Es gab Zeiten, da galt das deutsch-türkische Verhältnis beinahe als vorbildlich. Das scheint mit den immer schlimmer werdenden Auswüchsen des türkischen Staatspräsidenten Erdogan vorbei zu sein und niemand sieht im Moment die Chance, auf eine Besserung der Stimmung zwischen Ankara und Berlin zu hoffen. Eben weil der Autokrat Erdogan es nicht will, er zündelt und giftet gegen türkisch-stämmige Bundestagsabgeordnete, nennt sie charakterlos. Ausgangspunkt des jetzigen Krachs war die Resolution des Bundestags, den türkischen Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren als Völkermord zu bezeichnen. Und wer das tut, den bezeichnet Erdogan als Handlanger des Terrorismus.
Dabei sind es frei gewählte Abgeordnete des Bundestages, die Bundestagspräsident Norbert Lammert gestern gegen die infame Attacke Erdogans in Schutz nahm, er stellte sich vor sie und übernahm einen Part, den eigentlich die Kanzlerin hätte übernehmen müssen. „Dass ein demokratisch gewählter Staatspräsident im 21. Jahrhundert seine Kritik an demokratisch gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestags mit Zweifeln an deren türkischer Abstammung verbindet, ihr Blut als verdorben bezeichnet, hätte ich nicht für möglich gehalten.“ Der CDU-Politiker erhielt für die klaren Worte den Beifall des ganzen Hauses.
Özdemir soll Ehrenbürgerschaft von Pazar verlieren
Einer der wichtigen Initiatoren der Armenien-Resolution war der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir, der in letzter Zeit Morddrohungen von türkischen Nationalisten erhielt und der zur Zielscheibe Erdoganscher verbaler Ausfälle geworden ist. Jetzt hat die türkische Gemeinde Pazar, Geburtsort von Özdemirs Vater, beschlossen, dem Grünen-Politiker die Ehrenbürgerschaft zu entziehen.
Ja, auch Angela Merkel, die Kanzlerin, hatte leicht applaudiert, als Lammert gesprochen hatte. Zugegeben, es ist ungewöhnlich, wenn Beifall von der Regierungsbank kommt. Aber in diesem Fall war es nötig, weil Merkel selber bisher viel zu zurückhaltend war und Erdogans Anwürfe als „nicht nachvollzielbar“ eingestuft hatte, sicherlich das ein wenig schwächlich.
Das alles geschieht, weil Erdogan glaubt, die Bundesregierung wegen der Flüchtlingskrise in der Hand zu haben, er glaubt, er könne Berlin erpressen, er fordert, der Bundestag müsse die Resolution zurücknehmen. Das, Herr Erdogan, können Sie vergessen. Das Parlament wird vor dem Türkei—Präsidenten nicht niederknien. Das Tischtuch scheint zerrissen. Die Türkei hat ihren Botschafter aus Berlin abgezogen, der deutsche Vertreter in Ankara wird die Zahl der Einbestellungen kaum noch zählen. Partner? Weil Berlin und Ankara in der Nato sind? Weil der Flüchtlingsdeal halten soll? Die Visa-Erleichterungen wird es auf diese Weise nicht geben. Demokratie, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Erdogan scheint das alles nicht zu interessieren.
Bundestag räumte Mitschuld der Deutschen ein
Dabei hat der Bundestag mit der Armenien-Resolution zugleich auch eine Mitschuld der Deutschen eingeräumt, weil das Deutsche Reich die Türken als Verbündete gewähren ließ. Es wäre eine Chance für Erdogan gewesen, endlich dieses Thema anzupacken und es zu nennen, was es war: Völkermord, 1,5 Millionen Armenier wurden von den Türken umgebracht.
Erdogan keilt wütend zurück, macht den Deutschen Vorwürfe, sie hätten ihre eigene Geschichte nicht aufgearbeitet, nennt als Beispiel den Mord an den Hereros und Nama. Auch wenn hierzu ein Beschluss des Bundestages leider fehlt, Bundesaußenminister Frank Walter Steinmeier hat im Sommer letzten Jahres alles dazu gesagt, was deutsche Politik und Linie ist, nämlich: „Es war Völkermord.“
Zu erinnern sei auch an den Besuch der damaligen Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, die bei den Gedenkfeierlichkeiten der Herero-Aufstände am 14. August 2004 in Okarara eine Rede hielt, in der sie die Menschen in Südwestafrika um Vergebung bat. Wörtlich erklärte die SPD-Ministerin im Auftrag der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages: „Es gilt für mich an diesem Tage die Gewalttaten der deutschen Kolonialmacht in Erinnerung zu rufen, die sie an Ihren Vorfahren beging, insbesondere gegenüber den Herero und den Nama. Ich bin mir der Gräueltaten schmerzlich bewusst. Die deutschen Kolonialherren hatten Ende des 19.Jahrhunderts die Bevölkerung von ihrem Land vertrieben. Als sich die Herero dagegen wehrten, führten die Truppen des Generals von Trotha gegen sie und die Nama einen Vernichtungskrieg. In seinem berüchtigten Schießbefehl hatte General von Trotha befohlen, jeden Herero zu erschießen- auch Frauen und Kinder nicht zu schonen.“
Ministerin Wieczorek-Zeul bat Herero und Nama um Vergebung
Die Überlebenden der Schlacht am Waterberg 1904 wurden in die Wüste getrieben, wo ihnen der Zugang zu Wasserstellen verwehrt wurde, sie verhungerten und verdursteten. „Wir würdigen die mutigen Männer und Frauen der Herero und Nama, die gekämpft und gelitten haben.. Ich gedenke mit Hochachtung Ihrer Vorfahren, die im Kampf gegen ihre deutschen Unterdrücker gestorben sind.“ Wieczorek-Zeul erinnerte daran, dass es bereits 1904 einen deutschen Politiker ihrer Partei, der SPD, nämlich August Bebel, gegeben habe, der den Unterdrückungskrieg scharf kritisiert und den Aufstand als gerechten Befreiungskampf gewürdigt habe. „Die damaligen Gräueltaten“, so die Ministerin weiter, „waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde, für den General von Trotha vor Gericht gebracht und verurteilt würde. Wir Deutschen bekennen uns zu unserer Schuld. Ich bitte Sie im Sinne des gemeinsamen Vater unser um Vergebung unserer Schuld.“
Willy Brandts Kniefall im Ghetto von Warschau
Es kann also keine Rede davon sein, dass Deutschland oder deutsche Politiker sich ihrer historischen Verantwortung in Südwestafrika nicht stellen würden. Auch seine Kritik wegen des deutschen Umgangs mit dem Holocaust läuft ins Leere. Richtig ist, dass die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg lange gebraucht hat, bis sie die Verbrechen an den Juden und überhaupt die Verbrechen der Nazi-Zeit zu ihrem Thema machte. Aber namhafte Politiker haben sich zur Schuld der Deutschen mehrfach bekannt. Man denke an den Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt 1970 vor dem Denkmal des jüdischen Ghettos in Warschau, ausgerechnet Brandt, der nie Nazi war, der vor den Nazis ins Ausland floh, nahm die Schuld auf sich.
Schmidt, Herzog, Köhler, Kohl waren in Auschwitz
Helmut Schmidt, der Bundeskanzler, hat das KZ Auschwitz besucht, auch Roman Herzog, der Bundespräsident verneigte sich vor den toten Juden aus ganz Europa, Horst Köhler tat es ihm nach. Helmut Kohl war als Kanzler dort, NRW-Ministerpräsident Johannes Rau, der spätere Bundespräsident, war mehrere Dutzend Male in Israel, er durfte als erster Deutscher in der Knesset eine Rede in deutscher Sprache halten. Nein, Herr Erdogan, die deutsche Politik hat die Schuld gegenüber den Juden und anderen Opfern der Nazi-Herrschaft nicht geleugnet. Man könnte noch die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäckers als Beispiel erwähnen. Das war am 8. Mai 1985, 40 Jahre nach dem Kriegsende. Weizsäcker sprach damals von der Befreiung der Deutschen durch die Alliierten, er kritisierte das Wegschauen deutscher Bürger, wenn Juden abgeholt und ins Konzentrationslager verschleppt wurden.
Auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat die Entgleisungen Erdogans zurückgewiesen. Die regierungstreue türkische Presse peitscht derweil die Stimmung im Land auf, wilde Verschwörungstheorien machen die Runde. Für den Anschlag in Istanbul mit elf Toten machte die türkische Zeitung „Günes“ Deutschland verantwortlich und bezeichnete sie als „Deutsches Werk.“
Ob unter diesen Angriffen die gemeinsamen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen leiden werden, wird man sehen. Schon jetzt ist die Zahl der Türkei-Touristen zurückgegangen, und sie dürfte weiter sinken, wenn Erdogan weiter seine Freunde in Deutschland aufhetzt. Verschwörungstheorien sind aus der Luft gegriffen. Wer die Bundesrepublik als Zentrum des Bösen hinstellt, lebt in einer anderen Welt und ist an guten Beziehungen kaum mehr interessiert.
Politik des absoluten Tabubruchs
Eine Politik des absoluten Tabubruchs, wie sie EU-Parlamentspräsident Martin Schulz richtig beurteilt hat, wird Ankara nicht näher an die EU führen, sie vertieft die Gräben, die ohnehin schon das Ausmaß eines Meeres angenommen haben. Erdogan mag den Beifall auch von einigen Türken in Deutschland bekommen, es ist der Beifall von der falschen Seite. Es sind Claqueure, Opportunisten, nicht mehr. Dass der Verband der türkischen Gemeinden in Deutschland sowie der Türkische Bund Berlin/Brandenburg sich von den Angriffen Erdogans distanziert haben, ist ein Hoffnungsschimmer auf bessere Zeiten nach Erdogan.