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Home Kultur

Eine ungewöhnliche Autobiografie: Den Wolf umarmen von Luise Rinser

Petra Frerichs Von Petra Frerichs
24. September 2022
Luise Rinser 1987

Eine bekannte Schriftstellerin wie Luise Rinser (1911-2002), die sich mit ihren Romanen und Gedichten einen Namen gemacht hat, schreibt in den 1970er Jahren ihre Autobiografie. Da fragt man sich sofort, wie sie dieses Projekt als Literatin angelegt hat, und ist gespannt darauf, es lesend zu erfahren. Zumal ich meine, mich in diesem Genre ein wenig auszukennen, da ich mein damaliges literaturwissenschaftliches Studium mit einer Promotion über Autobiografien abgeschlossen hatte  („Bürgerliche Autobiografie und proletarische Selbstdarstellung“, Ffm 1981). Doch Luise Rinser macht mich wirklich erstaunen: dieses ihr Erinnerungswerk über die ersten 35 Jahre ihres bewegten Lebens ist etwas Besonderes, und zwar in Anlage und Aufbau des Buches wie in den Verknüpfungen von Aspekten und Stadien ihrer Lebensgeschichte mit ihren frühen literarischen Versuchen. Und wenn sie das tut, dann dienen ihr diese zugleich als Gedächtnisstütze wie als „Wahrheitstest“, d.h. das zeitnahe Erleben und Erfahren, das sich im literarischen Werk spiegelt, regt die Erinnerung an und dient dann auch als Prüfmöglichkeit auf ihren Wahrheitsgehalt. Literarische Texte sind ja frei vom Anspruch auf Authentizität, Fiktion ist sozusagen angesagt, aber ihren Stoff schöpfen die Schreibenden häufig aus Erlebtem und im Leben Erfahrenem. Autobiografien hingegen sollen möglichst authentisch sein, eher faktenbasiert und daher dem Wahrheitsanspruch mehr verpflichtet als das literarische Schreiben. Und so dient der Autorin beispielsweise ihr erster Roman Die gläsernen Ringe (Erstveröff. 1941) der Vergegenwärtigung, sie steigt mittels der hier vorgenommenen Literarisierung ihrer schwierigen Kindheit und Jugend mitten ins Leben ein, unterscheidet  dann aber sorgfältig, was authentisch daran und was erfunden sei. Auch der Rückgriff auf Briefe aus späteren Lebensphasen ermöglicht  ihr diese Vergegenwärtigung, sofern sie als Dokumente erhalten und verfügbar geblieben sind. Während der langjährige briefliche Austausch mit einem guten Freund ihr fast vollständig vorliegt, sind etwa die Briefe von Hermann Hesse, geschrieben in der Nazizeit, von ihr selbst ins Feuer geworfen, also vernichtet  worden, weil  sie zu gefährlich waren – was sie allerdings auch nicht mehr vor ihrer Verhaftung bewahren konnte.

Das Datum 1. September

Zurück zum Anfang? Mitnichten. Das Buch beginnt mit dem Datum 1. September 1979. Könnte es den Zeitpunkt der Fertigstellung ihrer Autobiografie fixieren? Doch wie sich zeigt, meint dieses Datum hier mehreres zugleich; sie schreibt:

Auf den Tag genau vor vierzig Jahren nimmt eine junge Frau, im vierten Monat schwanger, den Wäschekorb voll nasser Wäsche, steigt die steile Betontreppe zum Dach hinauf…, um dann weiter diese alltägliche Handlung und den Kontext, in dem sie geschieht, zu beschreiben. Diese junge Frau ist sie selbst. Rinser wählt die 3. Person statt der ersten, und im Fortgang des Textes wechselt sie zwischen beiden Formen: immer dann, wenn es um die junge Frau oder später die junge Autorin geht, wählt sie die eher distanzierende 3. Person, wahrscheinlich um den Prozess der Reifung als Literatin besser, d.h. wie von außen beobachten und beschreiben zu können.

Genau vor vierzig Jahren, am 1. September 1939, passiert bei ihr persönlich wie zugleich in der Weltgeschichte etwas Gewaltiges: Sie selbst wird nicht nur Wäsche aufhängen, sondern mit dem Schreiben an ihrem ersten Roman (der autobiografisch angelegt sein wird) beginnen. Und Adolf Hitler überfällt Polen, der Zweite Weltkrieg ist entfacht.

Wir befinden uns also erst einmal in dieser finsteren, bedrückenden Zeit und in der räumlichen Umgebung von Braunschweig, wo Rinsers Ehemann die Stelle des Dritten Kapellmeisters am Staatstheater bekleidet. Und sofort bekundet die in Bayern gebürtige und aufgewachsene Autorin diese Region als nordisch finstere Welt, fremd, fremd, wo sie nicht heimisch werden kann. Ihr fehlen die Berge, und zwar die „richtigen“, die für sie nur in den Alpen stehen können. Sie weiß um den Krieg und sie meint, sie könne ihn hier nicht überstehen. Sie will heim. Doch als politisch wache Menschen haben sie und ihr Mann diesen Krieg lange kommen sehen und sich längst im Widerstand gegen den Diktator befunden. Sie mussten auch ständig damit rechnen, mit ihrer politischen Haltung aufzufliegen, lebten also im permanenten Zustand der Gefahr, wo das Spitzelunwesen selbst im Wohnhaus oder am Theater umtriebig war.

Und genau an diesem 1. September 1939 tut die junge Frau etwas Unerwartetes, sie selber ganz und gar Überraschendes: sie beginnt zu schreiben, wie gejagt, sie schreibt und schreibt, als gehe es um ihr Leben, und in der Tat, es geht um ihr Leben, sie muß sich retten, der tollwütige Hund ist hinter ihr her, er hechelt und hat Hitlers Augen und Hitlers Stimme, und er hat Polen den Krieg erklärt und der Welt und dem Leben. Sie muß sich retten, des Kindes wegen, und es gibt nur eine Art, sich zu retten: sie muß schreiben.

Das also ist die Geburtsstunde des Romans Die gläsernen Ringe, ihr erstes Buch, dem allerdings bereits erste Schreibversuche aus ihrer Schulzeit etwa in Form von Theaterstücken und Erzählungen vorausgegangen waren. Doch mit dem Roman wird die vorher Unbekannte mit einem Schlag bekannt. Nicht nur ihr Mann ist von der Lektüre des ersten Kapitels sofort begeistert und fordert sie auf, es an bekannte Persönlichkeiten wie etwa den Verleger Peter Suhrkamp zu schicken; der sie wiederum inständig bittet, dieses Werk zu vollenden, damit es in seinem Verlag erscheinen kann. Suhrkamp, der auf Rinser bereits als Jugendliche aufmerksam geworden war und Anteil am Zustandekommen des Ringe-Romans hatte, betrachtet sich später als Entdecker eines großen literarischen Talents, vor allem einer neuen Dichterin. Und auch Hermann Hesse, mit dem Rinser inzwischen in brieflichen Kontakt steht, würdigt dieses Buch in einem Brief in hohen Tönen (die Passage, dass es sich um ein Bekenntnis zum Geistigen handele – in Zeiten der Blut- und Boden-Literatur also einen Kontrapunkt setzend -, wird von Rinser mit Stolz zitiert). 

Immer wieder reflektiert sie die Bedeutung des Schreibens und den Stellenwert, den ihr erstes Buch damals für sie hatte: Sie begann den Weg nach innen, den Abstieg ins eigene Wesen. Sie war sich dessen nicht bewußt, sie schrieb träumend, wiewohl nicht ohne Kunstverstand, der war eben da, angeboren.

So geht es erst einmal weiter mit der Erzählung über die Anfänge ihres Schreibens: die junge Autorin ist eingeführt. Bis Rinser zur erwarteten Chronologie, einsetzend mit der Kindheit, kommt, müssen die Lesenden etwas Geduld aufbringen. Die lohnt sich allerdings, denn egal womit Rinser beginnt oder worüber sie schreibt, ob chronologisch oder in zeitlichen und räumlichen Sprüngen dargestellt: alles ist bei ihr durchdacht und reflexiv konzipiert, eben anders, als man es von Lebenszeugnissen sonst erwartet oder gewohnt ist. 

Luise Rinser im Kurz-Portrait

Will man diese Autorin vorstellen, so wäre in einem gerafften Portrait (der Ausdruck Steckbrief verbietet sich in diesem Kontext und diesen Zeiten) zu vermerken: Streng katholisch-konservativ erzogen; problematisches Verhältnis zu den Eltern; Ungehorsam als Motor zur Selbstbefreiung; Überfliegerin am Mädchengymnasium, die schon als Teenager philosophische Texte von Klassikern liest, aber auch mit einem Einser in Physik ihr Abitur hinlegt; hochmusikalisch; frühe Politisierung; politischer und sozialer Instinkt oder Sinn; Antifaschistin mit politischem Durchblick; geborene Pädagogin, mit Herz und Verstand im Einsatz für die Ärmsten; Sinn für die fernöstliche Kultur (Buddhismus) über Selbstaneignung in jungen Jahren;  geborene Schriftstellerin mit ersten Schreibversuchen im Jugendalter; frühe Entdeckung ihres literarischen Talents; im Widerstand gegen die Nazi-Diktatur mit den Mitteln einer Intellektuellen; Verhaftung durch die Schergen der Gestapo aufgrund von Denunziation, Einsitzen im Gefängnis; früher Tod des ersten Ehemannes, gefallen an der sogenannten Ostfront als Kanonenfutter; bittere Armut in der Nachkriegszeit, gleichzeitig Geburtsstunde einer großen Laufbahn als Schriftstellerin; spätere Heirat von Carl Orff (außerhalb der hier erzählten Zeit). 

Elternhaus und Erziehung

Dass Luise Rinser sich ausführlich zu ihren Eltern und deren Erziehungsprinzipien äußert, unter denen sie lange gelitten hat, ist mehr als nachvollziehbar, denn hier geht es nicht nur um Unterdrückung, sondern zugleich um die Ausbildung eines Widerstandspotentials, das immer wieder unter dem Vorbehalt der Sünde gestanden hat: Ist Ungehorsam eine Sünde? fragt sie rhetorisch. So rigoros bis rigide die Mutter, die als gebildet und belesen, aber auch als gefühlskalt charakterisiert wird, versucht, die Freiheitsgrade ihrer Tochter zu begrenzen und ihr später sogar die Vorstellung von einem Studium und einer Ehe abspenstig zu machen, desto mehr gedeihen in der Schülerin die Gegenkräfte. Doch unter dem Vorzeichen einer streng katholisch-bayerischen Erziehung, geht dies nur mit permanent eingegangenen Konflikten einher, begleitet von Gewissensqualen, gegen die elterliche und kirchliche Autorität zu verstoßen. Schließlich bezeichnet sich Rinser selbst als gläubig und religiös.

Viel stärker noch als der mütterliche Einfluss auf das Kind bzw. die Heranwachsende ist der durch den Vater. Zu diesem hat sie eine äußerst schwierige, ambivalente Beziehung, die zwischen emotionaler Bindung und dem inneren Kampf gegen dessen (Über-)Macht pendelt.

Was machte diesen Vater für sie so stark und dominant? Einerseits war er Vorbild in manchem, was der Jugendlichen Halt und Orientierung bot: Seine Liebe zur Musik – er spielte mehrere Instrumente, war musikalisch gebildet, lange Zeit nur Liebhaber, später dann hauptberuflicher Organist – und sein Interesse für Politik. Er war aber auch ein sehr schwieriger Mensch, voller Widersprüche, Brüche und Geheimnisse (aus der Perspektive des Kindes). Rinser versieht ihren Vater mit etlichen Attributen, die auf den ersten Blick sich widersprechen, jedenfalls schlecht zusammenpassen, so bspw.: Er war ein Einsamer, Frommer, ein Patriot, Nationalist, Pazifist und gleichzeitig Kriegsanhänger, Antifaschist, Monarchist, und er war der scheu um sich blickende Wolf  (hier ist auf den Titel des Buches hinzuweisen; ungewöhnlich genug nennt sie ihre Autobiografie Den Wolf umarmen).

Mitten in der Auseinandersetzung mit und Erinnerung an ihren Vater fügt Rinser die folgende Episode ein:

Als mir einmal viel später ein Astrologe das Horoskop stellte, sagte er: Sie haben eine Schicksalsbestimmung durch den Vater; er liegt schwer auf ihrem Leben. Der Saturn. Der strenge dunkle Vater. Der Richter. Der Vollstrecker seiner eigenen Urteile. Der große Unnachsichtige.

Mein Vater, der weint. Mein Vater an der Orgel. Mein Vater, der mit mir Schach spielt ohne Dame. Mein Vater, der mich sein Mädi, sein  Trutscherl nannte, der mich nachts auf seinen Armen trug, wenn ich schrie. Mein Vater, der mich in die Oper mitnahm.

Hier werden die widersprüchlichen Emotionen nach Rollen verteilt und gegenüber gestellt: dem Externen wird zugewiesen, die Übermacht des Vaters spekulativ zu bezeugen, ihr bleiben die Beispiele für Warmherzigkeit und Liebe. Erst nach jahrelangen Auseinandersetzungen gelingt ihr die Befreiung aus diesen Verstrickungen. Im Rückblick stellt sie fest:

Vierzig Jahre war mein Vater mein Über-Ich, mein adressiertes Gewissen, der Mann vom moralischen Geheimdienst, der Allwissende, das Auge Gottes. Was immer ich tat, ja was ich dachte: der Vater wußte es, ahnte es, beurteilte es, verwarf es, richtete und bestrafte … Es war eine Obsession.

Kampf um Emanzipation

Ein so schwieriger innerer Kampf um Emanzipation, wie ihn Rinser durchfechten musste, ist erst im Abstand zum Erlebten und Erlittenen, in der Reflexion darüber, aus der Distanz zu erkennen und beurteilen. Und so stellt sie vieles, was mit ihr geschah und sie belastete, später (wortwörtlich und sinngemäß) „in Frage“, um sich damit auseinandersetzen zu können. Immer wieder geht es ihr dabei um die Berechtigung ihrer Auflehnung, ihres Ungehorsams, ihres Widerstandes im Elternhaus wie in der Schule – statt sich still zu fügen in Befehle und in eine Ordnung, die nicht die ihre war. War ich nicht als … Rebellin geboren? … Das aber war’s, was meine Eltern wollten: meinen Ungehorsam brechen, mein Anderssein mir austreiben, mich auf ihren Weg zwingen, mich an sie ketten. … Wie konnte ich begreifen, was in mir vorging, woraufhin ich angelegt war, was sich aus meinen Wirbeln und Widersprüchen einmal ergeben würde! Die ganze Erziehung zielte darauf, mich still gefügig zu machen, kleinzuhalten, immerzu ein nicht in Worte zu fassendes Schuldgefühl zu haben, immer um Verzeihung bitten zu müssen. Ich hatte recht, mich zu wehren, wenn man mich zur Reue zwingen wollte. Ich beleidigte ja nicht Gott, sondern empörte mich nur gegen angemaßte und mißbrauchte Autorität.

Auseinandersetzungen wie diese bezeugen, welche Bedeutung die Selbstreflexion im Kontext ihrer Autobiografie für Luise Rinser hat. Zu vermuten ist, dass erst die literarische Verarbeitung (in ihren ersten Romanen) und später dann die autobiografische ihr die Gewissheit verschafft haben, dass sich dieser Kampf gegen falsche Autoritäten gelohnt hat. Insofern ist dieses Werk viel mehr als eine Selbstdarstellung über ihre Karriere als Schriftstellerin, es ist darüber hinaus eine intensive Selbstklärung und -erkenntnis ihrer Potentiale und Befähigungen, vor allem auch die Berechtigung ihres Kampfes um ihre Befreiung und freie Entwicklung – wenn man von „Freiheit“ in politisch schwierigsten Zeit überhaupt sprechen kann. 

Im Zuge dieser Selbstreflexion berührt sie etliche neuralgische Punkte, wie etwa den Vorwurf, hochmütig (gewesen) zu sein, weil sie sich als Schülerin intensiv und schwärmerisch mit Hölderlins Hyperion beschäftigt hat. Im Rückblick kann sie zeigen, was ihr dieses Werk, das sie in weiten Passagen auswendig hersagen konnte, bedeutet hat: es verhalf ihr, so „unreif“ sie auch noch war in der Pubertät, zu einer gewissen politischen Orientierung, sogar zu einem kritischen Staatsverständnis im Hinblick auf die aufziehende NS-Diktatur (sie zitiert und interpretiert aus dem Hyperion entsprechende Passagen, ergänzt mit Stellen von Nietzsche) und damit zu ihrer politischen (Selbst-)Bildung; im Rückblick bewertet Rinser diese Hölderlin-Begeisterung in ihrer frühen Jugend als Baustein ihres Sinns für Politik und den großen Bedarf an Aufklärung (etwa zum späteren Verständnis des Faschismus), die in der Schule nicht geleistet wurde, wo eher das Ja-sagende Mitläufertum und die Unterwerfung eingeübt wurden. Auch dass sie in jungen Jahren sich mit der fernöstlichen Philosophie befasste, wurde von den meisten Lehrkräften in der Schule eher als Arroganz ausgelegt statt als ungewöhnliches Interesse und Neugier gewürdigt. Erst im späteren Briefkontakt mit Hermann Hesse konnte sie hiermit auf Verständnis stoßen, denn der Dichter war zu ihrem Erstaunen selbst lange Jahre in Indien und kannte sich in dieser Kultur aus. Auch ihre Nietzsche-Lektüre als Abiturientin war jenseits des Schul-Kanons gelegen und verhalf ihr dazu, sich einen politischen Durchblick zu verschaffen. Und so gibt es viele Beispiele dafür, dass die Autorin schon von früh an ihren „eigenen Kopf“ hatte und Interessen entwickelte, die zwar nicht ins Schema der Vorgaben in Sachen Bildung und Erziehung passten, wohl aber für Eigenständigkeit und Autonomie stehen.  

Anleitung zum selbstständigen Denken

Auf anderer Ebene liegt ihr früh ausgebildeter Gerechtigkeitssinn; schon immer habe sie gegen Ungerechtigkeit aufbegehrt, sei auch hierin die geborene Rebellin gewesen, und nicht zufällig war sie vier Jahre Klassensprecherin. Auch dies wurde als Renitenz und Streitsucht ausgelegt. Doch Rinser hatte in der Schule auch Glück mit einigen, wenigen Lehrkräften: In der Oberstufe hatten sie einen Lehrer, der eigentlich die Geschichte der Pädagogik unterrichten sollte, was er auch tat, zusätzlich aber – zum Leidwesen der übrigen Klasse – auch seine großen philosophischen Kenntnisse unterbreitete. So lernte Luise in ihrer spekulativen Phase Platon und weitere Philosophen kennen: Er sprach über genau das, was ich wissen wollte, wonach ich hungerte: über die großen Zusammenhänge, über den Sinn des Lebens. Seine Philosophie galt mir als Theologie. Und sie lernte bei ihm auch einen Pädagogen aus dem 17. Jahrhundert kennen, den Begründer eines neuen Bildungsdenkens. Worüber sich ihr Sinn für eine Pädagogik schärfte, die auf dem Konzept des selbständigen Denkens basiert.

Der zweite Glücksfall in der Schule war eine Lehrerin, die genau nach diesem Konzept ihren Unterricht gestaltete.

So überraschte sie uns schon in der ersten Zeit mit dem Auftrag, uns eine Kenntnis Rußlands zu erarbeiten. Gut, aber wie? Wir waren daran gewöhnt, daß die Lehrer den Stoff vortrugen und wir uns Notizen machten und die Sache mehr oder minder wörtlich auswendig lernten. Jetzt aber sollten wir unsere eigenen Lehrer sein. Erinna (so hieß die Lehrerin) zeigte uns, wie man das macht. Wir lernten zunächst einmal verstehen, daß man, um Fragen stellen zu können, schon etwas wissen müßte. Was wußten wir von Rußland? Und so weiter in diesem Konzept, das auf der Reformpädagogik beruhte, zugleich aber voller „Empirie“ war, d.h. ausgereift auf Basis von konkreter Anwendung und Weiterentwicklung im Unterricht.

Es wundert nicht, dass diese aufklärungsgesättigte Pädagogik später zum Maßstab und zur Richtschnur ihrer eigenen beruflichen Tätigkeit als Lehrerin geworden ist. Anleitung zum selbständigen Denken als Grundlage für jegliche Aneignung von Lernstoff im Fächerkanon, das ist es, was ihr selbst so lange gefehlt hatte und bei ihr auf fruchtbaren Boden fällt. Ob sie kurz nach Studienabschluss als Aushilfslehrerin eingesetzt ist oder später mit Festanstellung vor einer Klasse mit Kindern, die der Verwahrlosung in jeder Hinsicht preisgegeben sind – sie versucht unermüdlich und mit überbordendem Engagement gemäß diesem Konzept ihren Unterricht zu gestalten, angefangen mit der Abschaffung der Prügelstrafe: sie zerbricht den Rohrstock vor der Klasse oder fordert die Kinder auf, dies zu tun; es war mehr als eine rituelle Handlung, sondern steht für ihren auf Erfahrung beruhenden wie nahezu angeborenen pädagogischen Humanismus. Als junge Lehrerin schneidet sie bei Prüfungen stets glänzend ab, scheint im richtigen Beruf und Feld, doch ihr weiterer Einsatz als verbeamtete Lehrerin scheitert an inquisitorischen Fragen eines Schulleiters nach ihrem politischen Engagement für den Nationalsozialismus; alle Fragen nach Mitgliedschaften etc. kann sie nur mit Nein beantworten und kündigt dann selbst ihre weitere Lehrtätigkeit auf, bevor sie vom Vorgesetzten aus dem Schuldienst „entfernt“ und mit Berufsverbot belegt wird.

Versagen der Schule im Vorfeld der NS-Zeit

Doch noch einmal zurück zu Rinsers politische Reflexionen über ihre eigene Schulzeit in den späten 1920er Jahren. Sie beklagt im Rückblick den Mangel an politischer Aufklärung durch die Lehrerschaft. Unsere Lehrer schienen keine Spur von politischem Instinkt gehabt zu haben. Sie ließen uns die ‚Weimarar Verfassung‘ auswendig lernen und aufsagen, aber sie erzogen uns nicht zu politischem Denken, im Gegenteil: zu Jasagern erzogen sie uns, und das in einer Zeit, in der Hitler schon einen Münchener Putsch, die Nazi-Partei gegründet, die SA geschaffen hatte und im Landsberger Gefängnis ‚Mein Kampf‘ schrieb. … Ich erinnere mich nicht eines einzigen Worts der politischen Aufklärung, der deutlichen Warnung in unserer Schule. … Das was die heutige junge Generation uns vorwirft, das, sucht man schon Schuld, geht aufs Schuldkonto jener, die damals unsere ältere Generation war. Die versäumte es, uns die Schutzimpfung zu machen, die uns immunisiert hätte gegen den Hitlerfaschismus. … Einen stillen inneren Widerstand mag es gegeben haben. Aber das war zuwenig, das war zu billig. Und dabei war unsere Schule eine ausdrücklich katholische. Witterte das Schaf nicht den Metzger vor der Stalltür?

Das ist die Abrechnung Rinsers mit den damaligen Versäumnissen und Defiziten gerade an Institutionen wie der Schule, die ihrem Bildungsauftrag in diesen Zeiten nicht nachgekommen ist, aus der Perspektive der 1970er Jahre. Ihre Kritik an den christlichen Kirchen fällt noch radikaler aus, indem sie diesen eine Mitverantwortung für und Mitschuld an den Verbrechen der Nazi-Diktatur zuschreibt (etwa im Rahmen einer Rede, die sie anlässlich einer Gedenkfeier zur Reichspogromnacht im Münchener Maximilianeum gehalten hat).  

Hermann Hesse im Briefkontakt

Ergreifend wie erhellend sind zu guter Letzt die Passagen, in denen Luise Rinser den Briefkontakt und die Begegnung mit  Hermann Hesse nachzeichnet und erklärt, welche Bedeutung seine Literatur für ihren Widerstand gegen den Nazi-Faschismus hatte. So, wie ihr Hölderlins Hyperion als Jugendliche Halt und Orientierung gegeben hat, scheint Hermann Hesse diese Wirkung in späteren Jahren auf sie ausgeübt zu haben. In Zeiten der gleichgeschalteten Literatur und Kunst bedeutete das Bekenntnis zum Geist, das sich in Hesses Werk spiegelt, etwas, das Trost und Hoffnung gab und zum Widerstand ermutigte. … Wir (ihr erster Ehemann und sie) hatten damals alles gelesen, was er bis dahin geschrieben hatte. Nach Aufzählung der Werke, auch mit ästhetisch-kritischen Anmerkungen wie der Grenze zum Kitsch, folgt die Einschätzung der Bedeutung: Dennoch blieb Hesse für uns ein Meister. Er war nicht mehr jung, aber er besaß Jugend, und als ein alter junger Weiser sprach er uns an. Seine Schriften trafen uns in den Lebenskern. Sie waren der eindringliche Aufruf zum Ausbruch aus dem Pferch und zur Selbstfindung, oder, wie C. G. Jung es nannte, zur Individuation.

Der Briefkontaktmit Hesse, der mit einem Brief von ihr aus dem Jahr 1935 begann (und bis 1950 währte), bot die Möglichkeit des Austausch über (östliche) Philosophie, Literatur und Politik, aber er war gefährlich, denn der Dichter galt als Staatsfeind und Defaitist. Und was war er noch für sie? Für mich war Hesse damals die Zuflucht vor dem Nationalsozialismus. Das vor allem. Wem sonst als ihm konnte man trauen? Er war scharfer Gegner Hitlers, und er lebte in der Schweiz, er konnte vieles, alles wagen.

Dass sie, wie eingangs bemerkt, seine Briefe bis 1944 in großer Angst und Hast verbrannt hatte, ist der schmerzliche Verlust eines Zeitdokuments, umso mehr, als Rinser auch mit diesem Opfer nicht ihrer Verhaftung entgehen konnte.   

Luise Rinser schließt ihre Autobiografie mit ihrem Leben in der Nachkriegszeit ab (sie hatte ursprünglich einen zweiten Teil über die 1950er bis 1970er Jahre geplant, dieses Vorhaben jedoch später verworfen): eine Zeit, die sie wie viele in bitterer Armut und Not mit zwei Kindern verlebt, in der sie sich gleichwohl politisch als engagiert – im Sinne der Aufarbeitung des Nazi-Faschismus, den Folgen und Folgerungen, die man daraus ziehen sollte. Damit gehörte Luise Rinser zu den wenigen Intellektuellen, die eine kritische Auseinandersetzung mit dem Faschismus auf Basis eigener Erfahrungen betrieben haben, indem sie sich etwa an den Gedenktagen in Form von Vorträgen dazu äußerten. Rinser spricht auch von den damaligen Chancen für Frauen im Feld der Politik und entsprechenden Angeboten, die sie jedoch alle ausschlägt. Denn eines war ihr klar: Sie wollte schreiben! Nur das. Von den Früchten ihrer literarischen Produktion, wozu gerade auch dieses hier besprochene Werk gehört, können wir noch lange profitieren.

Bildquelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-1987-0714-302 / Senft, Gabriele / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de

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Tags: AutobiografieBuchbesprechungEmanzipationLiteraturLuise Rinser
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