Sigmar Gabriels Chancen bei der Bundestagswahl sind gering, seine SPD liegt in Umfragen seit Jahr und Tag bei rund 22 Prozent, die Kanzlerin Angela Merkel, zugleich CDU-Chefin, scheint im Rennen um die Macht in Berlin übermächtig, privat gibt es manche Bedenken gegen eine Kanzlerkandidatur für den SPD-Vorsitzenden, weil seine Frau Anke im März das zweite Kind, erneut eine Tochter, erwartet und sie den Wohnort Goslar nicht verlassen, sondern Zahnärztin bleiben will, also im Zweifel Gabriel das alles allein stemmen und Deutschland auf eine Kanzlergattin in Berlin verzichten müsse. Und trotz allem zieht Reinhold Beckmann in seinem ARD-Film über den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel das Fazit: Er wird es wohl machen.
Man könnte die Einwände noch erweitern. Der SPD-Chef Gabriel weiß in seinem Kampf selbst seine eigene Partei nicht geschlossen hinter sich. Bei der letzten Wahl zum Vorsitzenden der ältesten Partei Europas folgten im nur etwas über 74 Prozent der Genossen. Ein Ergebnis, bei dem man schon entnervt die Brocken hinschmeißen kann. Gedacht hat er daran, wie er einräumt, aber einer wie er gibt nicht so leicht auf. Das hat er von einem seiner Amtsvorgänger, Hans-Jochen Vogel, gelernt, der ihm einst einen Zettel übergab, den Vogel, der Pflichtbesessene, von Herbert Wehner, dem Fraktionschef der SPD in den 70er Jahren, auf dem stand: Nicht aufgeben, weitermachen. Von Wehner stammt das mit dem Kärrner, der den Karren zieht, solange es der Karren, gemeint die Partei, wollte.
Optionen nicht gerade rosig
Weitermachen, obwohl die Option für Gabriel nicht gerade rosig ist. Mit den Grünen allein reicht es 2017 nicht, also müsste er ein Dreier-Bündnis anstreben- mit der Linken. Rot-Rot-Grün. Selbst wenn es rechnerisch reichen würde, wäre es mindestens schwierig, mit der Linken um Frau Wagenknecht-im Hintergrund zieht Oskar Lafontaine gegen die SPD die Fäden- ein verlässliches Bündnis zu schließen. Gabriel spricht von den Spinnern in den Reihen der Linken. Wenn er da nicht noch untertreibt! Ganz zu schweigen, dass Gabriel selber weiß, dass die Hälfte der Grünen längst auf dem Schwarz-Grünen-Kurs ist, mit Angela Merkel.
Nicht aufgeben, weitermachen. Das ist es. Gabriel ist mit Anke das zweite Mal verheiratet, man sei glücklich, hat er vor kurzem einem Magazin gestanden, die Familie bedeutet ihm viel. Anke Gabriel, die Zahnärztin, hält ihn, trotz des Bleibens in Goslar, nicht von seinem Ziel Berlin ab. Steh zu deiner Verantwortung! Hat sie ihm gesagt.
Schulz, Rivale und Freund
Der Fernseh-Reporter Beckmann hat Gabriel Monat für Monat begleitet, ist ihm quer durch die Republik gefolgt, er lässt Freunde und Wegbegleiter wie Gerhard Schröder und Franz Müntefering, aber auch Martin Schulz, zu Wort kommen. Schulz, eigentlich Rivale um das Amt des Kanzlerkandidaten, würde selber nur antreten, wenn Gabriel verzichtet, Schulz bezeichnet sich als Freund des Parteichefs. Freunde in der Politik? Gibt es das? Fragt Beckmann. Es war im Jahr 2003, als Sigmar Gabriel gerade eine krachende Niederlage bei der Landtagswahl in Niedersachsen gegen den CDU-Herausforderer Christian Wulff erlitten hatte. Parteifreunde rieten ihm, nach Brüssel zu wechseln, Gabriel lehnte ab mit der Begründung, dort sei schon Martin Schulz. Der hat ihm das nicht vergessen.
In der Parteizentrale in Berlin zeigt Beckmann den SPD-Politiker neben dem übergroßen Willy Brandt, der Bronzeskulptur, die das Foyer des Hauses einnimmt, eine facettenreiche Plastik des SPD-Übervaters, an dem jeder SPD-Politiker, der was werden will, gemessen wird. Eine Jahrhundert-Figur, wie Gabriel einräumt, die es eben nicht alle Tage gibt. Und doch steht er daneben, der Beobachter misst mit den bloßen Augen.
Erfolge: Ceta, Steinmeier, Kaisers
Er hat gegen große Widerstände das Freihandelsabkommen der EU mit Kanada, CETA genannt, innerhalb der SPD durchgesetzt, das war ein hartes Stück Führungsarbeit, für die ihn Martin Schulz lobt, seine Qualität, die Partei durch eine solche Klippe zu leiten. Das Thema hätte die SPD bald wieder mal gespalten, nach der Agenda 2010 von Gerhard Schröder, die die Partei schier auseinanderriss. Gabriel hat hier korrigiert, der Mindestlohn steht dafür. Er hat, mit vollem Risiko, Frank-Walter Steinmeier als Kandidaten der Großen Koalition für das Amt des Bundespräsidenten durchgesetzt, wenn man so will gegen die mächtige Kanzlerin. Steinmeier dürfte der dritte SPD-Politiker nach Gustav Heinemann und Johannes Rau auf dem Stuhl des deutschen Staatsoberhauptes werden. Eine Meisterleistung, wie Steinmeier, der Außenminister die Arbeit des Parteichefs lobt. Und nicht zu vergessen der Deal mit Kaisers-Tengelmann, Edeka, Rewe. Was hat sich Sigmar Gabriel von den selbsternannten Hütern der Marktwirtschaft in den Medien und anderswo anhören müssen! Der SPD-Chef hat getan, was eben ein Sozialdemokrat tun musste, wie er selber betonte: Er kämpfte für die Rettung von Tausenden von Arbeitsplätzen und zwar für Jahre. Wenn nicht alles täuscht, hat er sich auch hier durchgesetzt und den vielen Verkäuferinnen in Deutschland ein paar schlaflose Nächte genommen, noch besser: Sie können in Ruhe Weihnachten feiern.
Widerstände verschwinden nicht
Und doch wollen die Widerstände gegen ihn nicht verschwinden. Es sind ja nicht nur die Jusos im Odenwald, die ihn stürzen wollen. Oder die Juso-Chefin, die beklagt, in der SPD werde viel gesagt, aber nicht getan, das war gemünzt auf den SPD-Vorsitzenden. Und der nimmt sie an und gibt ihr Recht, wenn sie den Eindruck hätte, dass er, Gabriel, anders rede als handele, dürfe sie ihn nicht wählen. Mut hat er, der Gabriel, er weicht dem Streit nicht aus. Aber reicht das? Die SPD müsse, so eine Kritik aus berufenem Mund, die Lebenswirklichkeit der Menschen aufnehmen und sie in ihrer Politik wiederspiegeln lassen, die Sorgen der Menschen in Essen-Karnap zum Beispiel, ein Arbeiterviertel mit allen denkbaren Sorgen in der Republik, eben auch mit jetzt schon vielen Ausländern und dann mit noch mehr Zuzug von Flüchtlingen. Die Rede ist von 70 Prozent Schulkindern mit Migrationshintergrund.
Mehr Solidarität in Europa gefragt
Gabriel hat diese Debatte längst aufgenommen, weil er die Stimmung gerochen hat, die Vorwürfe, man tue für die Einheimischen nichts und für die Flüchtlinge alles, wie damals bei den Banken, als der Staat Milliarden und Abermilliarden Euro in das Geldgewerbe steckte, um diese zu retten. Dabei hatten die sich das Elend selber angetan. Er hat den Kurs in der Flüchtlingspolitik geändert. Zwar bleibt er bei Merkels Aussage, Asylrecht kenne keine Obergrenze, aber klar sei auch, dass Deutschland nicht dauernd Hunderttausende aufnehmen könne. Wenn das reicht, zur Beruhigung der Gemüter der Sozialdemokraten, derer, die sich abgehängt, allein gelassen fühlen! Sigmar Gabriel fordert die Solidarität der übrigen Europäer, es dürfe nicht sein, dass die Länder, die dauernd Hilfe aus Brüssel bekämen, sich nun, da sie selbst etwas leisten und entsprechend einem Schlüssel Flüchtlinge aufnehmen müssten, sich nun in die Büsche schlügen.
Jeder SPD-Chef muss es wollen
Ob er ungeeignet sei als Kanzlerkandidat, fragt ihn Beckmann. „Nee“, kontert Gabriel. Als SPD-Chef müsse man es immer wollen, aber auch die nötige Distanz haben, um den antreten zu lassen, der die größeren Chancen habe. Und was die Zerrissenheit der SPD angeht, ihre mangelnde Kompromissfähigkeit und die Kritik der Linken in der Partei an der Politik des Wirtschaftsministers, zugleich Vorsitzender der SPD, könnte man an Willy Brandt erinnern. Als der Anfang in den 60er Jahren als Kanzlerkandidat gegen Konrad Adenauer antrat, bat er die Partei um Verständnis, etwa so: Wenn er Kanzler würde, könne er nicht das volle Parteiprogramm der SPD zu seiner Regierungspolitik machen, sondern er müsse eine Politik für alle machen, nicht nur für die SPD. Man frage Angela Merkel, der man vorwirft, sie habe in der Großen Koalition die Union sozialdemokratisiert.
Bildquelle: Wikipedia, Michael Thaidigsmann, CC BY-SA 4.0