Normalerweise bedeutet Armut im reichen Deutschland, sich vieles von dem nicht leisten zu können, was für die große Mehrheit der Bevölkerung selbstverständlich ist: mit Freunden in einem Restaurant essen und mal ins Kino oder ins Theater zu gehen. Seit der Covid-19-Pandemie, der Energie(preis)krise und der Inflation geht es in kommenden Winter aber teilweise eher um die inhumane Alternative: zu hungern oder zu frieren.
Am 3./4. September 2022 hat der Koalitionsausschuss von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP nach langem Ringen das dritte Entlastungspaket zum Schutz der Bevölkerung und der Wirtschaftsunternehmen vor einer finanziellen Überforderung durch Energiekrise und Inflation geschnürt. Es soll 65 Milliarden Euro kosten, wodurch sich ein beachtliches Gesamtvolumen von 95 Milliarden Euro ergibt, wie die Koalitionspartner stolz verkünden. Diese Summe relativiert sich jedoch, wenn man bedenkt, dass nach dem Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 praktisch über Nacht ein Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro zustande kam.
Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei den geplanten Entlastungsmaßnahmen der Ampel-Koalition weit auseinander: Da ist erneut viel von Solidarität, vom Zusammenstehen des Landes in der Energie(preis)krise und von Finanzhilfen für die aufgrund der Inflation überforderten Mitbürger/innen die Rede, man vernachlässigt aber einmal mehr die Armen und scheut vor radikalen, d.h. an die Wurzeln gehenden Problemlösungen zurück.
Das dritte Entlastungspaket der Ampel-Koalitionäre ist kein großer Wurf, sondern ein wegen ihrer offenbar stark divergierenden Positionen zusammengestoppelt wirkendes Sammelsurium aus sinnvollen und unsinnigen Maßnahmen. Zu den sinnvollen Maßnahmen des Pakets gehört die nachträgliche Berücksichtigung von Rentner(inne)n, Auszubildenden und Studierenden bei der Energiepreispauschale. Sie wird aber nicht – wie an Spitzenverdiener – im September, sondern erst im Dezember ausgezahlt und bringt die Empfänger vielleicht über den Monat, aber nicht über den Winter. Zu begrüßen sind auch die Verankerung einer Heizkostenkomponente im Wohngeld und die Ausweitung seines Empfängerkreises. Hier besteht das Hauptproblem in der hohen Dunkelziffer: Schon jetzt stellen viele Leistungsberechtige keinen Antrag, weil sie nicht wissen, dass es Wohngeld gibt und dass sie zu den potenziell Begünstigten gehören, weil sie den bürokratischen Aufwand fürchten, weil sie zu stolz sind oder sich schämen.
Positiv erscheint auf den ersten Blick auch die Anhebung der Regelbedarfe von Transferleistungsbezieher(inne)n, welche allerdings erst am 1. Januar 2023 erfolgt und mit „etwa 50 Euro“ pro Monat für Alleinstehende zum 1. Januar 2023 viel zu gering ausfällt – es müssten wenigstens 150 Euro mehr sein. Wenn das Bürgergeld die bestehende Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II und Sozialgeld) ablöst, wird Hartz IV nicht überwunden, sondern nur durch einen schöneren Namen ersetzt. Arme können sich das geplante Monatsticket für 49 oder 69 Euro nicht leisten, weil im Regelbedarf nur 40 Euro monatlich für Verkehr vorgesehen sind. Es ist beschämend, dass SPD, Bündnisgrüne und FDP für einen Nachfolger des 9-Euro-Monatstickets nicht mehr als 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen wollen.
Die unsozialste Maßnahme des Entlastungspakets III ist die (Rechts-)Verschiebung der Einkommensteuertarife. Damit will Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) die „kalte Progression“ abbauen. Hierbei handelt es sich insofern um einen Popanz, als suggeriert wird, der Staat beraube die Arbeitnehmer/innen durch seine progressive Besteuerung ihrer wohlverdienten Einkommenszuwächse. Dass der Staat jährlich höhere Steuereinnahmen braucht, weil er – genau wie seine Bürger/innen – mit Preissteigerungen fertigwerden muss, wird einfach ignoriert.
Wer als Single ein zu versteuerndes Jahreseinkommen von 60.000 Euro hat, spart nach den Koalitionsplänen rund 500 Euro, wer nur die Hälfte zu versteuern hat, gerade ein Drittel des genannten Betrages, und bei einem Niedriglöhner sind es bloß ein paar Euro. Wenn in diesem Zusammenhang von einer Unterstützung der „hart arbeitenden Mitte“ die Rede ist, fragt man sich unwillkürlich, ob ein Prokurist tatsächlich härter arbeitet als ein Paketbote.
Problematisch ist auch die finanzielle Schwächung der Sozialversicherung durch die Abgabenbefreiung von Prämien, die Unternehmen ihren Beschäftigten zahlen, und durch die Anhebung der Höchsteinkommensgrenze von Midijobs auf 2.000 Euro. Auch zahlreiche Vergünstigungen für Unternehmen fallen ins Auge – von einer Verlängerung der günstigeren Kurzarbeiterregelungen selbst für hochprofitable Konzerne über zinsgünstige KfW-Sonderkredite in Höhe von 100 Milliarden Euro bis zur Gasbeschaffungsumlage als Umverteilung von unten nach oben, die durch Senkung der Umsatzsteuer auf Gas noch verstärkt wird, weil Villenbesitzer so mehr sparen als Mieter von Kleinstwohnungen.
Oft wird vom Gießkannenprinzip gesprochen, wenn es um die Konstruktionslogik der Entlastungspakete geht: Breit streuende Einmalzahlungen wie die Energiepreispauschale für steuerpflichtige Erwerbstätige, Auszubildende, Studierende sowie Rentnerinnen und Rentner entsprechen tatsächlich diesem Muster. Besser wäre sicher eine massivere Unterstützung der Finanzschwachen als die Berücksichtigung fast sämtlicher Gesellschaftsmitglieder. Wie das Inflationsausgleichsgesetz zeigt, kommt beim dritten Entlastungspaket aber auch das Matthäus-Prinzip zum Tragen, heißt es doch im Evangelium des Matthäus: „Wer hat, dem wird gegeben.“
Nötig wäre ein stimmiges, in sich schlüssiges und geschlossenes Konzept auf der Grundlage des Robin-Hood-Prinzips: Man müsste durch Umverteilung von oben nach unten dafür sorgen, dass alle Menschen gut durch den Winter kommen, nicht frieren und auch nicht auf eine abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung verzichten müssen.
Darüber hinaus ist zu fragen, ob es Sinn macht, mit den künftigen Entlastungspaketen (IV, V, VI ff.) weitere soziale Löcher zu stopfen und wieder nur Trostpflaster an Einkommensschwache zu verteilen, ohne die Ursachen ihrer finanziellen Probleme zu beseitigen. Wirtschaftssanktionen, die den Armen im eigenen Land mehr schaden als den Reichen in Russland, gehören auf den Prüfstand. Unternehmen, die hieran gut verdienen, sollten mit einer Übergewinnsteuer belegt werden.
Wie lange will die Bundesregierung dem spekulativen Treiben auf den Energiemärkten noch tatenlos zusehen? Ob ihr „Strompreisdeckel“ je kommt, ist fraglich. Zuerst will man auf entsprechende Beschlüsse der Europäischen Union warten, bevor die „Zufallsgewinne“ der Stromerzeuger auf nationaler Ebene „teilweise“ abgeschöpft werden sollen. Eine allgemeine Übergewinnsteuer, die auch die überbordenden Profite auf den übrigen Märkten treffen würde, hat die FDP verhindert.
Dass die Ampel-Koalition zur Klärung, ob private Haushalte angesichts der explodierenden Gaspreise ein subventioniertes Grundkontingent erhalten sollten, eine Expertenkommission mit Vertreter(inne)n aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gewerkschaften und Verbraucherschutz einsetzen will, kann man getrost als Beerdigung 1. Klasse für diesen Vorschlag werten.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ veröffentlicht.
Rentner/innen, die ein gutes Auskommen haben, nicht frieren oder hungern müssen, sollten die zugesagten 300 € an wirklich Bedürftige weitergeben. Auch Studierende, die vom Elternhaus großzügig versorgt sind.
Ich bin bereit dazu, aber es ist doch die Aufgabe unserer Politiker, Unterstützungen gerecht zu verteilen.
Und die grundlegende Ungerechtigkeit der Verteilung ist damit auch nicht gelöst.