Wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft (Wilhelm von Humboldt)
Ich bin am 6. Juli 1944 in Swinemünde auf Usedom geboren worden. Eigentlich sollte ich Gotthilf heißen. Dies hat meine ältere Schwester Brigitte „Gott sei Dank“ meiner sehr evangelikalen Mutter ausgeredet. So heiße ich jetzt Hans-Christian mit dem selbst gegebenen Spitznamen Gustav Bickleburg, der auf meine früh ausgeprägte Neigung zu Handel und Wandel zurückgeht. Das ging so: ein geschenkter Spielzeugkaufmannsladen wurde von mir dazu genutzt, alle möglichen Gegenstände als mein Eigentum zu erklären und sie dann an Familienmitglieder gegen Knöpfe aller Art oder andere begehrenswerte Sachen zu verkaufen. Die Knöpfe habe ich irgendwann der Mutter, der sie wahrscheinlich ohnehin gehörten, geschenkt. Spitznamen waren bei uns in der Kindheit gefragt.
Unsere Mutter wurde von Vater als Rosinante (das edle Ross) bezeichnet. Er hat es nur zur Bezeichnung Papa gebracht, weil er auch aufgrund seiner frühen Flucht in die Westzonen und dem baldigen Tod 1959 ein eher unbekanntes Wesen und vor allem Respektsperson war. Brigitte, meine knapp 10 Jahre ältere große Schwester, wurde Titti genannt, was sie nicht gerne hörte. Renate, die zweitälteste, hatte sich den schönen altdeutschen Namen Alma eingehandelt. Sabine, die nach mir jüngste, hatte damals angeblich eine Neigung zu einer gewissen Dicklichkeit und wurde deshalb zu ihrem großen Verdruss Spiekwanst genannt. Dann war da noch die Oma, Mutter meiner Mutter, als Familienmitglied in der Zeit auf Usedom bis 1951. Sie war auch namentlich eben einfach die Oma. Gewohnt haben wir alle zusammen bis zum Frühjahr 1945 in einer hübschen kleineren Villa in zweiter Reihe an der Strandpromenade von Swinemünde, die meine Eltern von der Familie Horch 1940 gekauft haben. Es existieren noch eine Reihe Fotos aus dieser Zeit, die mir die Beschreibung jetzt möglich machen.
Erlebt habe ich das Bombeninferno von 671 amerikanischen Viermotorigen mit 1.456 Tonnen Bomben am 12. März 1945 auf Swinemünde zwar physisch, aber natürlich ohne bewusste eigene Erinnerung. Der Angriff kam völlig überraschend, weil niemand glaubte, die Stadt werde mit den vielen Flüchtlingen in den letzten Kriegswochen noch attackiert. Zahlreiche Bombenangriffe auf Stettin, das natürlich als drittgrößte Stadt Deutschlands ein prominentes Ziel war, waren aus der relativ kurzen Entfernung in den Jahren 1943 und 1944 zu sehen gewesen. Man glaubte sich also schon unter humanitären Gesichtspunkten wegen der vielen Flüchtlinge sicher. Meine Kenntnisse der Zeit in Swinemünde basieren nur auf den Erzählungen der Familienangehörigen und auf Schilderungen Dritter, zu denen die verstorbene Schriftstellerin Carola Stern gehörte, die aus Swinemünde stammte. Es ist ein düsteres Kapitel, das heute besonders Kriegsbegeisterten in Politik und Medien wegen seiner ungeheuren Brutalität vermittelt werden sollte, um leichtfertige Begeisterung abzumildern. Mein alter Freund Erhard, damals 19 Jahre alt und Fähnrich zur See, war an diesem Tag auf einem Kriegsschiff an der Ostmole in Swinemünde und hat den einstündigen Angriff auf die Stadt und viele Flüchtlingsschiffe im Hafen aus gut einem Kilometer Entfernung miterlebt. Sein späterer Kommentar: „Es war wie ein überdimensionales Feuerwerk, wo die Feuerwerker die Kontrolle verloren hatten.“ Am Tag danach war er zur Leichenbergung mit anderen Soldaten eingesetzt.
Keller mit den Toten wurden einfach zugescharrt. Andere Leichen und Teile davon wurden auf den in der Nähe unseres Hauses gelegenen Tennisplätzen bis zu fünf Meter hoch gestapelt, mit Kerosin übergossen und verbrannt. Der Geruch muss tagelang über der zu 90% zerstörten Stadt gehangen haben. Mehr als 14.000 Opfer von rund 30.000 Einwohnern und zehntausenden von Flüchtlingen soll es nach neuesten Schätzungen bei diesem Angriff gegeben haben. Die meisten Toten gab es wohl unter den Flüchtlinge auf den Wiesen des Kurparks, auf denen sie schutzlos lagerten. Ein weiterer großer Teil der Leichen wurde auf dem Hügel Golm außerhalb der Stadt begraben. Er ist ein ewiges Denkmal für den Wahnsinn der Kriege. Meine Schwester Renate ist nur kurze Zeit nach dem Angriff gemeinsam mit der Oma den Erzählungen nach auf die Straße zur Innenstadt gegangen.
Die Baumkronen an der Allee brannten noch wie Fackeln, tote Pferde von den Flüchtlingstrecks lagen überall. Sie wurden zur willkommenen Beute für die hungrigen Menschen. Nicht einmal die Haufen von Leichen schreckten offenbar davon ab. Es ist ein nicht sehr bekanntes aber besonders trauriges Kriegsereignis gewesen. Die Legitimität von Luftangriffen gegen Kriegsende auf Städte, die mit Flüchtlingen vollgestopft waren, war zu keinem Zeitpunkt gegeben. Zur Erreichung von Kriegszielen konnten sie nicht dienen. Man muss es aussprechen: es waren Kriegsverbrechen. Wir haben die Flucht aus Swinemünde am 21.3.1945 auf einem Lastwagen begonnen. Unmittelbar vor den Großangriffen der Sowjetarmee auf Berlin ging es unter Angriffen von Tieffliegern, die ganz gezielt auf einzelne Zivilisten schossen, zunächst nach Wörlitz und anschließend nach Dessau Waldersee. Unsere Mutter hat dort bei einem Übergang mit dem Fahrrad über eine teilweise zerstörte Brücke ein solches Scheibenschießen durch einen britischen Tiefflieger mit sehr viel Glück überlebt. In Waldersee wurden wir von der Familie Bergholz, wie mir meine Mutter und Brigitte erzählt haben, auf rührende Art und Weise untergebracht und haben hier auch den Einmarsch der Sowjetarmee erlebt. Über die Exzesse der Soldateska ist viel berichtet worden. Mutter hat sich nur mit Glück vor Vergewaltigungen retten können, weil sie bei hereinstürmenden Soldaten die Kinder um sich geschart hat und mich auf dem Arm hielt. Dies hat nicht nur bei unserer Mutter Schlimmes verhindert, sondern wohl ebenfalls in vielen ähnlichen Fällen. Unser Vater hatte sich vorher – ich weiß nicht wie – zurück auf den Weg nach Swinemünde gemacht, um zu sehen, ob unser Haus nach einem zweiten Bombenangriff der RAF im April noch stand. Er hat dabei das Haus, das von der Sowjetarmee für Offiziere beschlagnahmt worden war, äußerlich unversehrt vorgefunden. Die Teppiche hingen zerschnitten aus den Fenstern, der Flügel lag zertrümmert im Garten. Trotz aller Gefahren ist es unserem Vater gelungen, das Familiensilber nächtlich im Garten auszugraben und zu retten.
Erreicht hat die Sowjetarmee die Stadt erst am 5. Mai 1945, weil starke deutsche Artilleriefestungen auf der Nachbarinsel Wollin den Vormarsch verhindert hatten. Noch bis Juli/August 1945 war die Grenzziehung zwischen der Sowjetzone und Polen für den östlichen Zipfel der Insel Usedom mit Swinemünde und darüber hinaus Stettin unklar. In beiden Städten gab es von der Besatzungsmacht eingesetzte polnische und deutsche Bürgermeister. Eigentlich sah das Potsdamer Abkommen die neue Grenze Deutschlands zu Polen östlich jenseits der Oder vor. Damit wären beide Städte bei Deutschland und in der sowjetischen Besatzungszone verblieben. Nachdem Großbritannien aber im Juni/Juli 1945 das von ihm besetzte Thüringen und Teile Sachsens zu Gunsten der Sowjetunion gemäß der Absprachen geräumt hatte, hat die Sowjetunion einseitig die beabsichtigte Grenzlinie für Polen verschoben. Damit war auch die Rückkehr für uns nach Swinemünde verbaut.
Auf den beschriebenen Umwegen über Dessau sind wir im Sommer 1945 im sowjetisch besetzten Teil der Insel Usedom, genauer in Zempin, als komplette Familie gelandet. Es war eine ziemlich große Wohnung in der Waldstr. mit vier oder fünf Wohneinheiten. Gelegen war das Gebäude, das Haus Grüneck, mit einem großen Garten auf der einen Seite zum Dünenwald und dem dahinter liegenden Strand und auf der anderen Seite zur einzigen Durchgangsstraße der ganzen Insel von Swinemünde bis Wolgast. Auf dieser Seite der Straße lag der größere Teil des Ortes, der an den Bodden, genannt Achterwasser, angrenzte. Dort war auch die Schule, in die ich später eingeschult werden sollte. Insgesamt ein typisches Fischerdorf mit einigen Pensionen und Häusern und Villen Begüterter.
Meine Eltern hatten in der Wohnung ein gemeinsames Schlafzimmer, das an das Wohnzimmer angrenzte und von dem aus man auf ein mit Teerpappe gedecktes Vordach der unter uns liegenden Wohnung blickte. Darauf wurden im Herbst Apfelringe getrocknet, um im Winter Ersatzobst zu haben. Gegen meine Neigung wurde ich vor allem am Wochenende morgens ins Bett meiner Eltern geholt. Diese Abneigung hatte wohl vorrangig seinen Grund darin, dass meine Eltern meiner Wahrnehmung nach merkwürdig rochen, was auf den Mangel an Seife und Badegelegenheit zurückzuführen war. Bei unserer Mutter drückte sich dies in einem intensiven Geruch nach Mottenpulver aus. Noch abschreckender war für mich aber ihre Vorliebe, mein Gesicht, was nicht immer sauber war, mit Hilfe von in ein Taschentuch gegebener Spucke zu reinigen. Deshalb habe ich mich später immer aus eigenem Antrieb gewaschen.
Trotz der beachtlichen Größe der Wohnung wurde ich gemeinsam mit meiner Großmutter in ein Schlafzimmer verfrachtet. Sie hatte die Gewohnheit, ihre schwarze Kleidung an einem Schrank aufzuhängen, der in meinem direkten Blickfeld war. Ich konnte daran nicht vorbeischauen. Daraus wurde ein Schlaftrauma, das mich noch jahrelang verfolgt hat. Verstärkt wurde die beängstigende Wirkung der schwarzen Kleider durch monströses Schnarchen meiner Großmutter. Christel hat in meinen sehr viel späteren Ehejahren behauptet, dies sei meine Erbkrankheit.
Mitbewohnerin auf der gleichen Etage des Hauses war die Kochermume, eine in meiner Erinnerung sehr alte Frau, die immer ein Kopftuch trug und wohl aus Schlesien vertrieben war. Sie führte ein besonders klägliches Leben und musste sich mangels anderer Lebensmittel überwiegend von Fischköpfen vom Kabeljau ernähren, die sie auf der blanken Herdplatte briet, was zu nachhaltigen Gerüchen auf dem ganzen langen Flur gereichte. Wenn es besonders gut ging, konnte sie aus Gerstenmehl und Wasser Fladen braten.
Im Erdgeschoss wohnte Frau Vogt, die für meine Schwester Brigitte als Ansprechpartnerin besonders wichtig war und ihr schließlich viel von ihrem Schatz an schönen alten Büchern überließ. Gleich daneben lebte die Familie Wehofski, stramme Parteigenossen, mit einem etwa ein Jahr jüngeren Sohn als ich. Er hieß Gerd. Gerdi, so wurde er von seinen Eltern gerufen, zeichnete sieb durch eine besondere Heimtücke und sehr schnelle Beine aus. Freundlich kam er auf mich zu, um mir dann aus nächster Nähe ins Gesicht zu spucken. Auf der nachfolgenden Flucht vor mir hat er das Rennen leider immer wieder gewonnen.
Zempin war der kleinste Ort in diesem Teil der Insel und eingeklemmt zwischen den Seebädern Koserow und Zinnowitz. Hier gab es einige Jahre nach Kriegsende Reste von Kurbetrieb, einige Kneipen und FDGB-Heime in umfunktionierten Hotels. Spielraum für Vergnüglichkeiten wie in früheren Jahren bestand nicht. Es galt ausschließlich das tägliche Überleben zu sichern. Wer einen Garten hatte, um Obst und Gemüse anzubauen sowie Tiere zu halten, war fein raus. Die öffentliche Versorgung in den ersten Nachkriegsjahren reichte gerade auf der abseits gelegenen und durch die zerstörten Brücken von der Umwelt abgeschnittenen Insel einfach nicht aus. Auch der Tabakanbau war sehr gefragt, weil es für die Raucher keinen Nachschub gab.
Geraucht hat in diesen Zeiten nahezu jeder halbwegs erwachsene Mensch, zum einen, weil es damals üblich war, aber auch, um den Hunger zu vertreiben. Unser Vater hat zur Grundstoffversorgung Tabak im Garten angebaut, was mir aus zwei Gründen in Erinnerung geblieben ist: Die großen Blätter wurden auf Wäscheleinen zum Trocknen überall aufgehängt und bestimmten im Sommer das Wohnungsbild. Neben den visuellen Eindrücken bleibt eine starke Prägung meines Geruchssinnes durch den beißenden Qualm, den der in Zeitungspapier eingetütete brennende Tabak verströmte.
Etwas weniger schlimm war der Gestank des gelegentlich von den Sowjetsoldaten ergatterten Machorkas. Den erhielt unser Vater nicht selten für Gefälligkeiten für die Soldaten, die immer wieder mit ihren Jeeps vorfuhren, um Reparaturen an konfiszierten Gegenständen vornehmen zu lassen. Papa konnte das als ausgebildeter Ingenieur und begabter Handwerker offensichtlich gut. Nicht selten kam auch ein Soldat, der an jedem Arm ein Dutzend Uhren trug und sie „repariert“ (Uhri kaputt) haben wollte. Dies war dann durch simples Aufziehen in der Regel die einfachste Übung. Ansonsten hat unser Vater seine Familie für damalige Verhältnisse ganz gut durch eifrige Tauschgeschäfte und eine Arbeitsgenehmigung als Bergungsunternehmer über Wasser gehalten.
Hinter dieser Tätigkeitsbeschreibung „Bergungsunternehmen“ verbarg sich die schlichte Realität als Strandräuber. Der Krieg und die Flucht von Millionen hatten ihre Spuren reichhaltig in der Ostsee hinterlassen. Täglich waren traurige Funde am Strand zu finden und wohl auch zu verwerten.
Besonders profitiert von den Kriegsgräueln haben die Aale, die zehntausende von Leichen, die im Wasser trieben, als Zusatznahrung bekamen. Allein auf der Wilhelm Gustloff, dem ehemaligen KdF-Schiff, starben mindestens 7.000 Menschen bei deren Untergang 1945. Die Einheimischen haben deshalb in den ersten Nachkriegsjahren kaum Aale gegessen, weil sie wussten, weshalb die Tiere besonders fett waren. Geräuchert wurden sie deshalb zunächst vorwiegend als Tauschware bei den Hamsterfahrten ins Inland genutzt. Von mir existiert ein Foto im Alter von drei bis vier Jahren beim Schlachten von Aalen durch meine Großmutter, die dieses Handwerk offenbar prächtig beherrschte und die glitschigen Tierkörper mit Salz abrieb und zum Räuchern vorbereitete. Die Aale haben ihre Beute im Wasser gefunden, die Möwen am Strand. Über die angeschwemmten Leichen haben sich die Möwen in grausiger Weise hergemacht. Die Menschen waren aber von den Kriegsereignissen so abgestumpft, dass darum wenig Aufheben gemacht wurde.
Das Räuchern übernahm mein Vater in einer alten Heringstonne, die am oberen Ende mit Fahrradspeichen zum Aufhängen der Fische bestückt war. Zum Schutz vor misstrauischen Blicken der Staatsmacht und neidischer Nachbarn war die Tonne im Fliedergebüsch neben dem Hühnerstall versteckt. Illegaler Fischkauf und Räuchern waren streng verboten und unter harte Strafen gestellt. Allerdings hat dies die Fischer am nahen Strand, wo die Boote an Land gezogen wurden, nicht daran gehindert, ihren Fang zum Teil gegen die harte Währung Butter und Tabak abzugeben. Und bei diesen Tauschgeschäften war unser Vater ein ziemlicher Meister, was schon mal zu Problemen führte. Bei einer der Tauschfahrten auf das Festland brach eine Bohle des Landungsstegs zu der Fähre nach Anklam und Vater wurde zwischen Schiff und Kaimauer eingeklemmt. Nur durch das beherzte Eingreifen anderer Passagiere konnte er vor dem Zerquetschen gerettet werden. Da beide Brücken auf die Insel zerstört waren, erfolgte der gesamte Personen- und Warenverkehr mit viel zu wenigen Fähren nach Anklam oder Wolgast.
Wenn es darum ging, an den drei großen Festen Weihnachten, Ostern und Pfingsten eine Fleischmahlzeit zu ermöglichen, wurde alles aufgeboten, was verfügbar war. Dann wurde jeweils entweder eines der Hühner geschlachtet, die alle Namen hatten, oder es musste ein Kaninchen dran glauben. Die Haltung von Hühnern und „Karnickeln“ war in dieser Zeit, wo immer es praktisch möglich war, ein lebensnotwendiger Vorgang. Unsere Eltern haben gerade das Schlachten von Hühnern das eine oder andere Mal mit wenig Erfolg versucht. Mutter hielt die Henne über dem Hackklotz fest und der Papa sollte mit dem Beil den Kopf abschlagen, was bei einer Gelegenheit nur teilweise gelang, und so lief das halb enthauptete Tier, das unsere Mutter schreiend losließ, noch einige Meter davon (beinahe wie bei Klaus Störtebeker). Von da an wurde diese Arbeit auf andere Hilfswillige übertragen.
Noch komplizierter war das Schlachten der Kaninchen. Ein geistig behinderter Nachbarsjunge mit Namen Jutt Höfs, der zwar wenig mit der Schule im Sinn hatte, dafür aber eine außerordentliche Begabung zum Schlachter hatte, erledigte dies für meine Eltern. Er sollte später in meiner Erinnerung eine besondere Rolle spielen, was so kam:
Etwa im Alter von vier Jahren bekam ich von Nachbarn ein Kaninchenbaby geschenkt, dessen Mutter gestorben war und das keine Chance zum Überleben zu haben schien. Aber mit Hilfe einer kleinen Libbysflasche, die ursprünglich mit Zuckerperlen gefüllt war, gelang das kleine Wunder. Das winzige Kaninchen nuckelte die Milch aus dieser Flasche und wuchs. Es begann auch das zu fressen, was Kaninchen so mögen: Möhren und allerlei Grünes, darunter auch wie seine anderen Artgenossen Lupinen. Die zu beschaffen, hieß schlicht und ergreifend, auf fremden Äckern zu wildern. Einmal war ich Zeuge und Begleiter einer solchen Aktion. Ausgestattet mit einem Bollerwagen, in dem ich sitzen durfte, zogen meine drei Schwestern mit mir los und fanden schnell außerhalb des Dorfes in Richtung Zinnowitz einen geeigneten Acker. Mit gut gefülltem Bollerwagen wollten sie gerade zurück nach Zempin, als plötzlich schreiend und fluchend der Bauer auftauchte. Brigitte und Renate suchten das Weite. Nur Sabine blieb bei mir und dem Diebesgut. Sie wurde für ihre Treue mit zwei heftigen Ohrfeigen „belohnt“ und die Lupinen in den Straßengraben gekippt. Ich war wohl für den Beklauten noch nicht strafmündig. Immerhin gewann Sabine für ihre Standfestigkeit meine Bewunderung und Wertschätzung.
Einen weiteren Beitrag zum Überleben des kleinen Kaninchens leistete die Hauskatze. Sie hatte in der Küche einen alten Kartoffelkorb als Lager und nahm das Kaninchenbaby zu sich. Dies ging eine ganze Zeit lang wunderbar, bis aus dem Tierchen ein strammer Stallhase geworden war und der Platz im Korb nicht mehr für Katze und Kaninchen ausreichte. Jetzt war der Umzug in den Kaninchenstall gegenüber dem Hühnerstall angesagt. In einer ganzen Reihe von Boxen mit Maschendrahttüren saßen die Tiere allein oder zu zweit. In eine leer stehende Box wurde unser Liebling schließlich verfrachtet. Für die Katze war der Entzug der Ersatzmutterrolle ein großes Problem. Sie legte sich schließlich regelmäßig auf die Box und konnte so die Nähe des Kaninchens fühlen. Für mich selbst war dieser Vorgang nach den Erzählungen meiner Schwestern wohl ebenfalls sehr einschneidend. Wenige Tage nach der Ausquartierung des Kaninchens wurde ich nach einer stundenlangen vergeblichen Suchaktion nach mir in der Wohnung und auf dem Grundstück schließlich schlafend auf dem Stroh im Kaninchenstall gemeinsam mit beiden Lieblingen entdeckt.
Irgendwann war das Ende für Schnuffi, so taufe ich es jetzt mal rückwirkend, gekommen und Jutt Höfs machte auf Wunsch unserer Mutter seine Arbeit. Natürlich wussten alle Familienmitglieder, wer da nun als fertiger Braten auf dem Festtagstisch angerichtet war. Trotz großer Skrupel wurden seine fleischlichen Überreste verzehrt, wobei meine Schwester Renate sich nach meiner Erinnerung besonders hervortat. Diese ganze Episode hat sich sehr scharf in mein Gedächtnis eingebrannt und mich wohl auch zum Pragmatiker gemacht. Den berühmten Spruch von Brecht lasse ich mal weg.
Der große Garten des Hauses war für uns alle nicht nur ernährungstechnisch von großer Bedeutung. Er war ebenfalls Spielwiese, so wie auch der nahe Strand und der Dünenwald und für meine Schwestern das Achterwasser. In den damals überwiegend strengen Wintern fror es regelmäßig zu und war dann eine gigantische Fläche für das Eissegeln. Auf primitiven Gestellen mit Kufen und ausgestattet mit einem Segel und einer Sitzfläche war großer Spaß für die Älteren angesagt, zu denen ich leider nicht gehörte. Bei diesen Gelegenheiten gab es neben der Schule auch Kontaktmöglichkeiten für meine Schwestern mit dem von den meisten Mädchen verehrten Sohn des bekanntesten Inselmalers Otto Niemeyer-Holstein. Der solchermaßen Begehrte zeichnete sich wohl durch einige Arroganz und Mundgeruch aus. Sein Zuhause lag an der allerschmalsten Stelle der Insel, kaum zweihundert Meter breit, zwischen Zempin und Koserow. Ursprung des Wohnsitzes der Familie Niemeyer war ein ausrangierter S-Bahn-Waggon, den ONH, so nannte der Maler sich, auf der Flucht vor den Nazis 1934 unter abenteuerlichen Umständen von Berlin auf die Insel transportieren lassen konnte. Um den Waggon herum wurden Anbauten platziert, die an das Achterwasser grenzten. ONH stammte aus einer begüterten Familie und konnte sich bereits damals ein eigenes Segelboot leisten. Kurz vor unserer Flucht hat unser Vater uns noch darum gebeten, mehrere Aquarelle von Künstlern von der Insel Usedom zu kaufen. ONH war ihm „zu bunt“ und schied deshalb bei der Auswahl aus, die schließlich zugunsten des traditionellen Malers Hugo Scheele ausfiel. Vermutlich hätte er sich im Grabe umgedreht, wenn er von der späteren künstlerischen Bedeutung ONHs und den Preisen von dessen Bildern erfahren hätte.
Der Garten barg vermeintlich keine Gefahren, so glaubten alle. Sabine und Renate hatten eine Freundin, ebenfalls ein Flüchtlingskind, mit der sie häufig dort Verstecken spielten. Eines Tages, ich glaube im Sommer 1949, nahm das fröhliche Spiel ein sehr schnelles und unfreundliches Ende: Die Freundin war entdeckt worden und sprang aus den Fliederbüschen neben dem Kaninchenstall auf die hölzerne Abdeckung der Jauchegrube. Der geneigte Leser ahnt, was geschah. Die Bretter brachen und das arme Mädchen tauchte in der stinkenden Brühe ein. Unter mörderischem Geschrei und heimlicher Schadenfreude wurde sie mit dem Gartenschlauch von einer Nachbarin grob gereinigt. Der Gestank übertönte immerhin den heftigen Zwiebelgeruch, den die kleine Freundin durch enormen Genuss dieser Feldfrucht immer verströmte. Ich hatte, wohl gerade vierjährig, ebenfalls ein Spielerlebnis im Garten, das meine Eltern in große Aufregung versetzte: zwischen Johannisbeerbüschen hatte ich eine Buddelecke, die ich intensiv nutzte. Beim Graben förderte ich ein metallenes Gestell hervor, das sich als Überbleibsel eines MG 42-Maschinengewehrs herausstellte. In der damaligen Zeit war dies ein hochgefährlicher Fund. Meine Eltern haben mir den meine Entdeckung sofort abgenommen und entsorgt. Erst Jahre später habe ich erfahren, was ich da ausgebuddelt hatte.
Ein anderes Spielereignis, das ich nur aus Erzählungen kenne, ereignete sich im Dünenwald, der noch reichlich Utensilien und bauliche Anlagen aus dem Krieg barg. Dazu gehörten einige Feuerlöschteiche mit einer Tiefe von beinahe zwei Metern und schrägen Wänden aus Beton. Auf dem schmalen Rand balancierte Sabine und rutschte aus. Sie konnte nicht schwimmen und paddelte hilflos im trüben Wasser. Die Schreie meiner beiden anderen Schwestern wurden von einem Mann gehört, der geistesgegenwärtig einen langen Ast in das Becken hielt, an dem sich Sabine festhalten und herausgezogen werden konnte. Wenig später, wohl im Frühjahr 1947, tauschte Brigitte ihr Zuhause gegen das Internat in Heringsdorf ein, der einzigen Oberschule auf der Insel, und war dann nur noch sonntags und in den Ferien in Zempin.
Der Wald, von dem das Grundstück nur durch eine schmale Straße getrennt war, hatte in vielerlei Hinsicht Bedeutung für uns. Von der Oma wurden wir, ich nur als stiller Beobachter, mit Körben versorgt zum Sammeln von Kienäpfeln in den Wald geschickt. Gebraucht wurden sie zum Feuermachen in den Öfen. Und im Sommer und Herbst wurden Blaubeeren und Pilze gesucht. All dies war aber erst einige Jahre nach Kriegsende möglich, als die flächendeckende Verminung in den Küstenwäldern einigermaßen beseitigt war. In den letzten Kriegsmonaten war die Insel gegen das Vorrücken der Sowjetarmee zum Schutz der Anlagen in Peenemünde komplett vermint worden. Mir sind die Detonationsgeräusche der gezielten Sprengungen der Minen noch sehr gegenwärtig.
Ebenso gilt dies für die abendlichen Erzählungen der Eltern von häufigen Opfern unter den Männern, die den Minenräumdienst zwangsweise im Auftrag der Besatzungsmacht zu verrichten hatten. Friedlich ging es nicht zu in diesem abgelegenen Teil der Sowjetzone. Ein Nachbar, der sich nicht auf das Tauschgeschäft verstand, verhungerte. Tatsächliche und vermeintliche NS-Mitglieder wurden abgeholt und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Auf diese Weise wurde auch mancher Nachbarschaftsstreit gelöst. Die neuen Herren nutzten ihre Macht.
Wer immer ihnen nützlich erschien, sollte zum Parteibeitritt in die SED bewegt werden. Unser Vater entzog sich dem Werben und floh in die Westzone, ich glaube 1947. Er kam aber häufig zu Besuch über die grüne Grenze, was unbedingt vor den Nachbarn verborgen werden musste. Die Pakete mit nützlichen Dingen wie Kleidung, Schuhen und anderen dringend benötigten Gebrauchsgegenständen, die wir von unserem Vater erhielten, blieben den Nachbarn nicht verborgen. Dies erregte Neid und Missgunst. Unsere Mutter hat in dieser Zeit mit aus dem Westen geschickten Materialien viele Kindersachen gestrickt und Kleider, Hosen und Mäntel für uns genäht. Ein Mantel im Winter war lebenswichtig. Meine Schwester Renate hat auf eine mir nicht mehr erinnerliche Weise einmal ihren Mantel verbummelt. Es gab eine fürchterliche Aufregung mit heftigen Prügeln für sie. Wir haben aus Mitleid zusammen mit ihr geheult. Die große Nähkunst unserer Mutter ist durch ein wunderbares Foto von mir aus dem Jahr 1949 belegt: ich erhielt einen Anzug samt Krawatte. Den sicher wichtigen Anlass erinnere ich leider nicht mehr.
Trotz aller Improvisationskünste blieb die schiere Not allgegenwärtig. Brigitte erkrankte an Tuberkulose, auch bei mir wurde in der Universitätsklinik in Greifswald ein Schatten auf der Lunge entdeckt. Medikamente dagegen gab es nicht. Ersatzweise bekamen wir Bezugsscheine für Lebertran, der bei den Fischern am Strand in Empfang genommen werden konnte. Der wöchentliche Gang mit einer Milchkanne aus Aluminium, den ich mit unserer Mutter oder Oma mitmachen musste, war für mich wie ein betrüblicher Vorgeschmack auf das Kommende. Das Zeug war unheimlich gesund, aber schmeckte grauenvoll. Flankiert wurde das Ganze von verordneten Liegekuren. Es fehlte auch an ausreichenden Lebensmitteln. Wir hatten eine Art von Dauerhunger. Sabine bekam Hungergeschwüre an den Beinen. Das Knarren der Küchentür in der Nacht war immer ein Alarmsignal für heimlichen Mundraub. Meistens war es die Oma, die sich zu später Stunde eine zusätzliche Musstulle genehmigen wollte. In dieser Zeit hat unsere Mutter aus purer Not etwas gemacht, was der Vater ihr wohl nie verziehen hat. Wenige Wochen vor der Währungsreform im Juni 1948 hat sie seine außerordentlich wertvolle Briefmarkensammlung zur Auktion in Hamburg gegeben. Für unseren Vater war die Sammlung die erhoffte Grundlage für eine neue Existenz im Westen. Sein Entsetzen über den Verlust war enorm. Für den Rest der Familie erwies sich der Verkauf trotz der drastischen Wertreduzierung des Erlöses durch die Währungsreform letztlich als Rettungsanker bis zur Flucht.
Gründe für Freude und Frohsinn gab es trotz der heute kaum vorstellbaren Not und Bedrängnis. So hatten die Weihnachtsfeste immer eine ganz besondere Bedeutung, die weit über Kulinarisches hinausging. Der große Weihnachtsbaum wurde mit Lametta, Strohsternen und Engelshaar (Wattebäuschen) geschmückt. Bis zur Bescherung wurden meine Schwestern und ich in die Küche verbannt. Sehr traditionell musste ich vor dem Auspacken der wenigen Geschenke ein Gedicht aufsagen vor dem als Weihnachtsmann verkleideten Vater. In den ersten Jahren habe ich tatsächlich daran geglaubt, der Weihnachtsmann sei gekommen. Irgendwann habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie es für den Weihnachtsmann möglich sein konnte, bei so vielen Kindern auf der Insel gleichzeitig zu sein. Der Zweifel hat schließlich gesiegt. Diese Erkenntnis und die Kärglichkeit der Feste haben aber nie den hellen Glanz der Harmonie und Zufriedenheit überdecken können.
Nicht zuletzt die Schönheit der Insel mit ihren Buchenwäldern, die bis zu den Stränden reichten, sind fester Bestandteil meiner Erinnerung an die Kindheit. Gelegentlich liefen wir in Begleitung der Eltern die zwei Kilometer durch den Wald bis nach Zinnowitz. Die Relikte der Kriegshandlungen waren auch dort noch gut zu sehen. Verbogene Stahlgerüste von Abschussrampen der V1 und V2 und Reste der Geschosse lagen halbwegs verborgen unweit der Wege. Ziel dieser Spaziergänge war der Eismann im Ort, das einzige Angebot an Annehmlichkeiten für uns Kinder. Der Ort hatte einen zweifelhaften Ruf, weil er sich bereits in den zwanziger Jahren als erstes judenfreies Bad gefeiert hatte.
Zu den großen Ereignissen gehörte das erste wichtige Familienfest, an das ich mich lebhaft erinnere: die Konfirmation meiner Schwester Brigitte im Frühjahr 1949. Sie fühlte sich durchaus immer als Erste unter Gleichen und hatte deshalb besondere Vorstellungen von der Ausrichtung des Festes. Eine Kutsche musste her, gezogen von einem Schimmel als angemessenes Beförderungsmittel für die Prinzessin. Es ergab sich eine Lösung: ein Bauer, der sonst immer als Milchkutscher fungierte, hatte noch eine alte Kutsche im Stall. Schließlich war es erst wenige Jahrzehnte her, dass Kutschen noch normal im Straßenbild waren. Auch der Schimmel war parat: ein kräftiger Kaltblüter, der im Alltag den Milchwagen zog. Auf den zwei gegenüberliegenden Sitzbänken wurde die Familie zur Fahrt von Zempin nach Koserow zur Kirche platziert, Brigitte auf dem Ehrenplatz. Nicht lange nach dem Start, vielleicht stimuliert durch das Kopfsteinpflaster, begann der Schimmel ausdauernd zu furzen und hob kurz vor der Kirche den Schweif, um sich kräftig zu erleichtern. Viel hätte nicht gefehlt und meine große Schwester wäre in Ohnmacht gefallen. Sie wurde aber nur abwechselnd rot und blass, sehr zur Freude der anderen Mitfahrer. Dem Festablauf tat dies aber keinen Abbruch.
Im Sommer 1950 wurde ich eingeschult. Eine nachhaltige Begegnung mit der Alltagsbrutalität hatte ich durch einen Mitschüler, der mir in den ersten Schultagen versuchte beizubringen, dass wir als Flüchtlinge nur Parasiten und unsere Mutter sowieso eine „Westfotze“ sei. Ich wusste zwar nicht, was das sein sollte, empfand es aber trotzdem als bedrohlich. Eine sehr gute Erinnerung an diese kurze Schulzeit in der nun schon etablierten DDR blieb: Axel, ein Klassenkamerad, malte gern und fast ohne Unterbrechung. Er hatte jede Menge Farbstifte und rote Fettkreide, offenbar durch Westverwandte oder noch aus Vorkriegsbeständen. Darum beneidete ich ihn nicht nur heftig, es inspirierte mich auch zum entsprechenden Mittun. Wir malten um die Wette Lokomotiven, Autos und Strandszenen. Wenn ich nicht irre, war dies die Geburtsstunde für mein späteres Interesse an der bildenden Kunst.
Ein Jahr nach Brigitte war Renate mit der Konfirmation dran, aber ohne Kutsche und Schimmel. Sie bekam allerdings von unserem Vater tolle Westschuhe geschenkt, die besonders von den Einheitsexemplaren aus der Kaufhalle abwichen und ins Auge fielen. Dies blieb nicht ohne Folgen. Schon seit geraumer Zeit waren wir als Familie bei den Einheimischen durch die Westwaren auffällig geworden. Man suchte nach Möglichkeiten, meine Mutter unter Druck zu setzen. Ihr wurde mehrfach die Scheidung von dem Republikflüchtling nahegelegt. Ohne Erfolg. Schließlich gab es eine Anzeige wegen Wirtschaftsvergehen. Der Vorwurf wurde mit dem illegalen Tauschhandel von Nähnadeln, die mein Vater geschickt hatte, gegen Fisch und Butter für die Familie begründet. Es wurde eine Haftstrafe sowie der Entzug der Kinder unter staatliche Obhut angedroht. Diese grausame Praxis gab es übrigens bei bestimmten Strafen bis zum Ende der DDR. Davor wurde unsere Mutter rechtzeitig von Freunden gewarnt. Hals über Kopf und nur mit dem nötigsten Gepäck gelang Ende Mai 1951 die Flucht mit der Reichsbahn nach West-Berlin.
Brigitte war inzwischen zu einer begeisterten jungen Pionierin geworden und hatte die Aussicht auf eine Teilnahme am Weltjugendtreffen in Helsinki. Es bedurfte also einer hoch dramatischen Einflussnahme, um sie zur Mitflucht zu bewegen. Die vorläufige Station nach durchstandenen Ängsten vor Entdeckung war das Flüchtlingslager in Berlin-Zehlendorf. Die Unterbringung der gesamten Familie einschließlich der Oma erfolgte in einem Zimmer. Waschgelegenheit im Raum war vorhanden, Toiletten und Duschen auf dem Gang. Nun begann das große Warten auf die Anerkennung als Flüchtlinge und Erteilung der Ausweise A und B, die Voraussetzungen für den Umzug in die Bundesrepublik und den Empfang von Leistungen waren. Die beiden Kategorien bezogen sich auf die kriegsbedingte Vertreibung aus den Ostgebieten und die Flucht aus politischen Gründen aus der DDR. Zum Empfang von Lastenausgleich, der in mehreren Tranchen über Jahre verabreicht wurde, waren nur die Vertriebenen berechtigt, die Vermögensverluste nachweisen konnten. Dies war für die meisten Vertriebenen ein sehr schwieriges Unterfangen, was auch mit vielen Neidanfeindungen der Einheimischen verbunden war. Meine Eltern hatten das Glück, den Nachweis über den Grundstückskaufvertrag in Swinemünde und Sparbücher erbringen zu können. Und die Oma konnte ebenfalls Belege über den früheren Hofbesitz vorlegen. Aus der Warterei bis zur Erledigung aller Formalitäten wurde eine Tortur von ca. 3 Monaten. Ich habe in der Zwischenzeit das zerstörte Berlin ausgiebig kennengelernt. Die Bilder haben sich mir eingeprägt. Nur der Schutt von den Straßen war weitgehend geräumt, sonst waren ganze Häuserzeilen zerstört und nur noch die Skelette, die davon übrig waren, standen als Mahnung. Ich erinnere mich an ein mehrstöckiges Haus, das einfach vertikal halbiert war. Wie in einer überdimensionalen Puppenstube konnte man in die einzelnen Zimmer mit den verbliebenen Möbeln schauen.