Im Spätsommer 1951 ging es mit dem Interzonenzug über Helmstedt ab in Richtung Westen. Unsere Mutter wurde aus Sicherheitsgründen mit dem Flugzeug nach Hannover ausgeflogen. Durch Vermittlung von Onkel Erich, der dort für uns eine Aufenthaltsgenehmigung erwirkt hatte, zogen wir im Spätsommer 1951 nach Königslutter in eine abenteuerliche Zweizimmerwohnung, die diese Bezeichnung eigentlich nicht verdiente, in der Elmstr. 11. Damit war die Familie wieder vereint. Die Freude war groß, dass der Vater, der ja bereits 1947 aus der Sowjetzone geflüchtet war, nun wieder zur Familie gehörte. Die Oma fand ihre vorläufige Bleibe bei ihrem Sohn Erich in Bettmar bei Vechelde in der Nähe von Braunschweig, was für mich noch eine positive Bedeutung bekommen sollte.
Die Wohnung: man ging durch den Flur des Vorderhauses auf einen Hinterhof mit Stallgebäuden, wovon ein kleiner Teil notdürftig zu Wohnzwecken hergerichtet war. Über eine hölzerne Treppe über dem Hauptstall war die sogenannte Wohnung erreichbar. Die Küchentür war gleichzeitig Wohnungstür. An die Küche grenzte das Wohnzimmer, das den Eltern auch als Schlafzimmer diente. Aus der Küche führte eine steile Holztreppe ins Obergeschoss mit dem einzigen Schlafzimmer für uns Kinder. Bad oder Toilette gab es nicht. Für das kleine oder große Geschäft musste man in den Hof, das Plumpsklo aufsuchen. Als Heizung für die ganze Wohnung fungierte der Küchenherd, der wechselweise mit Holz oder Kohle betrieben werden konnte. Für Küche und Wohnzimmer reichte dies in der kalten Jahreszeit einigermaßen aus, nicht aber für das Kinderzimmer. Die einzige Waschgelegenheit, kalt, bestand aus einem emaillierten Metallbecken in der Küche. Die Fußböden waren mit Linoleum belegt. Das Wohnzimmer war mit zwei Bettsofas, einem Couchtisch und einem halbhohen Schrank ausgestattet, auf dem ein altes Radio stand. Später war dies auch Standort für mein erstes Aquarium. Die Küche war außer dem Herd mit einem Geschirrschrank und einem Tisch mit sechs Stühlen eingerichtet.
Das Leben in dieser Wohnidylle war nicht unkompliziert. Schon das Schlafen war für uns Geschwister problembehaftet. Es gab nämlich für vier Personen nur drei Betten. Brigitte und Renate waren stolze Nutzerinnen je eines Bettes. Sabine und ich mussten uns eines teilen. Wir schliefen beide je mit dem Kopf neben den Füßen des anderen. Als der Kleinste musste ich mich mit den zwangsläufig meistens ungewaschenen Füßen und deren Geruch arrangieren. Käse war mir deshalb, so glaube ich, während meiner ganzen Kindheit ein Gräuel. Im Winter wurden unsere Betten mit in Zeitungspapier eingewickelten Ziegelsteinen, die vorher auf dem Küchenherd gelagert waren, angewärmt. Bei nicht seltenen strengen Frösten war der Inhalt der Nachttöpfe gefroren. Trotzdem waren Nachttöpfe gerade im Winter absolut unverzichtbar. Schließlich hatte keiner Lust, bei Dunkelheit über die Außentreppe zum Plumpsklo zu gehen. Selbst in der warmen Jahreszeit fragte jeder von uns: „Wer geht mit?“ Es gab durchaus Grund für Furcht, nämlich Mäuse und Ratten.
Wohnen hieß, sich abwechselnd in dem Waschbecken in der Küche mit vorher erwärmtem Wasser zu waschen, Essen bereiten und konsumieren, spielen, Schularbeiten am Küchentisch machen, Wäsche waschen. Für die Wäsche gab es einen großen Einmachtopf mit außerordentlichem Fassungsvermögen und entsprechender Nutzungsvielfalt. Darin wurden auch die Monatsbinden meiner Schwestern ausgekocht. Kurzum: das Leben in seiner ganzen Vielfalt erschloss sich mir recht früh.
Der Eigentümer des Hauses samt Ausbauten war ein ehemaliger Regierungsinspektor, der offenbar als eingefleischter Nazi eine dubiose Rolle in der Stadt während des Dritten Reichs gespielt hatte. Jedenfalls gelang es ihm, sich nach Kriegsende von der Spruchkammer das Prädikat „Mitläufer“ zu erschwindeln. Unter seiner Wohnung im ersten Stock des Vorderhauses wohnte eine weitere Flüchtlingsfamilie mit Namen Stansch. Nach meiner Erinnerung gab es dort zwei Töchter mit verschiedenen Vätern. Herr Stansch hatte wohl kurze Zeit im KZ verbracht, was der Familie die bevorzugte Wohnungseinweisung verschaffte. Erst später soll sich herausgestellt haben, dass die Ursache für die Inhaftierung eine Selbstverstümmelung zur Vermeidung des Kriegsdienstes war. Jahre später haben wir dann von der Einweisung der Familie in das Armenhaus der Stadt erfahren.
Königslutter, das seit ca. 1400 Stadtrechte besaß, war damals eine Stadt mit rund 9.000 Einwohnern, davon ca. 3000 Flüchtlinge. Städtebaulich geprägt war sie von zwei romanischen Kirchen aus dem 12. Jahrhundert und einer recht großen Zahl von Gebäuden aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Für Unterlutter war die Stadtkirche und für Oberlutter der Dom bedeutend. Letzterer hatte damals auch als Grabstätte von Kaiser Lothar III. eine erhebliche historische Bedeutung als Baudenkmal, was ihm in Norddeutschland einen Rang ähnlich dem des salischen Doms von Speyer verlieh. Lothar wurde als sächsischer Herzog 1125 zum Deutschen König gewählt, was der Stadt den Namen Königslutter einbrachte. Der Dom mit einem herrlichen Kreuzgang war umgeben von einem sehr schönen Park und den Resten eines Benediktinerklosters. Betreten konnte man das Parkgelände nur durch ein kontrolliertes Tor mit Wärterhaus. Dies hatte einen durchaus verständlichen Grund. Der schöne Park mit einer Linde, die zum Baubeginn des Doms im Jahr 1135 gepflanzt worden sein soll, gehörte zum Landeskrankenhaus, das neben vielen anderen Gebäuden auch eine Irrenanstalt mit großer geschlossener Abteilung beherbergte.
Ich hatte Zugang zu dem Park durch die Freundschaft mit Uwe Petzold, Sohn des Verwalters des Landeskrankenhauses sowie der Liegenschaften, den ich noch aus Grundschultagen kannte. Er war, wie man so schön sagt: erdverbunden. Angeln war sein Hobby und gemeinsam mit seinem Vater das Halten von Tauben. Gelegentlich hat er uns mit der Hand gefangene Forellen aus der nahen Schunter gebracht. Einmal hat ihn unsere Mutter gebeten, uns ein paar Tauben zu verkaufen. Er kam mit einem alten Sack an. Stutzig machte mich, dass sich etwas im Sack bewegte. Seine Antwort war wie selbstverständlich: man müsse die Tauben noch töten. Als ich mich unfähig dazu erklärte, nahm er wortlos den Sack und ging zum Mülleimer auf der Rückseite des Hauses. Nach wenigen Minuten kam er zurück und erklärte die Sache für erledigt. Den Tieren hatte er, wie er dann ganz ruhig erklärte (so macht man das!), schlicht mit einem Dreh den Kopf abgerissen. Tauben haben wir danach nicht mehr gegessen. Uwe war sehr viel später als Regierungsamtmann Nachfolger seines Vaters als Verwalter und gleichzeitig mit der Leitung der landwirtschaftlichen Liegenschaften betraut. Er ist früh an Leukämie gestorben.
Statt der Tauben haben die Eltern dann regelmäßig Wildfleisch von einem schießwütigen Nachbarn, Lehrer Ließtmann, gekauft. Er kam häufig an die Wohnungstür und hielt das gerade erbeutete Tier, ob Ente, Hase oder Teile vom Reh, als verlockendes Angebot am ausgestreckten Arm in die Höhe und nannte auch gleich den Preis. Neben der Jagd war seine zweite große Leidenschaft ein Goggomobil Coupé mit roten Kunstledersitzen. Das knatternde Ungeheuer bot zwar nur kleingewachsenen Menschen oder Masochisten hinreichend Platz, war aber für damalige Verhältnisse todschick.
Gelegen war das Städtchen Königslutter am Rande des Elms, einem kleinen Mittelgebirge mit den größten Buchenwäldern Norddeutschlands. Mittendrin war der Tetzelstein, ein Ausflugslokal mit Gedenkstein an den Mönch Tetzel, der hier sein Ablassunwesen im frühen 15. Jahrhundert getrieben haben soll. Auch das Reitlingstal am Rande des Elms war und ist wohl noch heute ein beliebtes Ausflugsziel mit dem in nur wenigen hundert Metern entfernten Funkturm. Der war bereits 1950 als Abhörzentrum der Briten gegen die DDR und die sowjetische Besatzungsarmee errichtet worden.
Unsere Familie hat diese Ausflugsmöglichkeiten jedenfalls über die Jahre intensiv genutzt. Dem Ort am nächsten gelegen war das Ausflugslokal Lutterspring mit der Quelle der Lutter, die zweite Namensgeberin für Königslutter war. Der große Bach durchquerte von der Quelle her die ganze Stadt.
Ein wesentlicher Teil des wirtschaftlichen Fundaments für Königslutter waren die Rotowerke, der größte Hersteller von Rotationsdruckmaschinen in Europa. Außerdem war da noch die Zuckerfabrik, die die Rübenernte eines großen Einzugsgebiets verarbeitete und im Herbst für Gestank und Wolken von Staub sorgte. Der ursprüngliche Reichtum der Stadt, die Brauerei von Ducksteinbier, hatte nur noch rudimentäre Bedeutung. Das sehr beliebte und etwas süßliche obergärige Bier wurde mit dem Wasser der Lutter gebraut und noch im 18. Jahrhundert von mehr als 70 kleinen Brauereien hergestellt. Dies lässt sich noch heute am Baustil vieler Fachwerkhäuser mit übergroßen Dielen erkennen.
Die Elmstraße, wo unsere Wohnung lag, führte direkt in den Elm. Nach etwa 100 Metern kreuzte sie das Steinfeld, das nach links gehend und vorbei an einem hübschen kleinen Park mit Ententeich, dem Glockenkamp, und den Mauern des Parks und des Domgeländes zum Wasserfall der Lutter und dem angrenzenden Anstaltsteich mit einer bezaubernden kleinen Insel führte. Durch die Freundschaft mit Uwe erhielt ich auch Zugang zu dieser sonst nur von Angestellten der Liegenschaftsverwaltung betretbaren Insel. In der Inselmitte gab es ein altes Schwimmbecken, das nur noch von zahlreichen Fröschen und Fischen benutzt wurde. Selbst als Kind erschloss sich mir der Zauber dieses Ensembles.
Am Wasserfall der Lutter, ebenfalls am Elm gelegen, begann das Gelände „Unter den Eichen“ mit drei parallel auf unterschiedlichen Ebenen verlaufenden Wegen entlang der Lutter und mehreren Quellen, davon einer der Kutscherteich. Der Sage nach war hier in dem sehr tiefen kleinen Quellteich eine Kutsche samt Pferd und Kutscher versunken. Um Wiederholungen zu vermeiden, war das Teichlein mit einem stabilen Holzgeländer abgesichert. Das gesamte Quellgebiet gehörte zur Hauptquelle der Lutter am Ausflugslokal Lutterspring. Rechts vom Kutscherteich ging es bergan vom 1. Weg über den 2. und 3. hinauf auf eine Höhe von gut 300 Metern. Im Winter war dies der Rodelberg. Wer nicht rechtzeitig abbremste, landete in einer der Quellen.
Am Lutterspring war auch der Fußballplatz der Stadt. Unser Vater war ein begeisterter Anhänger dieses Sports. Er schleppte mich im Sommer öfter mit zu einem Spiel. Für mich war dies besonders öde, weil ich zu klein war, um über die vor mir Stehenden hinwegzusehen. Das Spiel war deshalb nur ein Hörspiel mit besonderer Lautstärke. Dass sich solcher Lärm noch erheblich steigern lässt, habe ich beim Endspiel der Fußballweltmeisterschaft Deutschland gegen Ungarn 1954 erfahren.
Mein Vater hat mich zu diesem Spiel in eine Kneipe in Ochsendorf, einem späteren Ortsteil von Königslutter, mitgenommen. Vollgestopft mit qualmenden Männern stand auf einem Podest der Fernseher mit der damals größten Bildröhre von 53cm. Fernseher waren zu der Zeit noch ein äußerst rares und enorm teures Gut. Wir standen geschätzt 7-8 Meter von dem Bildschirm entfernt. Ich konnte also nur winzige Figuren hin und her flitzen sehen. Als das Siegtor zum 3 zu 2 von Helmut Rahn geschossen wurde, brach ein infernalisches Geschrei aus. Unausgesprochen war das für die Erwachsenen wohl ein unglaubliches Gefühl der Befreiung: Wir sind wieder wer! Vom Paria des Weltkriegsverlierers zum Weltmeister!
An der Kreuzung Elmstraße/Steinfeld gab es einen Bäcker, von dessen herrlichem Schwarzbrot ich große Mengen vertilgen konnte. Ihm gegenüber war unser Einkaufsladen für den täglichen Bedarf. Ich habe keinen Einkauf mit den Eltern versäumt, weil es neben den üblichen Rabattmarken für Kinder immer kleine Plastikfiguren wie das Segelschulschiff Passat oder Autos gab. Damit wurde mit den anderen Kindern getauscht.
Eine weitere Sehenswürdigkeit war das Rieseberger Moor mit dem Pappelsee. Während des „tausendjährigen Reichs“ gab es dort ein Zweiglager des KZs Bergen-Belsen. Christels Vater hat hier nach dem Krieg im Auftrag der britischen Besatzungsarmee halb verweste Leichen ausgegraben, was ihn mehr beschäftigt hat als der vierjährige Kriegsdienst an allen Fronten. Die Summe dieser Ereignisse hat ihn zu einem sehr schwierigen Menschen gemacht.
Die schulischen Möglichkeiten in Königslutter waren begrenzt. Hauptschule mit Grundschulzug und Mittelschule mussten genügen. Brigitte war gezwungen, zur Erlangung der Mittleren Reife nochmals die 10. Klasse zu durchlaufen. Die Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen aus der DDR war ein Drama und spiegelte die gegenseitige Feindseligkeit wider. Ich hatte einige Jahre später das zweifelhafte Vergnügen, als Fahrschüler in das Gymnasium nach Helmstedt, der 16 Kilometer entfernten Kreisstadt, zu fahren.
Der Start für unsere Eltern mit dem Ballast der vier Kinder in der neuen Umgebung war extrem schwer. Ein altes Damenfahrrad wurde mit einem Hilfsmotor namens „Flink“ ausgestattet und war das Hilfsmittel für die Vertretung eines Unternehmens mit Angora-Unterwäsche. Der 1-PS-Motor mit Tank trieb über ein Rollensystem das Vorderrad an. Bei Regen oder stärkeren Steigungen versagte das System seinen Dienst. Vater und Mutter, die mit mäßigem Erfolg auch an Haustüren klingelte, plagten sich mit diesem Gefährt und einem weiteren Fahrrad zur Ernährungssicherung der Familie ab. Ich habe damals der Mutter versprochen, ihr, wenn ich groß bin, ein Schloss zu kaufen.
Aber nach nur einem Jahr gelang unserem Vater der Sprung in eine bessere berufliche Situation. Er wurde Geschäftsführer der Pfaff-Nähmaschinen-Niederlassung in Braunschweig. Verbunden war damit die Überlassung eines Dienstwagens. Dies war ein Brezel-Käfer mit karierten Sitzbezügen, die mit Kunstleder abgerundet waren. Auch ein Radio und eine kleine Blumenvase am Armaturenbrett waren vorhanden. Kurzum: reiner Luxus für die damalige Zeit. Natürlich wurde der Käfer auch für die regelmäßigen Sonntagsausflüge genutzt. Neben Tetzelstein und Reitlingstal war der Harz bevorzugtes Ziel, und zwar im Sommer und Winter. Willkommene Abwechslung waren ebenfalls Besuche bei Onkel Werner in Seesen, am Rande des Harz gelegen. Der jüngste Bruder unseres Vaters hatte dort eine Bauerstochter geheiratet, die einen schönen Resthof samt großem Garten mit in die Ehe gebracht hat. Tante Emmi konnte gut kochen, was unsere Eltern mit vier Kindern zu nutzen wussten. Der Kontakt zu seinem ebenfalls jüngeren Bruder Kurt wurde aus mir nicht bekannten Gründen erst mehr als 10 Jahre nach dem Krieg wieder aufgenommen. Onkel Kurt war vor und während des Krieges Angestellter bei IG Farben. Es kann sein, dass sich die Brüder Willi und Werner Gedanken über diese Tätigkeit gemacht haben, die Onkel Kurt wohl auch in die besetzten Ostgebiete geführt hat. Mir fielen in sehr viel späteren Jahren seine merkwürdigen Ansichten über die Nazis auf. Er zeichnete sich auch durch einen extremen Geiz aus.
Meinem Entfaltungsdrang waren in der neuen Umgebung bis auf die häuslichen Verhältnisse wenig Grenzen gesetzt. Gegenüber dem Wohnhaus war der sogenannte Rummelplatz gelegen. Zweimal im Jahr war hier ein super Vergnügen angesagt. Vor allem die elektrischen Autoscooter, mit denen man ungestraft andere Fahrer rammen konnte, standen hoch im Kurs bei uns. In den späten fünfziger Jahren stand besonders der Reiz der neuen Rockmusik an erster Stelle. Während der restlichen Zeit wurde der zentrale Veranstaltungsplatz des Ortes vor allem als Bolzplatz für die Kinder genutzt. Vom Frühjahr bis zum Herbst hatte außerdem ein Rollerverleiher an den Wochenenden dort seinen Standort. Für 50 Pfennig pro Stunde bedeutete dies für mich den ganz großen Spaß. Die luftbereiften stabilen Roller wurden zum Schreckgespenst für ältere Fußgänger. Einmal, ich glaube im Winter 1953/54, fiel extrem viel Schnee. Aus dem ganzen Städtchen wurde der geräumte Schnee auf den Rummelplatz abgekippt. Es entstand binnen zwei Tagen ein ca. 2,5 Meter hoher Schneeberg, der sich bei strengem Frost sehr verfestigte. Für die Kinder der anliegenden Straßen war ganz schnell klar, was sich daraus ergeben konnte: ein riesengroßer Iglu nach Art der Eskimos. Eine ganze Horde Kinder buddelte und kratzte den Schneeberg aus, bis sich eine stattliche Höhle ergab. Wohl mehr als eine Woche währte dieser Spaß. Dann setzte Tauwetter der Sache ein Ende.
Sonntags waren Ausflüge oder Spaziergänge mit der ganzen Familie Pflichtprogramm. Das eine dreiviertel Stunde Fußmarsch entfernte Rieseberger Moor faszinierte uns alle. Der Weg führte über Felder durch die Fuhren, einen größeren Kiefernwald. Auf dem letzten Teil bis zu einem kleinen Ausflugslokal, in dem ich die erste Bekanntschaft mit Coca-Cola machte, war Vorsicht angesagt.
Überall waren blubbernde Wasserflächen zu sehen. Stellenweise war der Weg ziemlich weich und mit Holzbohlen gesichert. Auch die Spuren von früheren Torfstichen waren in Form kleiner Tümpel sichtbar. Über dem Ganzen lag jedenfalls ein Hauch von Abenteuer, der noch durch allerlei Gruselgeschichten über Moorleichen bestärkt wurde.
Wenn meine Schwestern so gar keine Lust auf lange Spaziergänge hatten und unsere Mutter Kochdienste zu leisten hatte, musste ich allein dran glauben. Die Elmstraße führte über das nahe Ortsende hinaus an einem allein gelegenen Sägewerk vorbei bergan direkt in den Elm. Unser Vater war ziemlich unermüdlich bei diesen Spaziergängen. Dies galt nicht nur für die Wegstrecke, sondern ebenfalls für seinen erzieherischen Erklärdrang über die Eigenheiten der Natur. Ich lernte so Feuersalamander von normalen Eidechsen zu unterscheiden und Vogelstimmen zu bestimmen. Einen Waldblumenstrauß für die Mutter zu pflücken, gehörte sowieso zu den Spaziergängen dazu. Einmal packte mich im Sommer auf dem Rückweg der große Durst. Vater klopfte an die Wohnungstür der Betreiber des Sägewerks und bat um ein Glas Wasser für mich. Wenige Wochen später heulten in der Nacht die Sirenen. Das Sägewerk brannte samt Holzlager bis auf die Grundmauern ab. Für alle Kinder und Erwachsenen war das ein willkommenes Spektakel. Jetzt die rauchenden Trümmer und dann die frische Erinnerung an das schöne alte Gebäude und die ratternden Sägen! Gerüchte über Brandstiftung machten rasch die Runde, konnten aber nie nachgewiesen werden. Jedenfalls wurde aus dem Gelände nach der Ortserweiterung ein wunderbarer Bauplatz.
Tiere aller Art haben mich schon früh interessiert. Deshalb habe ich meine Eltern bald so lange gequält, bis sie mir ein kleines Aquarium gekauft haben. Für eine Heizung oder einen Wasserfilter wurde aber kein Geld angelegt. Deshalb musste täglich temperiertes Wasser zugegeben werden. Das Vergnügen dauerte bis zum Winter. Die ersten kalten Nächte ließen die Temperaturen im Wohnzimmer so stark absinken, dass sämtliche Fische am nächsten Morgen bäuchlings oben auf dem Wasser trieben. Das Aquarium wurde abgeschafft und gegen eine weiße Maus samt Käfig ersetzt. Eines Tages entkam das hübsche Tierchen der Käfighaft und setzte sich zu ihren grauen Artgenossen, die es in der Wohnung zahlreich gab, ab. Unsere Eltern versuchten, sich dieser Plage durch das regelmäßige Aufstellen von Mausefallen zu erwehren. Das gelang nur mit mäßigem Erfolg. Irgendwann lag in der Falle erschlagen eine weiß-grau gefleckte Maus. Da wussten wir, dass sich die geflüchtete weiße Maus erfolgreich ihren Verwandten angeschlossen hatte.
Mit der Flucht aus der DDR war die Oma in Bettmar, einem kleinen Dorf in der Nähe von Braunschweig und Vechelde, gelandet. Untergebracht war sie in einer winzigen Wohnung auf einem Bauernhof. Ihr Sohn, unser Onkel Erich, wohnte mit Ehefrau Hilde und Sohn Peter ebenfalls in dem Ort und hatte Oma dort die Wohnung besorgt. In den Jahren 1952/53 habe ich einen Teil der Sommerferien in Bettmar verbracht und bei der Oma gewohnt. Das Dorfleben war mir zwar nicht unbekannt, aber hier doch ganz anders als auf Usedom. Gemeinsam mit Cousin Peter bin ich auf Treckern bei der Ernte mitgefahren. Großen Spaß hatten wir beim Ausräuchern von Mäusen aus ihren Nestern auf den abgeernteten Feldern. Dazu wurden mit Schwefel ummantelte Schnüre angezündet und in die Mauselöcher geschoben. Den Rest besorgte der Bauer. Insgesamt bot sich mir in diesen Ferien ein ungewohnter Freiraum, den ich sehr genoss.
Für 50 Pfennige, die ich von der Oma erhielt, war alle zwei Wochen ein Kinobesuch im Dorfgemeinschaftssaal obligatorisch. Einmal gab es „Zorros schwarze Peitsche“ zu sehen. Der Film mit dem die Peitsche schwingenden Zorro war so aufregend, dass Cousin Peter vergaß, rechtzeitig auf die Toilette zu gehen. Seine neue Lederhose, auf die er sehr stolz war, wies am Latz einen verräterischen Fleck auf.
Bei unserer Ankunft in Königslutter war ich erneut in die erste Klasse eingeschult worden, weil alles, was in der DDR als Bildung verabreicht wurde, im Westen als unzureichend galt. Das Schulgebäude stammte aus dem frühen 20. Jahrhundert und war aus Kalksteinblöcken aus dem Steinbruch im Elm gebaut. Es beherbergte sowohl die Grundschule wie auch die Mittelschule. Der schöne Schulhof war begrenzt durch die Stadtkirche und das Rathaus. Das ganze Ensemble grenzte an den zentralen Marktplatz. Von dem ging die Westernstraße ab, die mit vielen Geschäften bedeutend für das Stadtleben war.
Dazu gehörte auch der Bäcker Langner mit dem sehr beliebten Mohnkuchen und nebenan einem Spielwarenladen, an dessen Schaufenster ich mir die Nase plattgedrückt habe. Ein Stück die Straße hoch gab es das Bekleidungsgeschäft Klages, dessen großes Schaufenster allerdings weniger dem Geschäft als der riesigen Fossiliensammlung des Besitzers gewidmet war. Fundort für die einzelnen Stücke war der Steinbruch im Elm.
Abgerundet wurde das Bild der Innenstadt durch den Zollplatz, von dem die Braunschweiger Straße abging. Dort gab es das Deutsche Haus, Kneipe und Tanzboden am Wochenende, sowie das Kino.
Samstags war immer Programmwechsel. Ein Saalplatz kostete 50 Pfennige, Sperrsitz 75 und Balkon 1 DM. Der sonntägliche Kinogang war für mich obligatorisch, wenn die Bundesprüfstelle den Film für Kinder von 6 bis 12 Jahren als zulässig erklärt hatte. Der Filmvorführer mit Namen Conny ließ schon mal Jungs, die er kannte, für die Hälfte des offiziellen Preises in die Vorführkabine, die über mehrere Luken mit Blick auf die Leinwand verfügte. Ich habe mit beginnender Pubertät diese Möglichkeit besonders bei Filmen ab 18 Jahren ganz gern benutzt.
Rektor der Mittelschule, die sowohl Sabine wie auch Brigitte besuchten, war Thilo Maatsch, ein liberaler Freigeist, dem die Nazis in seiner ersten Karriere als Maler 1933 als „entartetem Künstler“ Malverbot erteilt hatten. Sein beruflicher Ausweg war der Schuldienst, was ihn aber nicht daran hinderte, seiner eigentlichen Leidenschaft zunächst heimlich und nach dem Krieg durchaus erfolgreich öffentlich nachzugehen. Für die Einwohner Königslutters, die ihre Liebe zur Kunst mit Alpenpanoramen und Öldrucken von brüllenden Hirschen stillten, war seine dem Bauhaus zugeordnete Kunst ein Buch mit sieben Siegeln. Mutter pflegte öfter zu sagen, dies könne eigentlich jedes Kind.
Meine erste Lehrerin war Fräulein Mettmann, eine zerknitterte alte Jungfrau mit strenger Haartracht. Morgens mussten wir alle unsere Hände vorne auf das Pult legen. Wer schmutzige Fingernägel hatte, erhielt einen heftigen Hieb mit dem hölzernen Lineal auf die Hand. Auch sonst waren Prügel mit dem Rohrstock durchaus üblich. In Erinnerung sind mir einige Mitschüler aus diesen ersten Schuljahren geblieben. Der Kräftigste war Wolfgang, genannt Rumpel, bei dem nach der Kinderlähmung ein lahmes Bein geblieben war. Wir tauschten erfolgreich Spielsoldaten gegen Tarzan- und Akim-Hefte. Damit wurde er zu meinem Schutzpatron gegen andere Rabauken aus der Klasse. Akim-Hefte waren ab etwa 1954 der große Knüller. Die Dschungelabenteuer Akims orientierten sich von der Idee sowohl am weltberühmten Dschungelbuch wie auch an Tarzans Abenteuern. Im Grunde war es die etwas zivilisiertere Version von Tarzan mit einer Frau im Leopardenfell-Bikini, jedenfalls am Anfang der Comic-Serie. Denn bald schon hat die Bundesprüfstelle auf einem hochgeschlossenen Badeanzug für Frau Akim bestanden.
Mein Banknachbar war ein Bäckersohn aus Lauingen. Ich war dort oft zum Spielen. Unsere Mutter hielt mich vorher immer dazu an, ordentlich Kuchen zu essen, damit mein Hunger zu Hause geringer werden würde. So geschah es. Der große Reiz nach Lauingen zu fahren lag aber darin, den Tesching (Kleinkalibergewehr mit glattem Lauf auch für Schrotmunition) zur Spatzenjagd zu nutzen, der von seinem Vater zur Verfügung stand. Es gab damals eine Spatzenplage und so wurde von den Dorfgemeinden pro erlegtem Spatz 10 Pfennig gezahlt. Da ein Schuss in einen Schwarm mit Schrotmunition, von der eine Patrone 9 Pfennig kostete, regelmäßig mindestens 2-3 Spatzen traf, ergab sich für uns ein schöner Mehrwert. Kaufen konnte ich als zehnjähriger Knirps ohne elterliche Begleitung damals die Patronen beim Eisenwarenhändler Pistorius am Markt. Das anonyme Töten der Spatzen aus der Entfernung fiel mir nicht schwer. Erst als ich ein angeschossenes Tier, das noch zappelte, mit einem zweiten Schuss töten musste, war mir die Sache für immer verleidet.
Klassenbeste in der Grundschule waren behinderte Zwillinge. Sie hatten die Bluterkrankheit. Ich wurde öfter von den Eltern eingeladen, mit dem Jungen zu spielen. Dabei wurde ich zu größter Vorsicht ermahnt. Die Namen der beiden Kinder, Junge und Mädchen, die untrennbar schienen, habe ich vergessen. Irgendwann im Herbst 1952 erlitt das Mädchen wohl einen Unfall und starb. Ihr Bruder aß nicht mehr und ist wenige Wochen später einfach an Kummer ebenfalls gestorben. Die Schulbank blieb bis zum Ende des Schuljahres leer. Diese tragischen Ereignisse haben mich tief beeindruckt. Ich sehe die Gesichter der beiden Kinder noch heute vor mir.
Die dramatische Wohnungsnot hatte für uns im Frühjahr 1954 ein Ende. Ein völlig neues Wohnviertel wurde an der Helmstedter Straße am Ortsausgang hochgezogen. Viele Flüchtlingsfamilien wurden hier mit einer neuen Genossenschaftswohnung versorgt. Den heutigen Wohnansprüchen entsprachen die zweieinhalbgeschossigen Gebäude mit je fünf Wohnungen pro Eingang sicher nicht. Für uns aber war die neue Wohnung ein Paradies. Zweieinhalb Zimmer, Küche und Bad mit insgesamt 65 Quadratmetern Wohnfläche schien gegenüber der alten Wohnung Luxus zu sein. Zwar gab es keinen Balkon, dafür aber ein Bad mit einem kupfernen Warmwasserboiler, der einmal pro Woche mit Briketts beheizt wurde. Ansonsten war durch kaltes Wasser Abhärtung angesagt. Gekocht und geheizt wurde auch in der Küche mit einem schlichten Kohleofen.
Ebenfalls mit Kohleöfen waren das Wohnzimmer und das Schlafzimmer der Eltern ausgestattet. Das sogenannte halbe Zimmer mit einer Größe von 11 Quadratmetern konnte durch die offene Tür zum Wohnzimmer temperiert werden. Dies war das Refugium für meine drei Schwestern. Ich hatte ein etwas größeres Kinderbett im Schlafzimmer unserer Eltern, in dem ich nur mit leicht angewinkelten Beinen schlafen konnte. Bis zum Auszug meiner Schwester Brigitte, die recht bald eine Ausbildung als MTA in Braunschweig und Bad Salzuflen begann, war ich dieser unerquicklichen Situation ausgesetzt. Nächtliche Schlaf- und Beischlafgeräusche meiner Eltern habe ich durch intensives Husten schlagartig beendet. Die Hellhörigkeit der Wohnung war extrem. Die Fußböden bestanden aus dicken Kieferndielen, die ohne jeden weiteren Unterbau oder Isolierung auf Querträgern verlegt waren. Die Familie Wageman aus Stettin, die unter uns wohnte, hat allerhand Wohngeräusche von uns erdulden müssen. Wie sehr, konnte man von den Geräuschen auf umgekehrtem Weg ermessen. Man hörte beinahe jeden Schritt. Die Nachbarn über uns, Frau Buchheister mit schon erwachsenen 2 Kindern, haben uns an ihrem Leben ebenfalls intensiv teilnehmen lassen. Besonders der Sohn Dietz sorgte an den Wochenenden mit seinen lautstarken Sauftouren für ordentlich Spektakel.
Von dem Neubauviertel mit ungefähr 150 Wohnungen, das als Höhepunkt der Infrastruktur einen Tante-Emma-Laden hatte, war man in zehn Fußminuten im Zentrum von Königslutter mit einer Vielzahl kleiner Geschäfte aller Art. Unsere Mutter passte mit ihrem selbstsicheren Auftreten und einer gewissen Extravaganz in der Kleidung, die noch aus den sehr bürgerlichen früheren Zeiten in Swinemünde verblieben war, nur sehr bedingt in die verschlafene Kleinstadt. Der Einkauf beim Milchladen mit schickem Kostüm und breitrandigem Hut oder im Winter mit dem aus dem Krieg geretteten Pelzmantel und einer blechernen Milchkanne in der Hand, war den Einheimischen doch recht suspekt. So war der gesellschaftliche Kontakt wesentlich auf die evangelikalen Schwestern und Brüder aus einer strengen protestantischen Bewegung innerhalb der evangelischen Kirche beschränkt, die in Königslutter durch die vielen Flüchtlinge recht verbreitet war. Der fromme Eifer hat mich schon früh ziemlich gestört, weil ich immer mit Bibelsprüchen aus Abrisskalendern traktiert wurde.
Mit dem Umzug in die neue Wohnung kam auch die Oma wieder zu uns nach Königslutter. Sie bezog eine kleine Altbauwohnung etwa 10 Fußminuten von der Helmstedter Straße entfernt. Sie ging jeden Tag und bei jedem Wetter den Weg morgens hin und abends zurück. In späteren Jahren haben unsere Mutter oder ich sie auf dem Rückweg untergehakt. Tagsüber saß Oma still im Sessel und las Bibelverse oder versuchte, sich mit uns zu unterhalten, was wegen ihrer Schwerhörigkeit nicht einfach war. Sie lehnte die damals aufkommenden modernen Hörgeräte als Teufelszeug ab und beschränkte sich auf ein vorsintflutliches Hörrohr aus Kunststoff. Damit habe ich manchen Schabernack mit ihr getrieben und kräftig in den Trichter gepfiffen oder sehr laut gerufen. Die Wirkung war besonders groß, wenn sie eingeschlafen war. Für die Oma war unsere Familie von großer Bedeutung seit sie ihren Mann, Opa Franz, im Jahr 1943 verloren hatte. Wenn sie gut aufgelegt war, erzählte sie ausführlich von dem Landleben auf dem eigenen großen Bauernhof in der Nähe von Küstrin, wenige Kilometer von der heutigen Grenze zu Polen. Einer der schönsten Sprüche, an die ich mich erinnern kann, ging so: „Wenn Opa Franz auf den Hof geritten kam, flogen alle Hühner auf.“ Opa hatte nämlich bei den Ulanen gedient, einer preußischen berittenen Elitetruppe, deren Soldaten auf dem Helm einen mächtigen Federbusch trugen und noch bis kurz vor dem l. Weltkrieg mit langen Lanzen ausgestattet waren. Die gedienten Soldaten wurden regelmäßig zu Wehrübungen eingezogen und nahmen nach deren Ende Pferd und Uniform mit nach Hause. Aus dieser Redewendung der Oma wurde eine stille Bewunderung für die Durchsetzungskraft von Opa Franz deutlich. Seine drei Kinder Margarete, Frieda und Erich sahen ihn eher als Haustyrann. Ich habe ihn nie kennengelernt, aber alte Fotos zeigen einen auf zackige preußische Traditionen getrimmten und überaus selbstbewussten Mann.
Schwester Brigitte wanderte zusammen mit ihrem Verlobten Dieter Scholz nach Beendigung ihrer Ausbildung als MTA im Dezember 1956 in die USA aus, wo sie kurze Zeit später geheiratet hat. Für unsere Restfamilie hatte dies die überaus angenehme Folge, daraufhin regelmäßig Pakete mit begehrten Waren aus den USA zu erhalten. Dies verstärkte den Stolz unseres Vaters auf seine Lieblingstochter ungemein. Kubanische Zigarren, Kaffee, der zu der Zeit in Westdeutschland noch extrem teuer war, sowie Schokolade und Fleischkonserven standen zu den Festtagen auf dem Lieferprogramm. Ziemlich gleich am Anfang erhielt ich eine Schmalfilmkamera nebst Filmen auf diesem Weg geschenkt. Damit habe ich meine ersten noch sehr dilettantischen Filmversuche gestartet, die allerdings nun dokumentarischen Charakter haben. Anfang der sechziger Jahre habe ich mit inzwischen besseren Kenntnissen und einer neuen Kamera ausgestattet, einen 20-minütigen Film über Königslutter gedreht, der inzwischen im Tourismusamt Königslutters gezeigt wird. Auch bei meinen beiden anderen Schwestern und mir ließ dieser Geschenksegen die Hochachtung vor Brigitte beträchtlich steigen und ihre immer angestrebte Führungsrolle in der Kinderriege verfestigen. Alles, was mit den USA damals zusammenhing, wurde kritiklos positiv gesehen. Wer damals einige Jahre in den USA gearbeitet hatte, dem standen beruflich in Rumpfdeutschland alle Tore offen. Unser Schwager Dieter Scholz hat dies 5 Jahre später bei der gemeinsamen Rückkehr mit der Familie in die Bundesrepublik erfolgreich genutzt.
Unser Vater war bei meiner Geburt bereits 45 Jahre alt und tat sich etwas schwer, wenn er mit mir spielen sollte. Er war gesundheitlich durch die Folgen einer schweren Kopfverletzung im
1. Weltkrieg angeschlagen, was ich erst später verstand. Ein Granatsplitter hatte ihm im Frühjahr 1918 den Helm am Kopf festgenagelt. Glücklicherweise war das Gehirn zwar nicht verletzt worden, aber es wurde damit eine schwere Lähmung ausgelöst, die Monate dauerte. Die entsetzlichen Gräuel der Grabenkämpfe mit Bajonett und Spaten haben bei ihm tiefe Spuren hinterlassen. In seiner Gegenwart durfte ich nicht mit Soldaten oder anderem militärischen Spielzeug spielen.
Trotzdem bemühte er sich um mich, vor allen Dingen mit Bastelarbeiten. Zusammen bauten wir mehrere Segelflugzeugmodelle und Schiffsmodelle. Nach meinem Wechsel auf das Gymnasium im Jahr 1955 entwickelte er eine penetrante Neigung, mich abends zu fragen, was die Mathematik denn so mit mir mache. Dies war nämlich sein Hobby und für mich ein Albtraum. Am Wochenende, wenn ich aufstand, sah ich ihn oft stehend in Unterhosen am Esstisch im Wohnzimmer und in Matheaufgaben vertieft.
Willy Hoffmann war kein großer Mann, er war 1 Meter 60 klein. Insgeheim hat ihn das bekümmert, auch wenn heutige Körpermaße zu seiner Zeit noch eine Seltenheit waren. Grausam wie Kinder sein können, habe ich sein Problem gelegentlich sehr subtil für Spielchen genutzt. Als eifriger Disney-Comic-Leser war mir die Figur des Riesen Willi in allen Spielarten bekannt. Ganz unschuldig habe ich im Familienkreis dann gelegentlich die Selbstbeschreibung des Riesen zitiert: „Illi qui drilli, ich bin der Riese Willi! Mal bin ich groß, mal bin ich klein, mal kann ich ganz verschwunden sein.“ Papa hat dazu gequält gelächelt und irgendwann erwidert, er könne nicht gemeint sein, schließlich schreibe sich sein Vorname mit Y. Damit war aus dem Spaß die Luft raus.
Weil ihm das Zahlenwerk so nahe war, hat er unserer Mutter immer wieder vorgerechnet, dass sie Geld verschwende und das wöchentliche Wirtschaftsgeld eigentlich für sehr viel mehr gereicht haben müsste. Besonders gut verfolgen konnte ich die abendlichen Diskussionen darüber, als ich nach dem Auszug meiner Schwestern das kleine Zimmer allein bewohnen durfte. Nicht selten endeten diese Gespräche in einer Schimpfkanonade der nicht sehr feinen Art. Ich habe mir damals fest vorgenommen, mich, wenn ich einmal verheiratet sein sollte, niemals mit meiner Frau über Geld zu streiten. Das ist mir im Rückblick auch deshalb gelungen, weil ich nie ein inniges Verhältnis zu Geld entwickelt habe.
In meinem letzten Grundschuljahr hatte ich eine Lehrerin, die mich zum Lernen motiviert und geraten hat, eine weiterführende Schule zu besuchen. Ziel war das Gymnasium für Jungen in Helmstedt. Zugangsberechtigt war nur, wer eine Prüfung, die eine Woche dauerte, bestanden hatte. Vom Frühjahr 1955 war ich Schüler des Gymnasiums Julianum in Helmstedt. Es war ein Bau aus wilhelminischer Zeit mit großem asphaltierten Schulhof und angebauter Turnhalle. Das ganze Ensemble samt Lehrerschaft hatte starke Ähnlichkeit mit der fiktiven Schule in Bellenberg aus der Feuerzangenbowle. Es war auch noch die gleiche wunderbare Bestuhlung wie aus dem Film vorhanden. Die Lehrer hatten von ihrem Podest einen guten Überblick. Der sogenannte Lehrkörper bestand zum überwiegenden Teil aus alten Nazis, die von der Spruchkammer als Mitläufer einen Persilschein erhalten hatten und deshalb nun demokratische Umerziehung an den Kindern ausprobieren durften. Es gab aber auch einige alte Lehrer, die in der Nazizeit kaltgestellt und nun reaktiviert worden waren.
Ich hatte in der Sexta das Glück, einen solchen Lehrer als Klassenlehrer zu haben. Oberstudienrat „Zappel“ Jung unterrichtete Deutsch und Geschichte. Wehendes weißes Haar und ebensolche Haarbüschel aus den Ohren und dramatische Erklärgesten mit den Händen waren seine Markenzeichen. Gedichte waren seine Vorliebe, die er uns nicht etwa einbläute, sondern zu erklären wusste. Mir hat er den Zugang zur Geschichte ermöglicht, den ich mein bisheriges Leben beibehalten habe.
Ganz anders der Mathematiklehrer. Durch eine Hasenscharte verunziert hatte er offensichtlich einen stillen Hass auf alle anderen Menschen entwickelt. Er schlug bei Fehlern, zog an den Haaren und riss gelegentlich an Ohren. Ich habe diese brutalen „Erziehungsmethoden“ oft als Ausrede für meine mangelhaften Leistungen in Mathematik genutzt. Irgendwann reichte dieses Gehabe selbst dem Direktor, der ihn dann nur noch in der Oberstufe unterrichten ließ, wo sich solche Lehrmethoden von selbst verboten. Unser Chemielehrer hatte den schönen Spitznamen „Birne“, was seinem Aussehen ziemlich gut entsprach. Er stotterte und dies ganz besonders, wenn er sich über die Begriffsstutzigkeit eines Schülers ärgerte. Insgesamt war das ein vergnüglicher Unterricht, weil Birne, der natürlich von seinem Spitznamen wusste, sehr verträglich war und ihn im Grunde ein Erfolg seiner Unterrichtstätigkeit nicht interessierte. So habe ich bei ihm immer ein „Befriedigend“ erhalten. Mein Lateinlehrer hatte den wunderschönen Spitznamen Lalli, den er sich auf einer Klassenfahrt mit einer Unterprima bei einem Saufabend zugezogen hatte. Nach dem Genuss einer Flasche Wein soll er auf einen Kneipentisch gestiegen sein und gesungen haben: „schwarzbraun ist die Haselnuss, schwarzbraun bin auch ich“. Von da an wurde er nicht mehr ernst genommen. So war auch sein Lateinunterricht.
Die kleine Kreisstadt Helmstedt war direkt an der Zonengrenze gelegen, wodurch sie bis zur Wende hohe Subventionen aus der Zonenrandförderung erhielt. Viele alte Fachwerkhäuser prägten das Stadtbild. Der Ort war im Krieg nicht zerstört worden und wirkte tatsächlich wie das fiktive und schön geschilderte Bellenberg aus der Feuerzangenbowle. Nur Heinz Rühmann ging dort nicht mehr zur Schule. In späteren Jahren gab es für die jungen Halbstarken die Eisdiele am Marktplatz, deren Betreiber sehr gezielt wegschaute, wenn ein 14-Jähriger sich eine Zigarette ansteckte. Und es gab dort eine Musikbox. Sie war das Groschengrab. Einmal in der Woche musste die Klasse zur warmen Jahreszeit zum Fichtesportplatz marschieren. Der lag nur wenige hundert Meter von der Zonengrenze entfernt, die uns mit ihren hohen Stacheldrahtzäunen sehr beeindruckte. Der Sportlehrer, ein alter Nazi, nutzte die Sportstunde regelmäßig dazu, seinen Hass auf die Kommunisten loszuwerden und paramilitärische Unterrichtsformen zu praktizieren. Er ließ uns am Beginn der Stunde, im Gliede, wie er das in militärischer Sprache formulierte, antreten und forderte uns zum kollektiven Gruß auf. Im Sommer 1958 erboste Philipo, so wurde er genannt, sich bei einer Sportstunde über den Schüler Langner. Der hatte ihm im pubertären Überschwang ziemlich scharf vor die Füße gespuckt. Philipo ließ in das Klassenbuch folgende denkwürdige Rüge eintragen: „Langner spuckt aus dem Gliede.“
Das ganze Fahrschülerdasein war mühselig. Der Zug nach Helmstedt ging morgens um 7 Uhr 10 ab. Nach 20 Minuten war Helmstedt, das 16 Kilometer entfernt lag, erreicht. Man musste sich sehr sputen, um bei Unterrichtsbeginn rechtzeitig in der Klasse zu sein. Hatte der Zug Verspätung, war eine Bescheinigung der Bahnhofsverwaltung zur Vermeidung eines Klassenbucheintrags vorzulegen. Am Anfang wurden die Züge nur von Dampfloks gezogen. Die Waggons waren zum Teil noch aus den zwanziger Jahren mit einer Tür je Abteil für 10 Personen und Holzbänken. Die übermalten Klassenbezeichnungen an den Außentüren – 3. Klasse – waren noch erkennbar. Diese Art der Beförderung war durchaus angenehm. Der Schaffner, der die einzelnen Abteile kontrollieren musste, schaffte während der Fahrtzeit nicht alle Waggons, was ganz nützlich war, wenn man die Monatskarte vergessen hatte. Außerdem war ungestörtes Skatspielen dadurch möglich und schnelles Abschreiben von unerledigten Hausaufgaben. Daher habe ich wohl auch meine unleserliche Handschrift, die durch die knappe Fahrtzeit des Zuges geprägt wurde.
Im Sommer 1956 boten die Gymnasien aus Braunschweig und Helmstedt gemeinsam eine vierwöchige Freizeit auf Sylt an. Meine Eltern ermöglichten mir die Teilnahme, die 120 DM kostete. In einem Sonderzug ging die Fahrt über Hamburg mit einem Besuch des Tierparks Hagenbeck weiter auf die Insel. Unweit von Westerland lag mitten in den Dünen die Jugendherberge Dikjen Deel. Auf dem Gelände war eine Zeltstadt aufgebaut, die unsere Unterkunft wurde. Jeweils zwanzig bis dreißig Jungs wurden in riesige viereckige alte amerikanische Armeezelte verfrachtet. Eine Bodenabdeckung gab es nicht. Strohsäcke als Matratzenersatz lagen auf dem Sand. Jeder hatte zwei Decken, davon eine als Unterlage auf dem pieksenden Stroh. Damit das Wasser bei Regen nicht in das Zelt dringen konnte, mussten außen Gräben gezogen werden. Die Jungen aus der Oberstufe waren auf der einen Zeltseite platziert, die Küken, wie wir genannt wurden, auf der anderen. Aufgabe der Oberstufler sollte es sein, uns zu beaufsichtigen und für rechtzeitige Nachtruhe zu sorgen. Geklappt hat das selten. Irgendeiner der Älteren hat nahezu jeden Abend Alkoholisches besorgt, was nach einer gewissen Zeit entweder zu Lärm oder anderen Vergnüglichkeiten verschiedenster Art führte. Eine davon war die sogenannte Sackschau. Man zeigte sich gegenseitig die steifen Schwänze und onanierte um die Wette. Einer der Aufsicht führenden Lehrer hieß Nante Kohl, Sportlehrer am Julianum. Sein Sohn gehörte zu den Oberstuflern und hatte sich natürlich bei einer der Sackschauen nicht ausgeschlossen. Als der Lärm zu stark wurde, stürmte Nante mit erhobenem Krückstock ins Zelt, schrie laut: „ihr verdammten Schweine“ und drohte Prügel an. Mein Schlafnachbar zur rechten Seite, ein Sextaner aus Braunschweig, pinkelte sich bei diesen Gelegenheiten voll. Da der Strohsack nicht gewechselt wurde, sorgte das für übles Mobbing.
Natürlich reichten die Sanitär- und Essräumlichkeiten der Jugendherberge nicht für vierhundert Kinder und Jugendliche. Die Mahlzeiten wurden deshalb in Schichten eingenommen, deren Einteilung nach Zeltnummern auf dem schwarzen Brett angeschlagen war. Statt der knappen Sanitärraume der Herberge war eine riesige, nach vorne offene Latrine aufgebaut, der sogenannte Donnerbalken. Waschen musste man sich an metallenen Waschbecken aus militärischen Beständen mit kaltem Wasser, die in einigen großen Zelten untergebracht waren. Es war alles sehr spartanisch, was uns aber überhaupt nicht störte, sondern das Gefühl von Abenteuer förderte.
Mehrere Ausflüge auf der Insel standen selbstverständlich ebenfalls auf dem Programm. Wir wurden mit Bussen zu den verschiedenen lohnenswerten Punkten gekarrt. Auch eine Schiffstour mit dem neuen Dampfer „Wappen von Hamburg“ nach Helgoland gehörte dazu. Vor Helgoland wurden wir ausgeschifft in kleineren Booten, die anlegen konnten, was für den Dampfer damals nicht möglich war. Die Insel war noch schwer gekennzeichnet von den enormen Bombardements der Engländer, die wohl bis 1952 angehalten hatten. Aufregend an diesem Ausflug war für uns eigentlich alles.
Aus diesem ersten Urlaub meines Lebens waren selbstverständlich auch Ansichtskarten in alle Richtungen zu verschicken. Dafür hatte ich extra von den Eltern Briefmarken und ein kleines Budget für den Kauf der Ansichtskarten erhalten. Durch einen Einheitstext wollte ich mir Arbeit ersparen, was wohl keine gute Idee war, wie sich später herausstellte. Mit dem nicht sehr einfallsreichen Text, in dem die Passage ,,heute gab es Königsberglobse“ vorkam, zog ich mir den Spott der ganzen Verwandtschaft zu. Ob man so etwas auf dem Gymnasium lerne, für das damals noch Schulgeld zu zahlen war, wurde ich hämisch gefragt. Vor der Rückfahrt musste gepackt werden. Leider habe ich nicht alle mitgebrachten Kleidungsstücke wiedergefunden und den einen oder anderen Socken meiner beiden Nachbarn in den Seesack geworfen. Meine Sachen hatten dafür andere Verwendung gefunden. Unsere Söhne haben es Jahrzehnte später genauso gemacht.
Renates Berufswunsch war immer Krankenschwester. Sie hat ihre Ausbildung als Schwesternschülerin zunächst für ein Jahr in Königslutter am Landeskrankenhaus begonnen und ist danach zur eigentlichen Ausbildung an das Herzogin-Elisabeth-Krankenhaus in Braunschweig gewechselt. Wenig später hat sie eine Stelle als Schwester in der Privatklinik Dr. Genscher in Braunschweig angenommen, wo sie jahrelang erfolgreich als Operationsschwester tätig war. Mit großer Leidenschaft assistierte sie bei den Operationen und hat uns bei den regelmäßigen Wochenendbesuchen ausführlich über sämtliche denkbaren Einzelheiten unterrichtet. Abgeschnittene Gliedmaßen, entfernte Gallenblasen oder Blinddärme kamen ebenso vor wie Schönheitsoperationen an Brüsten und Nasen. Insgeheim wurde ihr deshalb familiär der Gemütszustand einer Metzgergesellin zugeschrieben.
Bereits wenige Monate nach dem Umzug in die neue Wohnung an der Helmstedter Straße begann so der große Exodus meiner Schwestern. Zuerst zog Brigitte, wie schon geschildert, aus, was meine missliche Situation im elterlichen Schlafzimmer beendete. Bald danach verließ uns Renate und zog nach Braunschweig ins Schwesternheim. Nur Sabine, die inzwischen eine Lehre als zahnärztliche Helferin in Helmstedt angetreten hatte, blieb noch. Dann wurde sie von meinen Eltern gedrängt, als Au-pair nach England zu gehen, um Geschäftsenglisch zu lernen. Es muss sehr schwierig für Sabine gewesen sein in dieser noch sehr von den Kriegsereignissen geprägten Zeit. Aus heutiger Sicht war dies sicher nicht durchdacht von unseren Eltern. Nach der Zeit in England hat sie eine Stellung in einer amerikanischen Firma in Frankfurt am Main angenommen und sich beruflich gut etabliert. Verständlicherweise war ihr nach der Zeit in London die Lust auf die Kleinstadt vergangen. Sie hatte überhaupt eine gewisse Distanz zur Familie, was wohl auch an unseren Eltern lag, die sie gelegentlich wissen ließen, dass an ihrer Stelle eigentlich ein Sohn gewünscht war. Uns beide hat dies irgendwie verbunden. Ich gestehe aber, sehr zufrieden mit dem nunmehrigen Alleinsein in dem Zimmer gewesen zu sein.
Das Zeltlager auf Sylt hat mein Interesse an diesen Freizeiten sehr gefördert. Ich bin deshalb der evangelischen Jugend beigetreten, die regelmäßig in der Sommerzeit Zeltlager für kleines Geld für ihre Mitglieder anbot. Um den Beitrag zahlen zu können, habe ich meiner Mutter weisgemacht, bei den wöchentlichen Bastelstunden und den Freizeiten ginge es auch sehr christlich zu. Die Bastelstunden fanden das ganze Jahr in einem langen und schmalen Raum mit Gewölbe und ohne Fenster in einer sechs Meter dicken Mauer des Doms statt. Ich empfand dies als sehr romantisch, in einem Geheimraum zu sein, dem man alle möglichen früheren Zwecke in der Phantasie andichten konnte. Im Spätsommer 1956 konnte ich ein erstes fünftägiges Zeltlager am Pappelsee, gewissermaßen um die Ecke, mitmachen. Vater hat mich hingefahren und den Zeltaufbau mit sehnsüchtigen Blicken verfolgt. Dabei hat er in Erinnerungen an seine Wandervogelzeit vor dem
1. Weltkrieg geschwelgt. Das Ganze fand in einem lockeren Pappelhain statt, der natürlich kein Campingplatz war. Sanitäreinrichtungen gab es nicht. Wir wurden deshalb vorher per hektographiertem Merkblatt aufgefordert, uns gründlich vor Reisebeginn zu waschen und ausreichend Klopapier für notwendige Verrichtungen in der freien Natur mitzubringen. Das hat überwiegend geklappt. Der sogenannte Pappelsee war tatsächlich nur ein großer Teich, der aber außer dem städtischen Schwimmbad das einzige Gewässer in der näheren Umgebung war. Bei dieser Gelegenheit habe ich erstmalig den Reiz von selbst gebratenem Fleisch am Holzfeuer erlebt.
Der Jugendleiter spielte Gitarre und wir haben dazu die damals üblichen Wanderlieder gesungen oder nur zugehört. Teilnehmen an diesen Freizeiten durften natürlich nur Jungs. In Bibelstunden wurden wir über anständiges und christliches Leben belehrt, was damals zwar lästig, aber in der Rückbetrachtung nicht ohne Sinn war.
Im Sommer 1957 war mit zwei Freizeiten das Gebiet am südlichen Rand der Lüneburger Heide mit den Städten Winsen an der Aller und Celle an der Reihe. Die Zelte waren jetzt moderner und nur noch mit 3 Jungen belegt. An den Abläufen änderte sich wenig. Die Teilnehmer glichen denen des Vorjahrs. Einzelheiten sind mir nur verschwommen in Erinnerung. Allerdings habe ich noch heute die schöne Flusslandschaft und das mittelalterliche Stadtbild von Celle mit seinem Gestüt und der jährlichen Hengstparade bildlich vor Augen.
Ganz neue Eindrücke wollte ich bei einem Zeltlager für das Jahr 1958 gewinnen. Mutter hatte etwas von der Deutschen Jugend des Ostens aus ihren Flüchtlingskreisen gehört. Vertriebenenverbände und ebenfalls die Partei BHE – Block Heimatvertriebener und Entrechteter – hatten damals noch eine enorme Bedeutung. In diesen Kreisen war der Gedanke an einen Verzicht auf die Ostgebiete gleichbedeutend mit Landesverrat. Ohne Arg wurde ich deshalb von meinen Eltern zu einer Freizeit der DJO im Teutoburger Wald angemeldet. Gemeinsam mit meinen beiden Freunden Rüdiger Küchental und Henning Mülter machte ich mich per Fahrrad auf in das ca. 200 Kilometer entfernte Lager. Die erste Station war die Jugendherberge in Hameln, die nächste Etappe führte an die Porta Westfalica. Am dritten Tag hatten wir es geschafft. Bei der Ankunft haben wir nicht schlecht gestaunt: große Armeezelte mit einem Wimpel obendrauf, welcher der Reichskriegsflagge verdächtig ähnelte. Jungen und Erwachsene trugen schwarze kurze Hosen und weiße Blusen mit dem DJO-Wappen sowie merkwürdigen Halstüchern. Als Nichtmitglieder und nur Schnuppergäste waren wir von dieser Maskerade befreit. Tagsüber standen Geländespiele mit Tarnung, Schießübungen mit Luftgewehr und Luftpistole und Sport auf dem Programm. Es wurde auch dem nächsten Bundeswehrstandort, einer Panzerdivision, ein Besuch abgestattet und natürlich das Hermannsdenkmal besichtigt. Nach dem Abendessen und Lagerfeuer inklusive Landserliedern wurde zum Abschluss die Nationalhymne gesungen. Unter dem Deckmantel einer Sommerfreizeit fand eine lupenreine paramilitärische Ausbildung statt. Nach knapp vierzehn Tagen hatten wir drei schlicht die Nase voll. Unter dem Vorwand, ich wolle meine älteste Schwester, die zu Besuch aus den USA bei der Familie sei und nun überraschend wegen einer Schwangerschaft zurückmüsse, zum Abschied sehen, durfte ich das Zeltlager abbrechen. Auch meinen beiden Freunden wurde die Mitfahrt zu meiner Begleitung erlaubt. Morgens um drei Uhr sind wir aufgebrochen und in einem Zug in 16 Stunden zurück nach Königslutter gefahren. Ich empfinde rückblickend dieses Zeltlager als das Ende meiner Kindheit. Rüdiger Küchental starb 1978 bei einem Absturz seiner Phantom vor der Insel Mön. Henning Mülter 10 Jahre zuvor als Student der Volkswirtschaft und Reserveoffizier an rasch verlaufender Multipler Sklerose.
Wenige Tage nach meiner erschwindelten vorzeitigen Rückkehr ist Brigitte vom Flughafen Echterdingen zurück in die USA mit der PanAm, damals die größte amerikanische Fluggesellschaft, geflogen. Unsere Eltern hatten sie nach Stuttgart begleitet. Von dem Abschied existiert ein Schmalfilm, der die Lockheed Superconstellation und die winkenden Eltern zeigt. Zwei oder drei Tage später stand in der Zeitung, eine Lockheed-Maschine habe bei dem Flug von Stuttgart nach New York einen Triebwerkausfall gehabt. Ein Telegramm aus den USA konnte meine Eltern beruhigen.
Unser Vater hat Brigitte bei dieser Gelegenheit zum letzten Mal gesehen. Drei Tage bevor der ersehnte erste Enkel, Henning Scholz, das Licht der Welt erblickte, starb Willy Hoffmann in der Privatklinik Dr. Genscher in Braunschweig am 26.01.1959 an einem Gehirnschlag nach einer Gallenblasenoperation.
Er war acht Tage zuvor spät abends nach starken Schmerzen in die Klinik in Braunschweig, in der Renate als leitende OP-Schwester arbeitete, eingeliefert worden. Wegen einer zusätzlichen Bauchfellentzündung und drohendem Durchbruch der Gallenblase war die vorzunehmende Operation sehr kompliziert. Renates Chef hat ihr deswegen und vor allem wegen des nahen Verwandtschaftsverhältnisses die Teilnahme an der Operation freigestellt. Renate hat sich entschieden, trotzdem zu assistieren. Später hat sie stolz über den Verlauf der geglückten Operation und die Probleme beim Durchtrennen der dicken Bauchfettschicht des Vaters erzählt.
Eine Woche nach der Operation verschlechterte sich sein Zustand rapide. Morgens wurde ich von einer Nachbarin, die ein Telefon hatte und von unserer Mutter informiert worden war, gebeten, sofort mit dem Zug nach Braunschweig zu fahren. Dort angekommen, wurde ich umgehend in eine vormittägliche Kinovorführung geschickt. Keiner sprach mit mir. Als ich aus dem Kino zurück zu Brigittes Schwiegermutter, die in der Nähe der Klinik wohnte, kam, öffnete Mutter mir, inzwischen schwarz gekleidet, die Wohnungstür. Was ich vorher nur erahnt hatte, war nun sichtbar Realität geworden. Unser Vater war gestorben. Ich habe mich nicht von ihm verabschieden können. Die ganze Situation war beinah surreal. Dazu trug noch ganz wesentlich ein Vorfall bei: Mutter stand nach Erledigung von Formalitäten auf dem Rückweg vom Krankenhaus an einer Straßenbahnhaltestelle als sie plötzlich, wie sie empört erzählte, ein heißes Gefühl an einem Bein verspürte. Ein Deutscher Schäferhund hatte sie irrtümlich für einen Baum gehalten und ihr ans Bein gepinkelt.
Einen Tag vor der Beerdigung an einem kalten Januartag wurde der Sarg noch einmal geöffnet. Der Tote erschien mir fremd mit seiner wächsernen Haut, den eingefallenen Wangen und einem leichten Stoppelbart. Ich habe mich sehr erschrocken über das Wachsen der Haare nach dem physischen Tod. Mein Versuch, mich mit einem Kuss auf die Wange doch noch zu verabschieden, endete mit dem Eindruck entsetzlicher Kälte des toten Gesichts. Dieser Eindruck wurde auf Dauer durch die Leichenfotos im offenen Sarg verstärkt, die unsere Mutter in Auftrag gegeben hatte und welche über Jahre ihren Nachttisch zierten.
Mit dem Tod des Vaters war das familiäre Leben in Königslutter auf Mutter und mich reduziert. Ich habe dies immer als Zäsur verstanden. Der Verlust des Vaters hat mich rückblickend mehr getroffen als zunächst geglaubt. In einer entscheidenden Phase meines Lebens fehlte mir orientierende Hilfe, was mich in meiner Entwicklung behindert hat.
Epilog
Im Juni 1986 war ich auf einer Dienstreise durch die DDR, um Künstler in Vorbereitung der Ausstellung „Menschenbilder“ zu besuchen und Objekte auszusuchen. Ich war seinerzeit von der Staatskanzlei NRW für diese Aufgabe der Pflege kultureller Beziehungen mit der DDR bestimmt worden. Dies geschah als Pilotprojekt im Vorfeld des geplanten Kulturabkommens zwischen der DDR und der BRD, das im September 1987 bei dem Besuch von Honecker in Bonn unterzeichnet wurde. Im Anschluss an den dienstlichen Teil der Reise habe ich erstmalig nach der Flucht 1951 die Insel Usedom besucht. In Zempin bin ich wie von einem unsichtbaren Magnet gezogen nach rechts von der Hauptstraße in die Waldstraße abgebogen, um das Haus Grüneck, das für Jahre unser Zuhause gewesen war, zu suchen. Die Waldstraße erschien mir nun sehr viel schmaler als in der Erinnerung zu sein. Ich bin die Straße hoch und runter gefahren. Gefunden habe ich das Haus nicht. Erst bei einem erneuten Versuch habe ich hinter einem völlig verwahrlosten Gartenstück den Walnussbaum gesehen, der das ganze Ensemble immer ausgezeichnet hatte. Das Gebäude neben dem Baum war in einem erbärmlichen Zustand und gar nicht mehr so groß wie erinnert. Ich habe auch meine alte Schule wiederentdeckt und den Ort eigentlich in fast dem alten Zustand gefunden. Christel habe ich eine Ansichtskarte von diesem Besuch geschrieben, die sie aufgehoben hat. Nach ihrem Tod habe ich die Karte in einem Schuhkarton mit der Aufschrift „wichtige Erinnerungen“ entdeckt. Auf der Karte steht: „Es war alles fast wie vor 36 Jahren, nur die rote Fettkreide habe ich nicht mehr gefunden.“
Im Jahr 1992 haben Christel und ich ein Ferienhaus am Achterwasser der Insel Usedom von der Treuhand gekauft und mit Hilfe der beiden Söhne Andreas und Heiko sowie mehrerer einheimischer Handwerker sanieren lassen. Nach dem Setzen des neuen Reetdachs kam ein älterer Fliesenleger aus dem am anderen Ufer in Sichtweite liegenden Lassan. Meine Versuche, ihn zu einer Unterhaltung zu bewegen, gestalteten sich schwierig. Der Hinweis, auf der Insel geboren und in Zempin aufgewachsen zu sein, veranlasste ihn zu der Frage: „Wo dort in Zempin?“ Ich sagte ihm: „In der Waldstraße, im Haus Grüneck.“ Er: „Dort bin ich geboren und habe da bis zum 10. Lebensjahr gewohnt.“ Es kam heraus, dass seine Eltern mit ihm und seinem etwas älteren Bruder Ende März 1945 nach Lassan geflohen waren, um dem Einzug von Vater und Bruder zum Volkssturm zu entgehen. Der Maler Niemeyer-Holstein hat sie gegen eine Gebühr von 2 Reichsmark pro Person auf die andere Seite des Achterwassers übergesetzt. Wir haben Monate später die Wohnung der Familie Wangermein, so hieß der Fliesenleger, bezogen.
Widmung:
Für Christel, die am 1.7.2020 von dieser Erde abberufen wurde.
„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, woraus wir nicht vertrieben werden können“
Jean Paul