich für eine Deeskalation einsetzen und die für die Suche nach Wegen zu einer friedlichen Lösung eintreten, scheint der Mut verlassen zu haben. Eine „Unabhängige Kommission für Abrüstungs- und Sicherheitsfragen“ wie sie 1982 von Olof Palme eingerichtet wurde, scheint genausoweit von der politischen Wirklichkeit entfernt zu sein, wie damals die Tutzinger Rede von Egon Bahr über den „Wandel durch Annäherung“ von der erst Jahre später auf den Weg gebrachten neuen Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition.
Ich finde es recht schief, die aktuelle Lage von Scholz mit Willi Brandts Ostpolitik zu vergleichen. Brandt war leidenschaftlich, integer, glaubwürdig und hat mit sehr klarer, offener Kommunikation für eine Vision gekämpft. Scholz ist weitgehend unsichtbar, von Wirecard bis Cum-Ex gleich mehrfach beschädigt, hat keine erkennbare Vision und kommuniziert so gut wie gar nicht. Auch wenn ich seine vorsichtigen Versuche, nicht ungebremst weiter zu eskalieren, nicht verkehrt finde – wer Scholz mit Brandt vergleicht, verzwergt Brandt (und die Sozialdemokratie von damals – wobei das wiederum passt, weil jene von heute nur noch eine karrikierte Taschenbuchausgabe davon ist).