Hans-Erdmann Otto Wilhelm Schönbeck hat die Hölle von Stalingrad 1942/43 überlebt, schwer verletzt hat man ihn in das letzte Flugzeug gelegt, das Verwundete aus dem Kessel ausflog. Jahrzehnte hat er, wie fast alle seiner Generation, über den Krieg, das Grauen, über Mord und Elend, geschwiegen. Spät, nicht zu spät öffnete er sich dem Journalisten Tim Pröse und gewährte ihm einen Einblick in seine Erinnerungen. Daraus ist das sehr lesenswerte Buch geworden: “ und nie kann ich vergessen.“ Ein Anti-Kriegs-Buch, erschienen im Frühjahr 2022, wenn man so will, passend zu Putins Überfall auf die Ukraine. Monate nach Kriegsausbruch, wenige Wochen nach seinem 100. Geburtstag ist Hans-Erdmann Schönbeck im Oktober im Altenheim in München gestorben. In der Todesanzeige hieß es: „Er war ein Visionär und Menschenfreund. Seine grenzenlose Energie, seine Zielstrebigkeit und seine Lebensfreude haben ihn 100 Jahre lang getragen. Sein Humor, seine Fürsorge und seine Zuversicht werden uns sehr fehlen.“
Stalingrad. Mythos, Massengrab, Anfang vom Ende von Hitlers Wahnsinn. 80 Jahre sind seit der Kapitulation der 6. Armee unter Generalfeldmarschall Paulus am 2. Februar 1943 vergangen. Russland hat in der Stadt an der Wolga mehr als eine halbe Million Tote zu beklagen, im Kessel von Stalingrad starben 226000 deutsche Soldaten und weitere 300000 Verbündete, 91000 deutsche Soldaten gerieten in sowjetische Kriegsgefangenschaft, nur 6000 überlebten und kehrten nach Deutschland zurück. Um den Wahnsinn zu beschreiben, kann man auch dies benennen: In und um Stalingrad waren über eine Million Soldaten ums Leben gekommen, erfroren, verhungert, erschossen, verreckt, Russen, Ukrainer, Usbeken, Rumänen, Deutsche, Italiener, Belarussen, Kasachen. Die Zahl der bei Bombardierungen und Kampfhandlungen getöteten Zivilisten wird auf über 100000 geschätzt. Wahnsinn, hier passt der in unserer Zeit viel zu oft verwendete Begriff. Stalingrad heißt längst Wolgograd und er spielt eine Rolle in Putins Denken, in seinem Krieg gegen die Ukraine, die er vernichten, auslöschen will als Staat, weil es den Staat Ukraine in Putins Welt nicht gibt.
Warum ich das erwähne? Hans-Erdmann Schönbecks Buch stößt den Leser seines eindrucksvollen Buches darauf, es erinnert einen an die Schuld der Deutschen, an den Vernichtungskrieg, den die Nazis, die Wehrmacht und die SS seit 1941 gegen die Sowjetunion führten, gegen Russland, gegen die Ukraine, gegen Polen, das gemessen an seiner Bevölkerung die meisten Toten zu beklagen hatte. Putin ist heute der Angreifer auf die Ukraine, damals war es Hitler. Und Hans-Erdmann Schönbeck war Täter, wie er selber einräumt, einer, der erst später zum Gegner des Tyrannen wurde, zum erweiterten Widerstand des 20. Juli gehörte und der leider, wie er auch zugibt, nicht den Mut gehabt hatte, Hitler mit seiner Pistole zu erschießen, als er die Chance dazu hatte. Ich widerspreche ausdrücklich dem renommierten Buch-Kritiker Dennis Scheck, der geurteilt hatte, das sei Kitsch.
Ich habe das Buch „und nie kann ich vergessen“ in die Hand genommen und beinahe in einem Zug durchgelesen. Wegen Stalingrad, wegen des 80. Jahrestages der Kapitulation. In meiner Schulzeit war das damals kein Thema, weil überhaupt gern die Nazi-Zeit verschwiegen wurde. Weil es auch nach dem Krieg zu viele Nazis gab in Deutschland. Der Russe war der Feind, der in Berlin stand. Da konnte man leicht die eigene braune Vergangenheit vergessen. Wer danach fragte, wurde abgewiesen. Nicht jetzt, später vielleicht, das verstehst Du sowieso nicht. So ähnlich waren die Antworten. Schönbeck gibt die Antworten, er erzählt aus seinem Leben, über seine feine Herkunft, über das Schüler- und das Soldatenleben, auch darüber, wie ihn der Vater quasi im letzten Moment davor bewahrt, Mitglied der Waffen-SS zu werden. Schönbeck beschreibt das Höllen-Leben in Stalingrad, beschreibt, wie er einen Russen, der brennend aus seinem Panzer geklettert und dem nicht mehr zu helfen war, erschießt. Nein, er sieht sich nicht als Held, er leidet unter dem Krieg, darunter, wie die Nazis andere zu Untermenschen machen. Er schildert, wie er vom Holocaust erfährt, von all dem Grauen, das von diesem Nazi-Führer ausging und wie er mehr und mehr zum Gegner der Nazis wird. Wie er sich verraten fühlte vom Führer.
Schönbeck, das sei hinzugefügt, sieht sich als Hans im Glück, der, den sicheren Tod vor Augen, Stalingrad entkommt, der den Krieg überlebt und später Karriere macht in der Automobilindustrie. Einfühlsam geschrieben ist das Werk von Tim Pröse, der sich in die Lage des Jahrhundertzeugen versetzt, der ihn mitnimmt auf seine lange Reise. Und der betont, dass es lebenswichtig sei in Deutschland, sich zu erinnern. „Erinnerung ist ein Lebensmittel.“ Acht Jahrzehnte seien vergangen, „dass ein ganzes Land nicht nur seinen Anstand, seine Moral und seinen Krieg verlor. Sondern auch seine Seele. Und so liegt der Schatten dieser Zeit auf manchen Gemütern.“ Und auch wenn dieses Land „seine Seele längst wieder wunderbar und in vielen Farben zurückgefunden hat,“ findet es Tim Pröse „widersinnig, dass heute Menschen in den Bundestag gewählt werden, die das Vergessen und Verschweigen zu ihrer Politik erheben“. Politiker, die den berühmten Schlussstrich unter die deutsche Geschichte ziehen wollen. Die das Schweigen propagieren, weil sie das Grauen des Gestern ad acta legen oder verkleinern wollen. Die von Kehrtwenden in unserer Erinnerungskultur reden und das Holocaust-Mahnmal in Berlin ein Denkmal der Schande nennen.“ Es verschlägt nicht nur dem Buch-Autor Pröse „jedes Mal den Atem und würgt“ ihn. Mir geht es doch genauso, wenn ich das lese und höre von AfD-Politikern wie Gauland und Höcke und die neuesten Umfrage dazu stelle: die AfD kommt auf 15 Prozent, die FDP auf 7, die Grünen auf 16, die SPD auf 20 und die Union auf 29 vh. In Bayern könnte die AfD stärker werden als die SPD. Und in den ostdeutschen Ländern ist die rechtsradikale AfD teils stärkste Partei. Wahnsinn.