Es gibt Bücher, die man nach der Lektüre nicht sofort aus der Hand legen möchte. Das soeben Gelesene schwingt nach, Personen sind noch gegenwärtig, vom nüchternen Schreibstil ganz zu schweigen, der dieses Psychogramm zur Besonderheit macht. „ In dieser todesnahen, fast kindlichen Zartheit wirkte Rudolf Augstein, als wolle er nun zeigen, wie verwundbar er wirklich sei. Der derbe Schutzpanzer, der ihn häufig so kampfeslustig erscheinen ließ, war verschwunden. Die verbalen Waffen des scharfzüngig verletzenden Intellektuellen interessierte ihn nicht mehr. Von der schützenden Burg, dem „ Spiegel“ , die ihn hatte mächtig erscheinen lassen, in der er im Laufe der Jahre vielleicht sein eigener Gefangener geworden war, konnte er sich jetzt lösen. Zum Vorschein kam ein heiterer, in sich gekehrter, scheuer Mann, den nur jene kannten, die er in seltenen Momenten an sich herangelassen hatte. „
Rudolf Augstein, der am 7.November 2002, zwei Tage nach seinem 79.Geburtstag gestorben ist, hatte Glück. Mit Irma Nelles fand er eine Biografin, die er „ an sich herangelassen hat „. Aber die frühere Büroleiterin des Spiegel-Herausgebers hat sein Vertrauen nicht missbraucht. Im Gegenteil: Sie bleibt nüchtern, verzichtet auf Pathos oder Liebedienerei, beschreibt einen Publizisten, der ein herrischer Machtmensch und eine umstrittene Institution in der deutschen Presselandschaft war, der Bewunderer und Gegner hatte und dem sein Freund Martin Walser die sympathische Anekdote nachgerufen hat: „ Ich habe ihn einmal, als wir uns nicht mehr für nüchtern halten konnten, getragen, eine Treppe hinab und hinüber zum Taxi. Er war leicht. Mehr Vogel als Stein. So leicht, als bestünde er aus lauter Gedanken. Er war schneidig. Er war liebenswürdig. Am liebsten würde ich sagen: er war ein toller Kerl“.
Nach der Lektüre dieses atemberaubenden Porträts weiß man, dass Rudolf Augstein zwar eine ambivalente Persönlichkeit war: Genie, Querulant, Querkopf und Charmeur, hochfahrend, verletzend, geistreich, plump, arrogant, liebenswert und sozial, ein störrischer Mensch, der aus einer anderen Welt kam, immer noch von der Todesnähe eines Krieges berührt, in den er als Siebzehnjähriger hineingeschlittert war, das verletzte Opfer fremder und individueller Selbstzerstörung, ein rätselhafter Mann , der sich verwunden konnte, bis es die „ Wunde selbst war, die ihn zwang zu leben“, wie die Autorin schreibt. Und uns wissen lässt: Dieser Autodidakt hatte seinen Friedrich Nietzsche gründlich gelesen.
Kochte Kaffee und reichte Klopapier
Irma Nelles war keine sturmerprobte Journalistin, als sie 1973 mit den Protagonisten des deutschen Alpha-Journalismus in Berührung kam: Die damals Sechsundzwanzigjährige fing im Bonner Spiegel-Büro als Sekretärin an, kochte Kaffee, tippte Manuskripte und reichte Klopapier durch, falls ihre nach Hilfe brüllenden Kollegen in hoher Not danach verlangten. Aber die stets ruhig-kontemplative Norddeutsche, die aus rheinischer Bürgerlichkeit ausbrach, weil damals Veränderung in der Luft lag und alle, nur an Heim und Herd verdonnerte Frauen das Gefühl hatten, „in einer biederen Courths-Maler-Welt zu leben“, war längst zu neuen beruflichen Ufern unterwegs.
In der altkatholischen, elterlichen Familie war das Hamburger Nachrichtenmagazin stets Pflichtlektüre gewesen. Nach Augsteins Verhaftung bangte man hier nicht nur um das persönliche Schicksal des Herausgebers, sondern auch um die allgemeine Pressefreiheit in Deutschland. „ Anfang November war Rudolf Augstein auf einem der Titelbilder zu sehen. Er sah modern und großstädtisch aus, trug einen Glencheck-Anzug, eine schmale Strickkrawatte und eine schwarz umrandete Brille“.
Der Anfang einer Beziehung, die dreißig Jahre andauern sollte, war gemacht. Irma Nelles ging nach Bonn und wechselte später nach Hamburg, wo sie für Augsteins Texte, Reden und Interviews zuständig war. Die Frau mit der ausgleichenden Art wurde zwar Teil einer bizarren Welt und bald so unentbehrlich, dass Augstein auf ihren Rat und Hilfe fast nicht mehr verzichten konnte. Aber sie war nicht dabei, sondern blieb stets die zugewandte Außenseiterin, die sich von seinen Attitüden zwar beeindrucken ließ, allen Annäherungsversuchen des dreisten Erotomanen aber mit Nonchalance widerstand. Auf manche, hier geschilderten Alt-Herren-Episoden hätten Verlag und Autorin vielleicht verzichten können. Aber die Offenheit hat auch ihr Gutes: Sie zeigen die hilflose Einsamkeit eines Mannes, der von sich selbst sagte, dass er eine Sache gerne gemacht hätte: „ Eine Frau, die mit einem Kind am Gartenzaun steht und hinter mir herwinkt, wenn ich zur Arbeit fahre. Das ist leider schief gegangen“.
Unbändige Lust an Ulk
Das war Machos Sehnsucht nach der alten Welt. Augsteins Aufrichtigkeit, sein jungenhaftes Auftreten und die unbändige Lust an Ulk und derben Späßen gehörten ebenso zu ihm wie seine oft maßlose, fast herrische Autorität. Aber gerade solche Beschreibung macht dieses glänzend geschriebene Sittenbild der deutschen Mediengeschichte so unverwechselbar. Nach überflüssigem Klatsch und Tratsch, nach skandalträchtigen Amouren oder schlüpfrigen Bettgeschichten sucht man in diesem Buch aber vergeblich. Dafür gibt es unzählige Anekdoten und Ereignisse, die fast nach einem Filmdrehbuch verlangen, weil sie die Machtspiele in einem Pressezoo illustrieren, die längst vorüber sind. Aber nicht nur Frauen, auch Männer haben unter Rudolf Augstein, dieser seltenen Mischung aus Charmeur, Dompteur und Ekelpaket, offenbar heftig gelitten.
Man erlebt zum Beispiel den im „Spiegel“ geschätzten, aber auch allseits gefürchteten Herausgeber, wie er eines Tages mit Gattin in sein Bonner Büro hinein wuchtet und schon vorher die gesamte Belegschaft in Spannung versetzt. „Dass er ins Haus stand, fiel sofort auf. An solch einem Tag wirkten die Redakteure rasierter und frisierter als sonst und trugen ordentliche Anzüge, sogar mit Krawatte .Die Herren taten zwar alle so, als sei dieser Besuch für sie Routine, doch schon morgens um neun ging zwischen Bonn und Hamburg ein ausführliches Hin-und Her-Telefonieren los“.
Freunde wie die Regniers
Da gab es gute Freunde wie die Regniers aus Hamburg, die sich um den einsamen Rudolf ständig Sorgen machten; wir erleben eine Fahrt im ramponierten Heißluftballon, die nur deswegen glimpflich endet, weil der „ kriegserprobte“ Augstein als zufälliger Kapitän das Höhenruder in die Hand nimmt und barsch den geordneten Sinkflug kommandiert. Wir lesen über den arbeitenden Journalisten, der keinen Feierabend kennt, bis zur Erschöpfung schreibt und sogar einen fertigen „Spiegel“-Titel noch in allerletzter Minute aufhalten kann. Wir erleben einen genialen Herausgeber, der seine Mitarbeiter, allen voran die Chefs, umschmeicheln und schikanieren kann.
Aber wir erleben auch einen Mann, der sein geliebtes Bier nur aus der Flasche trinkt, Knäckebrot isst oder in hässlichen Sandalen durch Luxushäuser schlurft, von denen der offenbar Steinreiche mehrere besitzt. Oft wird Augstein als zerrissener Mann und einsamer Wolf beschrieben, der nach fünf gescheiterten Ehen und zahlreichen missglückten Beziehungen unglücklich und misstrauisch geworden ist.
Solche Beschreibungen wechseln sich mit der Analyse von politischen Ereignissen ab, die das Buch besonders auf den letzten Seiten historisch lesenswert machen. Über den Mord an Schwedens Ministerpräsident Olof Palme und den Tod Uwe Barschels ist Augstein zutiefst erschüttert; das Foto des toten Barschel in der Badewanne, das damals Furore machte, durfte nach Augsteins Meinung ohne Einwilligung der Barschel- Familie nicht veröffentlicht werden. Schutz der Privatsphäre ging vor Presserecht. Er war gegen den Euro, sah „innereuropäische Verteilungskämpfe“ voraus und schrieb heftig dagegen an. Außenminister Joschka Fischer war eine „Charaktermaske“; Gerhard Schröder, den er für sein klares Nein gegen den Irak-Krieg lobte, saß sogar am Geburtstagstisch. Marianne Hoppe, Marion Gräfin Dönhoff, Hildegard Knef, Marcel Reich-Ranicki und viele andere aus der deutschen Geistes-und Medienwelt gehörten zum illustren Kreis seiner Freunde.
Beschämung ob der Vergangenheit
„Ich habe mich doch immer für alles, was wir den Juden angetan haben, so entsetzlich geschämt“, sagt er einmal und die Autorin fragt, ob diese Beschämung, von der Augstein in seinen Artikeln und in Spiegel-Gesprächen oft sprach, in Wahrheit ein ständig belastendes Thema war, das sein Gemüt verfinsterte. „ War diese Beschämung für ihn also wie ein quälendes Leiden, das sich im Lauf der Zeit mit der Scham darüber verband, süchtig nach einer Art ewigen Vergessens zu sein? Brauchte er die Hingabe an den Rausch auch, um diesen Teil der deutschen Vergangenheit schattenhaft versunken erscheinen zu lassen? Versuchte er mit seinem hohen moralischen Anspruch an alles Politische, seinem, nicht nur im „Spiegel“ gefürchteten Streben nach Fehlerlosigkeit die .. eingegrabenen Ängste zu überwinden, sich für politisches Versagen noch einmal mitverantwortlich zu fühlen?“
Am Ende seines Lebens zeigte sich dieser, so ungemein Kämpferische und Kampferprobte versöhnungsbereit auch den früheren Gegnern gegenüber. „ Ich hatte den interessantesten Beruf, den man sich denken kann. Ich hätte mit niemandem anderen tauschen wollen.“ Ein zutiefst aufregendes und wahrhaft deutsches Leben. Irma Nelles sei Dank, dass sie es bilanziert und aufgeschrieben hat. „ Es gibt etwas jenseits von Liebe und Freundschaft“. Auch über diesen Satz der Regisseurin Sofia Coppola, den die Autorin ihrem Buch voran stellt, hätte sich der Löwe Augstein gefreut.
Irma Nelles: Der Herausgeber. Erinnerungen an Rudolf Augstein. Aufbau-Verlag, 320 Seiten, 22,95 Euro
Bildquelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-F032086-0037 / Gathmann, Jens / CC-BY-SA 3.0