Eigentlich konnte man auf die Debatte über den richtigen Kanzlerkandidaten der SPD warten, sie musste jetzt beginnen. Denn die SPD ist eine diskussionsfreudige Partei und die Bundestagswahl dazu findet bereits 2017 statt, also in zwei Jahren. Höchste Eisenbahn, will man nicht den Zug ins Kanzleramt verpassen. Dass diese Debatte von Herrn Albig losgetreten wurde, überraschte, weil der Ministerpräsident aus Schleswig-Holstein bisher so gut wie gar nichts gesagt hatte, weder zu dem einen noch dem anderen Thema. Im Grunde hat er durch seine Worte, die SPD könne auf einen eigenen Kandidaten gegen Merkel verzichten, weil die Wahl eh schon verloren sein, darauf aufmerksam gemacht, dass es ihn in Kiel tatsächlich noch gibt.
Aber vielleicht hat er sich auch nur gelangweilt und deshalb gedacht, dann schenk ich unserem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel mal einen ein. Auf einen mehr oder weniger bei Gabriel kommt es ohnehin nicht mehr an. Auf Peer Steinbrück allerdings konnte man warten, der kennt sich aus in dieser Diskussion, schließlich war er schon mal Kandidat, wenngleich nicht unbedingt ein erfolgreicher. Und der wusste schon früher alles besser.
43 Prozent wären ein gutes Ergebnis
Die SPD hat viele Erfahrungen mit Kanzlerkandidaten gemacht. Man denke an Johannes Rau, den Dauer-Regierungschef von NRW in den 80er und 90er Jahren. Als er 1985 die Landtagswahl an Rhein und Ruhr mit absoluter Mehrheit gewann, war für einige so genannten Experten die Sache klar: Rau musste gegen Helmut Kohl ins Rennen gehen, ob er wollte oder nicht. Die NRW-Zahlen von rund 52 Prozent bei der Landtagswahl wurden auf den Bund hochgerechnet und schon schien Kohl geschlagen. Sogar eine eigene Mehrheit reklamierte der Kandidat Rau für sich und seine SPD, die Grünen waren damals noch nicht salonfähig. In Niedersachsen wurde gar der Aufsteiger Gerhard Schröder von den Rau-Freunden dahingehend belehrt, das mit Rot-Grün bitte schön sein zu lassen. Eine eigene Mehrheit? Der Altvater der SPD, Willy Brandt, der in den Fingerspitzen mehr Gefühl für Politik hatte als viele andere im Kopf (so Annemarie Renger), belehrte Rau in einem Interview mit der „Zeit“, das er in seinem Urlaubsort in Südfrankreich geführt hatte: „43 Prozent sind doch auch ein schönes Ergebnis.“ Damit war die Strategie der Rau-Mannschaft mit der eigenen Mehrheit, wenn sie denn je eine war, dahin.
Johannes Rau verlor übrigens die Wahl mit einem Ergebnis von 37 Prozent, er blieb nicht der einzige Verlierer gegen Helmut Kohl. Schon bei der ersten sehr umstrittenen Wahl im Frühjahr 1983 nach dem Machtverlust im Herbst 1982 – aus verfassungsrechtlichen Gründen war sogar Bundespräsident Carstens eingeschaltet worden- unterlag Hans-Jochen Vogel gegen den Oggersheimer. Damals waren das klare Niederlagen für die SPD, würde man die Zahlen heute erreichen, wäre die Partei überglücklich. Neben Vogel, Rau, dann Oskar Lafontaine, Björn Engholm, der es gar nicht bis zum Wahltag schaffte, weil er sich quasi zum Rücktritt gezwungen sah, dann Rudolf Scharping. Beinahe die gesamte Enkel-Schar des einstigen SPD- Willy Brandt konnte gegen den CDU-Kanzler Helmut Kohl nichts ausrichten. Erst 1998 schaffte Gerhard Schröder den Sprung ins Kanzleramt.
Steuer-Geschenk und Mövenpick-Partei
Angela Merkel löste 2005 Schröder ab, wenn auch knapp. Es folgte eine große Koalition mit SPD-Ministern wie Franz Müntefering, Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel als Umweltminister. Steinbrück hatte den undankbaren Posten des Bundesfinanzministers und musste eine der schlimmsten Finanzkrisen meistern helfen, was ihm gelang. Gleichwohl stürzte die SPD auf ihr historisches Tief ab: 23 Prozent. Die Folge: Merkel bildete eine Regierung mit der FDP, die allerdings ziemlich glücklos in dieser Allianz arbeitete. So konnten sich die Liberalen nie mehr von der heftigen Kritik an der anfänglich beschlossenen Hotel-Steuer befreien. Der Volksmund hatte aus dem Steuer-Geschenk schnell eine Mövenpick-Steuer gemacht und die FDP auf den Begriff der Mövenpick-Partei reduziert.
Am Ende schafften die Freien Demokraten, die fast jeder Regierung nach dem Krieg angehört hatten, nicht mal mehr den Sprung ins Parlament. Merkel bildete 2013 wie 2005 erneut eine große Koalition mit der SPD, dieses Mal mit Sigmar Gabriel als dem SPD-Vorsitzenden, der das Amt des Bundeswirtschaftsministers, der zugleich Vize-Kanzler ist, übernahm.
Gabriels Politik ist nicht vom Glück begünstigt, wenn man das mal höflich formulieren will. Man kann es auch so sagen: Der Mann hat kein gutes Händchen gezeigt in diesen Jahren. Die eigene Partei steht nicht geschlossen hinter ihrem Vorsitzenden, das Grummeln in der SPD wegen Gabriels Zick-Zack-Kurs in vielen Fragen ist nicht zu überhören. Gleichwohl hat ein Parteivorsitzender selbstverständlich den ersten Zugriff, wenn es um den Kanzlerkandidaten geht. Aber wie gesagt, wir schreiben das Jahr 2015, gewählt wird erst 2017, dazwischen liegen wichtige Landtagswahlen, so 2016 in Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg. Die müssen erst gewonnen werden.
In Mainz ist manches denkbar, sowohl die Bestätigung der Ministerpräsidentin Malu Dreyer, die das Amt des vorzeitig ausgeschiedenen Kurt Beck übernahm und sich seitdem mit dem unguten Erbe ihres Amtsvorgängers herumschlagen muss, wozu u.a. der Nürnburg-Ring und der dazu gehörende Skandal zählt. Und in Stuttgart geht es um die Verteidigung des ersten Grün-Roten Bündnisses in Deutschland gegen die CDU, die vor Jahr und Tag ihre Vorherrscherrolle nach 58 Regierungsjahren an Grün/Rot, also Kretschmann und Schmid, abgeben musste. Es werden schwierige Wahlen mit ungewissem Ausgang. Und in NRW wird 2017 auch gewählt, wohl kurz vor der Bundestagswahl.
Mitleid mit Sigmar Gabriel
Die Frage ist, warum sich jetzt schon Leute wie Albig oder Steinbrück zur Frage des Kanzlerkandidaten der SPD äußern, warum sie die Chancen, die heute in der Tat winzig sind, für das Jahr 2017 voraussagen wollen. Dass Angela Merkel zurzeit unumstritten ist, dazu brauchte es keinen Kommentar von Herrn Albig. Und dass die SPD unter Gabriel keine gute Figur macht, steht auch fest und kann in fast allen Medien beinahe täglich nachgelesen werden.
Die Umfragewerte sind im Keller, über 25 Prozent reicht es nicht. Warum sich ausgerechnet Steinbrück, der noch nie eine Wahl gewonnen hat, dazu in einer Sonntagszeitung äußert, ist wohl sein Geheimnis. Seine eigene Kandidaten-Zeit dürfte noch in unguter Erinnerung sein, sie war vor allem begleitet durch äußere Umstände, wie die des Honorar-Reisenden Steinbrück, der von sich behauptete, keinen Wein unter fünf Euro zu trinken und der auch sonst wenig ausrichten und schon gar keine inhaltlichen Trümpfe auf den Tisch legen konnte. Aber der dennoch jetzt meint, es sei zu wenig, wenn man nur den Koalitionsvertrag abarbeite. Er muss es ja wissen.
Man könnte fast ein wenig Mitglied mit Gabriel haben, aber Mitleid ist nun mal das schlimmste Leid, das man einem Politiker zufügen kann.