1. Historischer Hintergrund: Interessenkonflikte um die Leitungsführung des Gastransports von Russland nach Mittel-Europa
Der Transit von Erdgas aus den westsibirischen Quellen Russlands nach Europa, insbesondere nach Deutschland, hat in den letzten zehn Jahren erneut eine zentrale politische Rolle erlangt. Das Transitsystem über mehrere tausend Kilometer war aus sowjetischer Zeit überkommen, der Bau hatte mit den deutsch-sowjetischen Verträgen im Jahre 1970 begonnen, in denen, währungsfrei, Röhren gegen spätere Gaslieferungen getauscht wurden. Schon damals opponierten die USA, sie präferierten aus sicherheitspolitischen Motiven eine Versorgung Europas aus dem kaspischen Raum.
Der Transit des westsibirischen Gases geht überwiegend durch die Ukraine. Wir sprechen zwar von einem „Durchleitungssystem“, UGTS, doch in Wahrheit gibt es keine getrennten Großpipelines auf ukrainischem Gebiet, die für den Transit reserviert wären. Das UGTS ist ein komplexes, weil gewachsenes System, welches auch die Binnenversorgung der Ukraine leistet – der Transit bestimmte die Druckrichtung. Nach 1990 war es, mit Ausnahme der Urengoy-Leitung aus den 1980er Jahren, veraltet und außerdem ein Monopolsystem. Entsprechend hoch war die Verführung für den ukrainischen UGTS-Betreiber, Durchleitungsgebühren vom russischen Lieferanten Gazprom zu verlangen, die erhebliche Monopolrenten einschlossen.
In den 1990er Jahren bemühten sich die Abnehmer in Westeuropa, das UGTS mit seinem zuführenden System aus Westsibirien mit erheblichen Investitionen auf einen modernen Stand zu bringen – das wurde bis zu aufwändigen Feasibility-Studien getrieben. Die Anläufe scheiterten sämtlich, am Unwillen beider Seiten. Die Ukraine wollte nicht aufwändig investieren, sie wollte angesichts knapper Mittel das Einkommen aus dem UGTS für andere Zwecke im Staatshaushalt verwenden – sie wollte das UGTS in gleicher Weise auf Verschleiß fahren wie es in Deutschland etliche Bundesregierungen mit der Verkehrsinfrastruktur getan haben. Das Interesse Russlands bestand in Dreierlei: (1) Es wollte aus der Abhängigkeit von der Ukraine heraus, es wollte der Ukraine die Tendenz zur Monopolrente nehmen. (2) Es wollte seine Transitkosten mindern, indem mit der Nord Stream Route die Entfernung zu den (inzwischen nordwärts gewanderten) Fördergebieten verkürzt, der Energieaufwand und die Emissionen von Treibhausgasen durch moderne Technik deutlich gemindert werden und (3) war es im Kontext der EU-Regeln zum Gastransport von Vorteil, einen Anlandepunkt in Deutschland zu haben, wo man einen Handelsplatz und einen Markpreis vor Ort hatte.
Aus diesen Intentionen ergab sich ein Konzept der Neuordnung der Transportbeziehungen. Das implizierte, dass Deutschland zum Erdgas-Hub, zur zentralen Drehscheibe, werden würde. Bislang war die Flussrichtung von Ost nach West, nun wurde von Greifswald aus eine Nord-Süd-dominierte Transportinfrastruktur hinzugebaut – das ist inzwischen alles Geschichte. Diese neuen Leitungen sind bereits sämtlich umfunktioniert und stellen den Kern des deutschen Wasserstoff-Kernnetzes dar, welches deswegen, dieser Resteverwertung wegen, mit so geringem Investitionsaufwand errichtet werden kann.
Die Neuordnung mit der Nord Stream-Trasse stieß auf erbitterten Widerstand der Verlierer dieses Entwicklungskonzepts. Als solche sahen sich neben der Ukraine noch Polen und die USA. Der Konflikt wurde allseits mit harten Bandagen ausgetragen.
- Polen strebte neben Unabhängigkeit von Russland ebenfalls eine Gas-Hub-Position an, deswegen die Investition in die deutsches Territorium umgehende Pipeline von Norwegen (Baltic Pipe) direkt, die keine zusätzlichen Quellen erschloss sondern nur kommunizierte: Wir wollen nicht von Deutschland abhängig sein. Deswegen der LNG Terminal Swinouscie.
- Das US-amerikanische Interesse an der Blockade von Nord Stream 2, so hat Ex-Kanzlerin Merkel in ihren Erinnerungen unzweideutig klargestellt, bestand darin, ihr durch Fracking gewonnenes Gas als LNG in Europa abzusetzen:
„Nachdem Donald Trump im Januar 2017 sein Amt als amerikanischer Präsident angetreten hatte, schuf die US-Regierung die gesetzlichen Grundlagen für sogenannte exterritoriale Sanktionen gegen Unternehmen, die an dem Bau von Nord Stream 2 beteiligt waren. Die USA argumentierten, dass durch den Bau der Pipeline ihre Sicherheitsinteressen betroffen seien, da sich ihr Verbündeter Deutschland mit der Pipeline in eine zu große Abhängigkeit von Russland begeben würde. In Wahrheit, so empfand ich es, setzten die USA ihre überragende Wirtschafts- und Finanzkraft ein, um Wirtschaftsprojekte anderer, auch befreundeter Länder zu verhindern. Den USA ging es vor allem um eigene wirtschaftliche Interessen, sie wollten durch Fracking gewonnenes Gas als LNG nach Europa transportieren.“ (S. 416)
Dass die US-Argumentation lediglich vorgeschoben war, ist am Wortlaut zu erkennen. Deutschland hat sich selbstverständlich nicht mit der zusätzlichen Pipeline in eine Abhängigkeit von Russland begeben sondern mit den Bezugsverträgen. Ein Strang mehr in einem Leitungsnetz hingegen mindert das Risiko. - Das Interesse der Ukraine war, die Gebühren für die Durchleitung durch ihr marodes Netz weiterhin auf hohem Niveau halten zu können. Unterstützt wurde sie dabei von der EU-Kommission und etlichen EU-Staaten. Seit 2014 nämlich war die EU der lender of last ressort für die Ukraine geworden, eine Rolle, die vorher Russland innehatte. Als solche hatte sie fehlende Beträge im Staatshaushalt der Ukraine auszugleichen. Eine Minderung bzw. gar ein Wegfall der Abführung des UGTS-Betreibers in den Haushalt des ukrainischen Staates wäre direkt eine Belastung des EU-Haushalts gewesen. Davon zu unterscheiden ist das legitime Ziel der EU, welches im EU-weiten Konsens auch verfolgt wurde, das UGTS als „Sicherheit“, als Option der Durchleitung für Not- und Reservefälle, verfügbar zu halten, auch nach Eröffnung beider Nord Stream Stränge. Wie die Sprengung der Nord Stream Pipeline gezeigt hat, war diese hochkonzentrierte Trassenführung eine Art Klumpenrisiko. Mit einem offen gehaltenen UGTS war das tragbar. Das wurde auch von Gazprom so gesehen.
2. Das russisch-ukrainische Transitabkommen von Ende 2019
Das rüde Durchstechen texanischer Interessen, wofür der Texaner Ted Cruz selbst in Europa eine berühmte Figur wurde, kam mit dem Ende der Trump-Administration zu einem Ende. Bundeskanzlerin Merkel ‚konnte‘ mit US-Präsident Joe Biden und einigte sich mit ihm auf eine Formel, unter der die USA Nord Stream 2 akzeptierten.
„Joe Biden … tat sehr bald das, was aus meiner Sicht unter Partnern und Freunden der richtige Umgang war: Statt neue Sanktionen gegen uns zu verhängen – der Bau von Nord Stream 2 war allen Widrigkeiten zum Trotz so gut wie vollendet –, einigten wir uns am 21. Juli 2021 auf eine »Gemeinsame Erklärung zur Unterstützung der Ukraine, der europäischen Energiesicherheit und unserer Klimaziele«.“ (S. 417)
Zum Thema Gastransit war in der Gemeinsamen Erklärung formuliert:
„Die Vereinigten Staaten und Deutschland stimmen in der Auffassung überein, dass es im Interesse der Ukraine und Europas liegt, den Gastransit durch die Ukraine auch über 2024 hinaus fortzusetzen. Im Einklang mit dieser Auffassung verpflichtet sich Deutschland dazu, alle verfügbaren Einflussmöglichkeiten zu nutzen, um eine Verlängerung des Gastransitabkommens der Ukraine mit Russland um bis zu zehn Jahre zu ermöglichen,“
Mit dem Bezug auf das Jahr 2024 wurde aufgenommen, was auf Initiative Merkels ihrem Wirtschaftsminister Altmaier im Zusammenwirken mit EU-Kommissar Sefcovic in einer intensiven Anstrengung im letzten Quartal des Jahres 2020 gelungen war. Das Ergebnis war ein einvernehmlicher Gastransitvertrag zwischen Russland und der Ukraine über fünf Jahre, beginnend am 1. Januar 2020 – deswegen läuft der Vertrag am Ende des Jahres 2024, also in etwa zwei Wochen, aus. Der Vertrag wurde geschlossen zu einem Zeitpunkt, da die Fertigstellung und Inbetriebnahme von Nord Stream 2 in weniger als einem Jahr zu erwarten war; ab dem Gazprom also keinen wirtschaftlichen Grund mehr haben würde, die UGTS-Kapazitäten voll zu nutzen. Mit dieser Perspektive wurde damals ein regelrechter Gas-Friedensvertrag zwischen Russland und der Ukraine geschlossen.
Russland zahlte knapp 2,9 Mrd. $ zur Bereinigung von Streitigkeiten aus früheren Gaskonflikten, die schiedsgerichtlich entschieden worden waren. Zudem kam es zwar nur zu einer Vertragslaufzeit von fünf Jahren, aber mit fest bestellten, also zu bezahlenden Durchleitungsmengen. Die fielen von bislang rund 90 Mrd. Kubikmeter pro Jahr für die Zeit von 2021 bis 2024 auf die knappe Hälfte, d.i. 40 Mrd. Kubikmeter pro Jahr – für das Übergangsjahr 2020 waren 65 Mrd. Kubikmeter vereinbart. Zum Vergleich: Nord Stream 2 hatte eine Kapazität von 55 Mrd. Kubikmeter pro Jahr. Die Durchleitungsgebühr sollte „wettbewerbsgerecht“ kalkuliert sein, von dem Diktat von Mondpreisen sagte die Ukraine somit zu Abstand zu nehmen. Die Festsetzung lag aber in ukrainischer Hand und wurde auf 2,66 $/Mio. Kubikmeter/100 km gesetzt.
Dieses Abkommen trat in Kraft und hielt während der gesamten Kriegszeit. Beide Seiten, die Kriegsparteien, verhielten sich vertragsgerecht – auch wenn die faktisch durchgeleiteten Mengen gegenüber den kontrahierten Kapazitäten deutlich zurückfielen, auf 20 Mrd. Kubikmeter im ersten Kriegsjahr 2022 und auf 14 Mrd. Kubikmeter in 2023. Im Ergebnis erzielte die ukrainische Seite in den Jahren 2020 bis 2024 etwa 7,2 Mrd. $ Einnahmen von Gazprom, dem Unternehmen, bei dem der Kriegsgegner, Russland, Mehrheitseigner ist.
Eine schwere Krise durchlebte das Abkommen, als die ukrainische Seite am 11. Mai 2022 für einen der beiden Hauptstränge force majeure erklärte und in der Folge die Durchleitung durch diesen Strang stoppte. Daraufhin stoppte Gazprom die Zahlung für diesen Strang – ob das rechtmäßig ist, ist seit September 2022 Gegenstand eines schiedsgerichtlichen Verfahrens.
Das zeigt, dass die wirtschaftlichen Interessen an einer Kooperation der Tendenz zur Totalverfeindung zu widerstehen vermögen. Doch die Ukraine hat einseitig, ohne Konsultationen mit betroffenen Staaten der EU, entschieden, einer Verlängerung des Vertrags mit Russland nicht zustimmen zu wollen. Das Abkommen läuft damit am 31. Dezember 2024 um Mitternacht definitiv aus. Das hat vielfältige negative Folgen, auch für die Ukraine selbst.
Das aber muss nicht das Ende des Gastransits durch die Ukraine sein. Die ukrainische Seite hat ja nur entschieden, dass sie bei der Durchleitung von Gas nicht Vertragspartner Russlands sein wolle – im Auftrag anderer Wirtschaftssubjekte wäre die Erbringung dieser Dienstleistung durchaus möglich. Darüber wird hinter verschlossenen Türen anscheinend gegenwärtig intensiv verhandelt.
3. Perspektiven des Transits ohne russisch-ukrainisches Abkommen
Die alternative Option ist, dass ein Unternehmen oder ein Unternehmensverbund aus Europa für Gazprom eintritt und ihm das Gas an der Grenze zur Ukraine abkauft, den Transit dann unter einem Vertrag mit dem Betreiber des UGTS sich erbringen lässt. Das sagt sich leicht, ist auch rechtlich nicht kompliziert – erfordert aber, dass beide Seiten bei der Füllung des Wortes „Grenze“ die Augen ganz fest zudrücken. Es ist eben so, dass ein Teil des UGTS nicht im Zugriff des ukrainischen Betreibers liegt, weil die faktische Grenze durch den Kriegsverlauf verschoben wurde.
Eine solche Lösung wird stark von der Slowakei betrieben, unterstützt von Österreich und Ungarn. Die EU-Kommission fällt, anders als im zweiten Halbjahr 2019, als Mediator der Verhandlungen aus. Ob die slowakischen Bemühungen realistisch Aussicht auf Erfolg haben, ist schwer einzuschätzen. Im objektiven Interesse der EU wäre ein Erfolg schon, weil der einen Teil des Lochs im ukrainischen Haushalt zu stopfen vermag und damit die EU entlastet.
Kommt es tatsächlich zu einem physischen Stopp von Lieferungen in das UGTS, so hat die Ukraine ein erhebliches Problem, weil das Funktionieren des innerukrainischen Systems von Transport und Verteilung, auch aus den westlich gelegenen ukrainischen Gasvorkommen, dann in der Fließrichtung total umgemodelt werden muss. Dann fließt netto Gas vom Westen in die Ukraine, zum Ausgleich der Differenz zwischen Nachfrage und Eigenproduktion. Damit das gelingt, ist erst einmal eine Investition erforderlich, in der Größenordnung von einer Mrd. $.
Der Ukraine und ihrem finanziellen Sponsor, der EU, aber scheint es egal zu sein, wenn das Geld aus Russland an die Ukraine nicht mehr fließt und Zusatzaufwendungen für den Umbau des UGTS nötig werden – von den erheblichen bis dramatischen (Moldawien) Einbußen in den betroffenen Abnehmerstaaten in der EU nicht zu reden. Das ist schon verwunderlich. Es macht nicht den Eindruck, dass es ein Gesprächsforum gäbe, wo diese negativen Konsequenzen für befreundete Staaten mit dem Anliegen der Ukraine gegeneinander abgewogen werden. Die an Geld klamme Ukraine entscheidet das im Alleingang. Zu zahlen haben Dritte.