Man kann darüber diskutieren, wer wen mehr braucht, der Kanzler den SPD-Fraktionschef oder umgekehrt. Ich meine, der Kanzler ist mehr abhängig von seinem Fraktionschef. Klar ist, dass ein Streit, wie er jetzt in der Frage der Nachrüstung zwischen beiden abläuft, der SPD und Scholz schadet. Ein Streit, den der Kanzler zu verantworten hat. Weil er Rolf Mützenich nicht vorab informiert hatte. Ein Thema, das in den Bundestag gehört, könnte doch im Ernstfall die Bundesrepublik zum Schlachtfeld werden. Führende SPD-Politiker wie der frühere SPD-Chef Norbert Walter-Borjans haben sich in einer Erklärung, gerichtet an die SPD-Spitze, zu Wort gemeldet und ihre „Besorgnis über die Schlagseite“ geäußert, „mit der gegenwärtig über Pro und Contra einer Stationierung von US-Langstreckenraketen in Deutschland und Wege zu einem Ende des Blutvergießens in der Ukraine diskutiert wird.“ Was die Autoren des Papiers- sie gehören dem Erhard-Eppler-Kreis an- „befremdet, ist das Schweigen der Führungen von SPD und SPD-Bundestagsfraktion zu der von Rolf Mützenich angestoßenen Debatte. Wir erleben tagtäglich nicht nur an der sozialdemokratischen Parteibasis, wie vielen Rolf Mützenich aus der Seele spricht.“ Mützenich ist gegen die Stationierung.
Der Kanzler und der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Ich habe mal gelernt, dass das Parlament über dem Kanzler steht, es wählt ihn ja auch. Im Protokoll des Bundes rangiert der Bundestagspräsident über dem Bundeskanzler. Das hat schon einen Helmut Kohl geärgert, hat aber an der Sachlage nichts geändert. Und das ist heute noch so. Olaf Scholz wäre ohne die Unterstützung von Rolf Mützenich ein König ohne Land. Mützenich besorgt dem SPD-Regierungschef die nötige Mehrheit(Neben den Chefs der Fraktionen von Grünen und der FDP.) Und dieser Mützenich ist bekannt dafür, dass er sich stets für Frieden und Ausgleich eingesetzt hat, für Abrüstung und Entspannung. Er hält sich in der Debatte um den Haushalt 2025 weiter die Option einer Notlage offen, um die Kriegskosten für die Ukraine von der Schuldenbremse auszunehmen, weil der SPD-Politiker das Geld lieber in Investitionen in anderen Ressorts, u.a. das soziale, stecken will. Und das soll ein anti-amerikanischer Reflex sein, so die Union, und die FDP schiebt nach, Mützenich „ist und bleibt im Schützengraben des Bonner Hofgartens und führt ewiggestrige Debatten.“ Wenn das Thema nicht so ernst wäre, könnte man darüber lachen.
Mützenich muss sich von Scholz übergangen fühlen, denn schon das 100-Mrd-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr war von Scholz in seiner Zeitenwende-Rede ohne Absprache mit dem Fraktionschef als Wumms rausgehauen worden, dazu die Ankündigung des Kanzlers, künftig den Wehretat auf mindestens zwei Prozent des Bruttosozialprodukts anzuheben mit Mehrkosten von Zig Milliarden Euro, was zu Lasten anderer Lebensbereiche gehen muss und jetzt die von Scholz verkündete geplante Stationierung von US-Marschflugkörpern vom Typ Tomahawk(Reichweite 2500 Km), die auch nuklear bestückt sein können sowie weitreichende Hyperschallwaffen in Deutschland. Man darf bezweifeln, dass der Kanzler seinen Fraktionschef darüber in Kenntnis gesetzt hatte, wie sonst wären die öffentlich vorgetragenen Bedenken Mützenichs zu verstehen. Dass es in der Partei zu rumoren beginnt, der Partei, deren eine Wurzel die Friedenspolitik ist, woran kürzlich ein Urgestein der Sozialdemokratie, Klaus von Dohnanyi erinnerte und dabei die Führung der SPD heftig kritisierte, weil sie diese Wurzel habe vertrocknen lassen, darf doch niemanden verwundern. Eher kommt es mir noch zu leise vor in der ältesten deutschen Partei.
Nebelkerzen in der Debatte
Die Art und Weise, wie das Kanzleramt versucht, mit Nebelkerzen die Debatte zu beeinflussen, dürfte viele Sozialdemoraten verärgern. Von wegen „lange vorbereitet sei die Entscheidung“, wurde Scholz vor Tagen zitiert, und diese Entscheidung sei „für alle, die sich mit Sicherheits- und Friedenspolitik beschäftigen, keine wirkliche Überraschung.“ Seit wann, Herr Bundeskanzler, gehört Rolf Mützenich nicht mehr zu diesen Personen, „die sich mit Sicherheits- und Friedenspolitik beschäftigen?“ Es wird erzählt, Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt habe Entsprechendes verlauten lassen und darauf verwiesen, dass der Kanzler bei der Münchner Sicherheitskonferenz darüber gesprochen habe. Davon ist anderen Teilnehmern der erwähnten Konferenz nichts bekannt, vielleicht waren sie da auch gerade in einen Dämmerschlaf versunken.
Nein, Herr Scholz, diese Art der Informationspolitik ist nicht nur nicht gut, sie ist sogar schlecht und sie stellt ihren wichtigsten Mann bloß. Mützenich hatte Bedenken wegen der Stationierung geäußert. Die Risiken einer solchen Stationierung dürften nicht ausgeblendet werden. Die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation sei beträchtlich. Unterstützung bekam Mützenich von Ralf Stegner. Zeitenwende heiße Verteidigungs- und Bündnis- sowie Wehrhaftigkeit, räumte Stegner ein, aber nicht, „dass wir anfangen müssen, in der ganzen Welt aufzurüsten.“ Sie heiße nicht, “ dass wir der Rüstungsindustrie jeden Wunsch von den Augen ablesen“ müssten, sie heiße nicht, dass „wir Waffen in die ganze Welt exportieren und glauben, das wäre die neue Wirtschaftspolitik“.
In einem Papier des Erhard-Eppler-Kreises(benannt nach dem einstigen Entwicklungshilfeminister, ein Mann der Friedensbewegung) wird davor eindringlich gewarnt, „die Gefahren einer Stationierung von Langstreckensystemen mitten in Europa zu unterschätzen.“ So hatte auch Mützenich argumentiert. Zu einem demokratischen Ringen um den richtigen Weg gehöre, so die Verfasser des Papieres, das dem Blog-der-Republik seit Tagen vorliegt, beide Seiten anzuhören, nicht nur die Meinung, „dass ein Waffenstillstand in der Ukraine und der Schutz Europas vor Putins imperialistischem Streben nur durch Abschreckung und gegenwärtig ohne damit einhergehende Aufforderung zum Eintritt in Abrüstungsverhandlungen gelingen kann.“ Aber es gehöre auch dazu, „unsere und von vielen geteilte gänzlich andere Einschätzung zu respektieren“, so die Mitglieder des Erhard-Eppler-Kreises, dem auch Ernst-Ulrich von Weizsäcker und der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt Gernot Erler angehören. Es gehe „um nicht viel weniger als um die Frage, ob unser dicht besiedeltes Land zum Ziel eines atomaren Erstschlags werden könnte- eine Frage, die auch die glühendsten Befürworter dieser Art von Abschreckung nicht definitiv ausschließen können. Dessen ungeachtet wird Kritik entweder totgeschwiegen oder in einer Weise herabgesetzt, die mit dem Stil einer demokratischen Debatte nicht in Einklang steht.“
Abseits des Schlachtfelds
In der Tat greift es völlig daneben, das Plädoyer, „abseits des Schlachtfelds Wege zu einem Ende der Kämpfe zu suchen“, wie es Mützenich anregt, als „Aufruf von Träumern zu diskreditieren, die weiße Flagge zu hissen und dafür die Knechtschaft Putins in Kauf zu nehmen. Das ist ein inakzeptabler Umgang miteinander.“ Die Autoren des Papiers erwarten von der Führungsebene der Partei und der Fraktion, Farbe zu bekennen und den Fraktionsvorsitzenden gegenüber disqualifizierenden Vorwürfen zu verteidigen. „Und wir würden uns von der Parteispitze(SPD-Chefs sind Saskia Esken und Lars Klingbeil, Generalsekretär Kevin Kühnert) gegenüber den Medien mehr sichtbaren Einsatz dafür wünschen, dass kontroverse Positionen in der Stationierungsfrage ohne Vorverurteilung einer Seite fair gegenübergestellt werden. Auch Schweigen ist eine Meinungsäußerung.“
Während der Kanzler die Stationierung von gegen Russland gerichtete Marschflugkörper auf deutschem Boden für alternativlos hält und sagt, die am Rande des NATO-Gipfels von ihm verkündete bilaterale Entscheidung werde von der SPD mitgetragen und er und Mützenich würden „sehr gemeinschaftlich handeln auch in der Frage, was für die Sicherheit Deutschlands wichtig ist“, nahm die Diskussion über das Thema wie die Kommunikation des Problems durch den Kanzler an Fahrt auf. Auch dass das Parlament sich mit dem Thema befassen müsse, wird gefordert, nicht nur von der Union, sondern auch der SPD. Dafür plädierte der frühere Außenminister Sigmar Gabriel(SPD), den stört, dass die geplante Verlegung weitreichender Waffen nach Deutschland nicht ausreichend diskutiert worden sei. Ihn störe nicht die Stationierungsabsicht selbst, sondern, dass „einfach entschieden wird.“
Ralf Stegner forderte, das Thema müsse „größer“ diskutiert werden, im deutschen Bundestag wie in der SPD. „Jetzt zu sagen, wir machen einen Rüstungswettlauf, birgt viele Probleme. Es gibt bisher schon see- und luftgestützte Fähigkeiten, Russland abzuschrecken, aber mit entsprechender Vorwarnzeit.“ So ähnlich die Position von Mützenich. Der Kanzler sieht das anders. Die vorhandene Abschreckung reiche nicht, da sich Russland massiv über alle Rüstungskontrollvereinbarungen hinweggesetzt habe. Es gehe, so Scholz, um notwendige Abschreckung, „damit es eben nicht zu einem Krieg kommt.“ Und natürlich hat Putin längst mit einem Konter seitens Moskau gedroht, man werde spiegelgerecht reagieren mit entsprechenden Waffen. Für die Union, immer schon eine Raketen-Partei, betonte Fraktions-Vize Johann Wadephul, die Stationierung sei die notwendige Antwort auf eine bereits bestehende Bedrohung durch von Russland in Kaliningrad stationierte Iskander-Raketen.
Ein Blick zurück schafft keine Klarheit, ist aber hilfreich. Am 24. Mai 1981- Helmut Schmidt war noch Kanzler- schrieb Rudolf Augstein, Gründer und Herausgeber des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ über Bonn und die sogenannte Nachrüstung. „Politische und Militär-Doktrinen hat es seit Menschengedenken gegeben. Manche haben genützt, bei der Mehrzahl aber wundert sich der Hinterherbetrachter, wie denn solcher abstruser Stuß für nützlich, ja für einzigartig jemals hatte gehalten werden können.“ Solch ein Monstrum sei der NATO-Doppelbeschluss. Und so zitierte Augstein aus einem Buch von Schmidt aus 1968 „Verteidigung und Vergeltung“. Darin habe Schmidt dargelegt, so der Spiegel-Chef, „wie bedenklich es sei, Polaris-Raketen mit Hilfe von Binnen-Schiffen und Eisenbahnen in Europa zu stationieren. Landgestützte Systeme gehörten nach Alaska, Labrador, Grönland oder in die Wüsten Libyens und Vorderasiens, keineswegs aber in dichtbesiedelte Gebiete. Sie seien Anziehungspunkte für die nuklearen Raketen des Gegners.“ Gar nichts, kommentierte Augstein, habe sich daran geändert, also im Zeitraum 1968-1981, „vielmehr herrscht Einigkeit unter den Experten, dass die Nachrüstung militärisch überflüssig ist“. Und dann zitiert Augstein noch Richard Garwin, Mitkonstrukteur der H-Bombe und alles andere als ein Rüstungsgegner: Die Amerikaner hätten sehr viel mehr Waffen als Ziele, die sie vernichten könnten. So ist es heute noch. Die Nachrüstung macht keinen Sinn, wir könnten schon jetzt mit den vorhandenen Waffen unsere gesamte Erde in die Luft sprengen. Warum dann noch mehr davon?!
Bildquelle: flickr, SPD Schleswig-Holstein, CC BY 2.0