Am 1. Oktober veranstalteten die Autoren des Aufrufs „Frieden schaffen“
(https://Friedenschaffen.net) einen ersten Kongress in Frankfurt am Main. Daran haben neben dem
Historiker Prof. Peter Brandt, Friedensaktivist Rainer Braun, Staatssekretär a.D. Michael Müller,
die gemeinsam mit Ex-DGB-Chef Hoffmann die Initiatoren sind, auch EU-Kommissar a.D.
Günther Verheugen, Oberbürgermeisterin a.D. und ehemalige Welthungerhilfe-Präsidentin Bärbel
Dieckmann und einige hundert Menschen im Saal und online teilgenommen. Das Programm und
die Beiträge sind über die o.g. Webseite weiterhin zu hören und zu sehen.
Ich habe den Aufruf mit unterschrieben und will nicht mit dem Anschein der Neutralität Bericht
erstatten. Stattdessen möchte ich den Vortrag paraphrasieren, den Prof. Jeffrey Sachs dort als online
von einer Reise aus Peking zugeschalteter Redner gehalten hat. Man darf Sachs durchaus als
umstritten bezeichnen und sein Wirken als Ökonom ist nicht frei von Irrtümern. Seine Sicht des
Ukraine-Krieges ist dennoch und schon deshalb von Interesse, weil sie in keiner Zeitung und keiner
TV-Anstalt zu finden ist. Sie ist gleichwohl plausibel – und natürlich auch bestreitbar.
Frieden ist Freiheit
Ich möchte dem einen Satz voranstellen, der in einem Nachrichtenbeitrag über ukrainische
Schulkinder, die unter russischem Raketenbeschuss leben, aus Kindermund kam: eine etwa 8jährige
Schülerin sagte: Frieden ist Freiheit. Aus der Sicht der Kinder, die nicht spielen, Sport treiben,
essen, schlafen und in der Schule lernen können, wie und wann sie es wollen und sollen, sondern
stattdessen immer wieder in Kellern (oder fensterlosen Badezimmern) abwarten müssen, bis ein
Luftangriff vorbei ist und hoffen müssen, ihn zu überleben, ein unbestreitbarer Satz. Solange der
Krieg dauert, werden die Kinder nicht frei sein.
Sachs plädiert eindringlich für Verhandlungen zur raschen Beendigung des Krieges, weil nur die
Ukrainerinnen und Ukrainer zu leiden haben, während sich andere Vorteile versprechen. Er ist nicht
der einzige, der die in den Leitmedien hochgejubelte sogenannte Gegenoffensive der Ukraine als
gescheitert bezeichnet. Eine militärische Wende zugunsten der Ukraine scheint damit immer
aussichtsloser zu werden. Unter diesem Vorzeichen wären Friedensverhandlungen die letzte
Chance, die Ukraine vor noch weiteren Schäden an Leib, Leben und Infrastruktur zu bewahren.
Die Bilanz , so Sachs, sei schrecklich. Das gelte auch für die Ziele der westlichen Politik: Russland
trägt keinen nachhaltigen Schaden durch die westlichen Wirtschaftssanktionen, die Erwartung,
Russland könne für diesen Krieg nicht genügend Soldaten mobilisieren, hat sich ebenso als falsch
erwiesen und die Waffen der NATO, die ja auch nach Lesart der deutschen Waffenlieferungslobby
jeweils die militärische Wende hätten herbeiführen sollen, kommen nicht zum Zuge oder reichen
nicht aus. Den Sieg-Prognosen der US-Generäle sei ohnehin nicht zu trauen. Den Sieg der USA
hätten die Militärs auch in Vietnam, in Libyen, im Irak, in Syrien, in Afghanistan vorhergesagt. Die
Realität dürfte nach aktuellem Stand auf den Schlachtfeldern auch im Falle der Ukraine eine andere
sein.
Außerdem verlöre die Ukraine zusehends an Unterstützung. Diese These wird eindringlich belegt,
durch die Einigung im US.Kongress über die Weitergeltung des dortigen Bundeshaushaltes. Diese
Einigung zwischen Republikanern und Demokraten kam am Wochenende nur zu Stande, nachdem
das Weiße Haus die Forderung nach Mitteln für die Ukraine zurückgezogen hat. In Deutschland
sind über 80% der Befragten gegen die Fortsetzung des Krieges; obwohl fast alle Medien das
Gegenteil propagieren.
Sachs erinnert an den Clausewitz-Satz, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln
und folgert, es sei jetzt also höchste Zeit, zur Politik zurückzukehren. Frieden könne erreicht
werden durch Stopp der NATO-Osterweiterung; mehr Autonomie der danach strebenden Gebiete in
der Ukraine, also eine föderale Struktur der Ukraine; die Wiederaufnahme von Verhandlungen über
nukleare Abrüstung und Rüstungsbegrenzung und die Einigung auf das Konzept der Gemeinsamen
Sicherheit, dass aus der OSZE (Organisation zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)
bekannt ist.
Im Wikipedia-Eintrag über Sachs steht, er gebe den USA die Schuld am Ukraine-Krieg. Das tut er
nicht. Er sagt, der Krieg sei vermeidbar gewesen; stattdessen seien die USA das durchaus erkannte
Kriegsrisiko eingegangen, weil andere geostrategische Interessen Priorität hätten; darunter auch das
alte Ziel von Briten und Amerikanern, Russland vom Schwarzen Meer abzudrängen.
Sachs behauptet, mit den Diplomaten gesprochen zu haben, die zwei Wochen nach dem Überfall
Russlands auf die Ukraine in der Türkei ein Friedensabkommen verhandelt hätten. Die Tatsache
eines solchen unterschriftsreifen Dokumentes wird in hiesigen Medien bestritten. Im Kern sei darin,
so Sachs, die Neutralität der Ukraine festgeschrieben worden. Briten und Amerikaner hätten die
Ukraine daran gehindert, das zu ratifizieren. Das wäre der bisherige Höhepunkt von
friedenspolitischen Fehlern und Versäumnissen, die seit der Aufkündigung des ABM-Vertrages
2002 durch die USA (es war der erste Abrüstungsvertrag, der 1973 das Verbot von Anti-Raketen-
Raketen vorsah) und die anschließende Aufstellung von US-Raketen in Polen und Rumänien zu
verzeichnen sind.
Mir sind dazu zwei überlieferte Sprüche von US-Präsidenten eingefallen: Bush junior soll – wohl
im Zusammenhang mit der NATO-Osterweiterung auf Vorschläge, mit Russland darüber zu reden,
gefragt haben: „Wer hat den kalten Krieg gewonnen, die oder wir?“ Etwas weniger ordinär hat
Obama Russland als weltpolitisch zu vernachlässigende „Regionalmacht“ bezeichnet. Zwischen der
Rede Putins im Deutschen Bundestag über das Europäische Haus und seiner scharfen Abgrenzung
vom Westen, die er 5 Jahre später auf der Münchner Sicherheitskonferenz vortrug, lagen solche
Äußerungen, die ABM-Aufkündigung und die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in
Reichweite nach Russland. Zufall?
Gemeinsame Sicherheit hätte auf jeden Fall verlangt, über solche gravierenden Entscheidungen mit
dem Vertrags- und Sicherheitspartner Russland zu reden, eine Einigung zu suchen, statt bloß zu
informieren. Inzwischen ist das gesamte System der atomaren Balance außer Kraft gesetzt.
Ein wichtiges Argument mehr, statt militärischer und politischer Eskalation unbedingt auf
Verhandlung und Frieden zu setzen. Sonst steht nicht nur die Ukraine sondern gleich das ganze
Nuklear-Schlachtfeld Europa auf dem Spiel.
Deswegen brauchen wir eine neue Friedensbewegung. Dringend.