Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat es wieder geschafft. Der konservative Islamist hat sich bei der Präsidentenwahl am Sonntag gegen seinen sozialdemokratisch orientierten Gegenkandidaten Kemal Kilicdaroglu mit gut vier Prozentpunkten Vorsprung durchgesetzt. Wieder einmal hat ein Despot gesiegt, wieder einmal hat die Linke versagt. Dieses erschreckende Muster ist nicht nur in der Türkei zu erkennen, es gilt in vielen Ländern des Westens.
Erdogan ist nun seit 20 Jahren an der Macht – und wird für mindestens fünf weitere Jahre am Bosporus herrschen. Wie kann es sein, dass dieser Mann allen Prognosen der vergangenen Monate zum Trotz wiedergewählt wurde? Dieser Mann, der im Land eine Hyperinflation und eine Wirtschaftskrise zu verantworten hat, der vor und nach dem verheerenden Erdbeben im Winter kläglich versagte, der mit unbarmherziger Härte gegen intellektuelle Gegner vorgeht, der unliebsame Journalisten ins Gefängnis werfen lässt, der Frauenrechte mit Füßen tritt.
Oft macht man es sich im Westen – gerade auch in Deutschland – viel zu leicht mit den Erklärungen zur Lage am Bosporus. Viele halten „die Türken“ schlicht nicht für demokratie-fähig, wie man auch „dem Russen“ gerne diese Eigenschaft abspricht. In dieser westlich-arroganten Haltung drück sich neben Unwissen durchaus auch Rassismus aus.
Freie, nicht faire Wahlen
Zuerst einmal können dem Beobachter vor Ort nun all die Menschen Leid tun, die gegen den Despoten gestimmt haben – es waren immerhin fast die Hälfte der Wähler. Das ist dann doch ein beachtliches Ergebnis angesichts der Macht Erdogans, dessen mächtige Unterstützer die Massenmedien beherrschen und dessen gesamter Staatsapparat den Wahlkampf managte. „Frei“ mögen die Wahlen gewesen sein – die Wahlbeobachter haben bislang keine nennenswerten Fälschungen festgestellt – „fair“ aber waren die Wahlen angesichts des Machtgefälles zwischen Präsident und Opposition auf keinen Fall.
Beobachter rechnen als Folge des erneuten Erdogan-Siegs mit einem weiteren Exodus junger gebildeter Türkinnen und Türken nach Westeuropa und in die USA, mit einer Auswanderung junger Menschen, die nicht mehr an einen Wandel im Land glauben und die nun eine noch restriktivere Politik fürchten.
Doch angesichts der katastrophalen Erdogan-Bilanz der vergangenen Jahre und Monate (Inflation, Korruption, Versagen beim Erdbeben) stellt sich doch die Frage: Warum hat das Volk diesen Mann nicht mit Wut aus dem Amt gejagt? Noch war das bei diesen Wahlen möglich. Bei einem Ergebnis von 55 oder gar 60 Prozent für die Opposition hätte sich der Machthaber am Bosporus nicht halten können.
Doch Erdogan hat nach wie vor eine riesige und teils fanatische Anhängerschaft in der Türkei – und mehr noch bei den Türken in Deutschland. Einer der Hauptgründe: Parallel zu den ökonomisch erfolgreichen 2000er Jahren, die ihm auch den Respekt und das Wohlwollen des Westens einbrachten, hat Erdogan auch einen Kulturkampf gestartet. Er hat den Islam ins Zentrum seiner Propaganda gerückt, er hat sich gegen die links-intellektuellen Eliten des Landes gestellt und er hat aggressiven Nationalismus propagiert. Nie in der nun 100jährigen Geschichte der türkischen Republik war diese Mischung so toxisch wie jetzt, nie ist das Land Atatürks so weit nach rechts gerückt.
Und spätestens jetzt müsste vielen Menschen im Westen ein Licht aufgehen: Am Bosporus kann man ein politisches Muster erkennen, das längst auch in der „westlichen Wertegemeinschaft“ zu erkennen ist. Vielleicht am deutlichsten im Trump-geprägten Amerika. An Fakten vorbei betreibt Ex-Präsident Donald Trump seine Propaganda, posaunt „America first“ und polemisiert gegen das links-liberale Establishment. Er verbreitet permanent „Fake News“, offensichtliche Falschnachrichten – seine Anhänger glauben sie wider besseres Wissen.
Mit der Erklärung „auch die Amerikaner sind halt dämlich“, mag man sich in Europa trösten. Doch was ist mit Italiens Ministerpräsidentin, der Post-Faschistin Giorgia Meloni, dem ungarischen Despoten Viktor Orban, dem rechtspopulistischen polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki oder der Rechtsextremistin Marine Le Pen in Frankreich? Diese Liste ließe sich verlängern. Auch um die Erfolge der rechtsradikalen AfD vor allem in Ostdeutschland, wo sie zur stärksten politischen Kraft heranwächst.
Sorgen der kleinen Leute
So unterschiedlich die Erklärungen für die Erfolge der Rechtspopulisten im Detail sein mögen, es zeigt sich ein übergeordneter Ansatz, der bislang viel zu wenig thematisiert wird: Es sind vor allem die Stimmen der sogenannten „kleinen Leute“, die überall diese Populisten stützen. Und überall im Westen führen die Rechten erfolgreich Kampagnen gegen alles Linke, Liberale und Intellektuelle.
Das Erstarken der Rechten – vom Bosporus bis Washington – liegt auch im eklatanten Versagen der Linken begründet. Sie hat sich seit langem von den „kleinen Leuten“ entfernt. Sie interessiert sich nicht für die Sorgen dieser Menschen, schlimmer noch: Sie verachtet deren Milieu, deren oft mangelnde Bildung, deren Wünsche und bescheidene Träume. Wer jemals die Herablassung und die Missachtung erlebt hat, mit der die angeblich links-liberale Elite am Bosporus die kleinen Leute behandelt, den Ober im Restaurant oder die Krankenschwester, der kann sich vorstellen, welche Ohnmacht und welcher Zorn sich bei diesen Menschen aufgestaut hat. Und wer bei der SPD etwa im Ruhrgebiet erlebt, dass sich diese lieber vehement für Gender-Sternchen engagiert als für Schüler in völlig vernachlässigten Stadtteilen, der muss konstatieren: Die Linke hat auf ihrem ureigenen Terrain völlig versagt.
Es ist ja nicht so, als ob sich die Erdogans, die Trumps oder die AfD tatsächlich für die Belange der kleinen Leute einsetzen. Doch sie betäuben deren Minderwertigkeitsgefühl mit nationalistischer Propaganda und dem Hass auf den politischen Gegner. Sie hetzen gegen Minderheiten – seien es Zuwanderer, Homosexuelle oder Feministinnen. So geben sie den Unterprivilegierten scheinbar deren Würde zurück. Wer nichts anderes hat, der klammert sich an seine angeblich überlegene Rasse, seine angeblich so stolze Nation, seinen Anführer, der ihn scheinbar so gut versteht. Und der die Minderwertigkeitskomplexe doch nur schamlos ausnutzt. Und wieder sei hier Erdogan als Beispiel genannt: Der Mann aus kleinen Verhältnissen spricht die einfachen Menschen an, gibt ihnen scheinbar deren Würde zurück – und die Herzen und die Stimmen dieser Menschen fliegen ihm zu. Für Millionen ist Erdogan ein „Held“. Was für ein Hohn – anders als die meisten seiner Anhänger lebt Erdogan längst im Luxus,
Was also tun? Was müssen die Lehren für die Linke sein aus all den Erfolgen der Rechten?
Schauen wir nach Deutschland, zum Beispiel wieder ins Ruhrgebiet: Wie konnte es die so lange regierende SPD dort zulassen, dass ganze Stadtteile im Elend versinken, dass etwa in Gelsenkirchen mehr als 40 Prozent der Kinder in Armut leben, dass sich Bildungsnotstand breitmacht wie ein Flächenbrand?
Die Mühen der Ebeneni
Wo bleibt der gesellschaftliche Aufschrei gegen diese Missstände? Ja, es ist verdammt schwer, sich gegen rechte Despoten zu stemmen und gegen die Propheten des Neoliberalismus, die solche Zustände zuerst herbeiführen und dann achselzuckend hinnehmen. Doch wer, wenn nicht die Linke, sollte sich um die Interessen der kleinen Leute kümmern – um die des Paketboten oder der Brotfachverkäuferin, die von ihrem Lohn nicht leben können. Um die Lehrerin in einer der unzähligen Problemschulen der Region, die einen verzweifelten Kampf gegen die Zustände führt, während viele Kolleginnen und Kollegen längst das Weite gesucht haben? Erst wenn die Linke wieder dorthin geht, wo es weh tut und wo es auch mal stinkt, wenn sie die Mühen der Ebene auf sich nimmt, hat sie langfristig wieder eine Chance, die Millionen „kleinen Leute“ um sich zu scharen, diese Leute, die sich heute längst von der Politik abgewandt haben oder die – noch schlimmer – rechtsradikal wählen. Schafft die Linke das nicht, setzt sie ihren Gang in die Bedeutungslosigkeit fort. Selbstverschuldet – und als leichte Beute der Populisten.
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“, hat Karl Marx geschrieben. Vielleicht ist das ja eines der Grundprobleme: Bei der heutigen Linken gelten Philosophen mehr als die Menschen, die tatsächlich verändern wollen.
Ein historischer Fehler – und ein Triumph für die Despoten. Überall auf der Welt. Am Bosporus wie in Gelsenkirchen.
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