Die Frau wirkt sehr gelassen und freundlich, dazu ausgesprochen aktiv. Auf Fragen nach ihrer Kindheit, die eine Geschichte der besonderen Art ist, die man sich, die man keinem Freund wünscht, antwortet sie sachlich, unaufgeregt, da ist kein Ton von Hass dabei. Die Täter von damals hat sie nicht gekannt, also kann sie ihnen auch nicht vergeben. „Dazu bin ich nicht befugt“, sagt sie. Wie auch. Sie war ein Kind. Die Täter müssen natürlich verurteilt werden. Aber das ist Sache der Gerichte. Sie, Eva Schulz-Jarden, hätte Gründe, viele Gründe, diese Täter zu hassen. Denn sie ist im Jahr 1935 auf die Welt gekommen, in der 8000 Einwohner zählenden Kleinstadt Oberglogau in Oberschlesien, als es noch deutsch war. Ihr Vater, ein Lederwaren-Kaufmann, war Jude, ihre Mutter eine Katholikin. Auch wenn ihre Eltern die Schrecken des Nazi-Regimes die Tochter nicht spüren ließen und versuchten, sie damit zu verschonen, ahnte die Kleine doch, dass da nichts Gutes passierte, weil plötzlich der Vater verschwand, die Mutter Zwangsarbeit auf einem Bauernhof leisten musste, weil die geliebte Großmutter eines frühen Morgens abgeholt wurde und nicht mehr wieder kam. Das Kind durfte nicht mehr mit anderen Kindern spielen, die Furcht war ihre ständige Begleiterin. Die körperlich kleine, schmale Frau hat daraus die Lehre gezogen: Sie tritt für Toleranz ein, für Mitmenschlichkeit, für mehr Verständnis unter allen in Deutschland lebenden Menschen gleich welcher Religion, Hautfarbe oder Herkunft.
Eva Schulz-Jander ist die katholische Präsidentin im Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Daneben gibt es noch einen jüdischen und einen evangelischen Präsidenten an der Spitze des Rates, der vor 65 Jahren gegründet wurde. Er vertritt als Dachverband 82 lokale und regionale Gesellschaften für „Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ mit rund 20000 Mitgliedern. Sein Sitz ist in Bad Nauheim. Frau Schulz-Jander wohnt in Kassel und arbeitet dort in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit mit. Sie gibt zudem englische Konversations-Kurse an der Kasseler VHS.
Im Dialog bleiben, ist eines der Ziele des Koordinierungsrates. Heißt auch, sich für mehr Verständigung zwischen Juden und Christen einzusetzen, für gegenseitige Achtung trotz aller Unterschiede. Man kämpft mit den Mitteln der Zivilgesellschaft gegen jede Art von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Frau Schulz-Jander sieht den Fremdenhass als hässlichen Begleiter demonstrierender Radikaler, die oft nur darauf aus seien, sich mit Gewalt irgendwo Gehör zu verschaffen und Minderheiten unter Druck zu setzen, ja sie zu verprügeln. In der Tat ist die Nähe zwischen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus nicht selten unverkennbar, wenn man auch einräumen muss, dass mancher Jugendlicher mit Plakaten gegen Israel durch die Gegend läuft, ohne zu wissen, gegen was er da gerade protestiert.
Aufklären ist ein Thema, Mut und Zivilcourage auch, aber Frau Schulz-Jander sind die reinen Bekenntnisse nicht ausreichend. „Mut und Zivilcourgage müssen auch gelebt werden“, sagt sie, „wenn in der Straßenbahn ein paar Randalierer einen alten Mann oder eine ältere Frau oder eine Jugendliche, die schwach aussieht, bedrängen, terrorisieren. Dann muss halt mal per Handy die Polizei angerufen und der Straßenbahnfahrer muss laut informiert werden. Ich weiß, dass das nicht immer ohne Risiko ist. Aber nur in Sonntagsreden mehr Zivilcourage zu fordern, ist mir zu wenig.“
Die Vergangenheit wird sie nie vergessen. Wie auch! Diese mutige Persönlichkeit zeichnet eine wechselvolle jüdisch-christliche wie deutsch-amerikanische Biographie aus. „Mein jüdischer Vater war der große Abwesende meiner Kindheit.“ Er lebte zuerst in einem „Judenhaus“ in Berlin und arbeitete als Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie. Nach der „Fabrikaktion“ musste er vom KZ Sachsenhausen aus weiter arbeiten. Aber er überlebte, mit dem Kriegsende konnte er das KZ verlassen. „Meine katholische Mutter, die Musikerin und Pianistin war, durfte den großen schwarzen Flügel nicht mehr bedienen. Sie hatte Musikverbot erhalten, weil sie zu meinem Vater und zu mir gehalten hat. Auch sie musste Zwangsarbeit leisten, mit ihren feinen Pianisten-Händen die Ställe auf einem Bauernhof ausmisten
Dank der Hilfe des Vaters können viele Verwandte ins Ausland fliehen, ihm und seiner Familie gelingt es 1939 nicht mehr. Zu spät. Man stelle sich das vor, der Vater im KZ, die Mutter mit der Tochter allein in einer kleinen Stadt in Oberschlesien, wo jeder jeden kennt, wo jeder weiß, wer Jude oder mit einem Juden verheiratet ist. Ein Spießrutenlaufen sei das Leben für sie und ihre Mutter gewesen, nennt sie das heute. Und um ein Haar wären sie fast noch in Auschwitz gelandet, aber da standen schon die russischen Truppen unmittelbar davor und es gingen kaum noch Züge. „Als ich 1990 wieder mal in Oberglogau war, habe ich erst gesehen, wie nahe es an Auschwitz war“.
Juden sind verfemt in dieser Zeit, ausgesperrt vom normalen Leben, wenn davon noch die Rede sein kann, und beinahe vogelfrei. Sie genießen kaum Schutz in diesem Reich, wo Unmenschen das Sagen haben und oft genug machen, was sie wollen. Menschenrechte, das sind Dinge, die Juden im Deutschland der Nazis selten erfahren. Und trotz aller Intoleranz und Gnadenlosigkeit der Nazis gegenüber den Deutschen jüdischen Glaubens prägt sich bei Eva tief ein, wie wichtig das Gegenteil dessen ist, was Menschen wie sie erleiden müssen. Toleranz, Menschlichkeit, menschliches Zusammenleben, der Respekt vor dem Mitmenschen, egal, wie er aussieht, gleich, wie ungeschickt er sich benimmt. Jeder Mensch ist anders, na klar. Ja und? „Menschen müssen mir nicht ähnlich sein, damit ich ihre Würde akzeptiere und ihre Rechte anerkenne. Ein friedliches Miteinander lebt von der Anerkennung des anderen, von seiner Gleichberechtigung“.
Die Familie wandert 1950 in die USA aus, der Vater wollte es so. Ein Leben in Deutschland für einen Juden, der gerade noch die Hölle überlebt hatte, dazu mit seiner Frau und der jungen Tochter? Er folgte der Schwester, die früh genug die Flucht ins freie Amerika geschafft und sich in Texas niedergelassen hatte. „Für uns war Nordamerika vor allem Befreiung. Ich wurde Amerikanerin aus vollem Herzen“, schildert sie ihre Eindrücke aus jener Zeit. Eva studiert in den Staaten Romanistik und wird promoviert.
Während des Studiums lernt sie einen deutschen Austauschstudenten kennen und lieben und folgt ihm 1967 nach Deutschland.
Ausgerechnet ins Land der Täter? „Nein“, sagt sie leise, „das habe ich so nicht gesehen, obwohl ich mir bei älteren Menschen damals schon die Frage stellte, was haben sie getan während des Krieges, waren sie Aufseher oder gar Mörder, aber gefragt habe ich nicht. Dazu hatte ich doch noch zu große Angst.“ In Freiburg arbeitet sie an der Universität. Sie lernt das neue Deutschland kennen, das Wirtschaftswunderland, das sich ab Mitte der 60er Jahre seiner düsteren Vergangenheit stellt. Studentenunruhen bisher unbekannten Ausmaßes verändern die Stimmung. Es wird heftig demonstriert fast überall im Land. Eines Tages landet sie in Kassel, wo sie heute noch lebt. „Meine Geschichte mit Kassel ist eine Geschichte von Begegnungen und Freundschaften“.
Eva Schulz-Jander ist in Kassel noch nie beleidigt, noch nie angegriffen worden. Kassel sei anders, sagt sie, hier herrsche ein angenehmes Klima. Diese Stadt habe sehr früh versucht, ehrlich die Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie lobt den früheren OB von Kassel, den späteren Bundesfinanzminister Hans Eichel. Der Sozialdemokrat habe eine offene Atmosphäre geschaffen, hier werde niemand ausgegrenzt. „Ich fühle mich wohl hier und sicher“, betont sie.
Dann erzählt sie eine Geschichte, die mich an einen früheren Chefredakteur erinnert. Dieser Mann hatte als Sprach-Regel für seine Zeitung eingeführt, bei Personen-Beschreibungen auf den Zusatz „Ein Farbiger“ zu verzichten. Er hielt das für diskriminierend. Begründung: Wenn die Polizei einen Weißen festnimmt, wird das ja auch nicht dazu geschrieben. Passend dazu, was Eva Schulz-Jander mit ihrem Enkel passierte. Ihre Tochter arbeitet als Ärztin in Botswana, der Enkel geht zur Schule und hat u.a. Schlagzeugunterricht. Und die Oma fragt den Enkel später: „War der Lehrer schwarz oder weiß“. Worauf der Enkel mit einer Frage antwortet: „Warum fragst Du ?“ Allein die Frage schien ihm absurd und unnötig. Eva Schulz-Jander war sprachlos.
Sicher, auch sie hat die Vorgänge bei den Demonstrationen gegen die Gaza-Politik der israelischen Regierung beunruhigt, als junge Muslime Plakate mit Aufschriften wie „Judenschweine“ zeigten. „Einige junge Menschen wissen nicht, warum sie protestieren. Sie sind gewalt-geneigt. In manchen Regionen der Republik gibt es Integrationsdefizite, keine Jobs für die Jugendlichen, sie sehen keine Zukunft für ihr Leben. Aber einige wissen schon, was sie tun und haben einen echten Hass auf Juden und alles Jüdische, das sich jetzt im Anti-Zionismus ausdrückt. Und dann gibt es immer die gewaltbereiten Mitläufer, die nur prügeln wollen“.
Frau Schulz-Jander pflegt in Kassel ein ordentliches Miteinander mit Muslimen. Antisemitismus gab es schon immer und fast überall auf der Welt. Und hat nicht Hannah Arendt gesagt: Vor dem Antisemitismus sei man nur auf dem Mond sicher. Ja, man muss ein wenig aufpassen. Das ist schon richtig. Sie findet, die deutsche Polizei müsse mit mehr Hartnäckigkeit vorgehen. Das habe sie bei der Verfolgung der NSU-Verbrechen schon vermisst.
Politisch dagegen gebe es keine Probleme, nicht den Ansatz eines Anklangs von 1933. Nein, der deutsche Gesetzgeber ist klar in seiner Haltung zum Staat Israel. Das gehört zur deutschen Staatsräson, Deutschland fühlt sich aufgrund der gemeinsamen schlimmen Geschichte, die mit der Massenvernichtung der Juden in Auschwitz und anderswo ihren Tiefpunkt erreichte, als Schutzmacht Israels. Darin sind sich die Parteien im Bundestag einig. Das schließt gelegentliche Kritik wegen der Siedlungspolitik der israelischen Regierung aber selbstverständlich mit ein.
Für Leute wie Eva Schulz-Jander und alle, die für das Zusammenleben der Kulturen in Deutschland seit Jahren arbeiten, bedeuten Schmähungen gegen Juden und andere Minderheiten zwar ein herber Rückfall, der sie aber nicht hindert, weiterzumachen. „Wir müssen alle weiter gegen jede Form der Diskriminierung angehen, wir müssen uns einmischen, wenn etwas schiefläuft. Niemand soll wegschauen, weil er Angst hat vor Scherereien. Gerade dann ist Solidarität der Gesellschaft nötig.“
Intoleranz und Fanatismus könne man am besten durch Wissen und Kommunikation bekämpfen, dadurch, dass man sich gegenseitig kennenlernt. Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit organisiert Fachtagungen und Kongresse für Erwachsene und Schulen, wo auch über Gewalt unter Kindern und Jugendlichen gesprochen wird. Christliche, jüdische und muslimische Religionslehrer werden zu Kolloquien eingeladen. Unterstützt werden Buchprojekte, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, die zur Toleranz beitragen. Eine gerechtere, tolerantere und friedfertige Gesellschaft ist das Ziel. Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du, zitiert Frau Schulz-Jander die Schrift. „Leben heißt in Respekt vor dem Anderen zu leben, ihn nicht zu betrügen, ihn so zu behandeln, wie wir behandelt werden möchten“.
Jedes Jahr verleiht der Koordinierungsrat bei der Eröffnungsfeier der „Woche-der-Brüderlichkeit“ die Buber-Rosenzweig-Medaille an Institutionen und Personen, die sich verdient gemacht haben um die Verständigung zwischen Christen und Juden. Am 10. März 2015 beginnt die nächste Woche der Brüderlichkeit in Ludwigshafen. Prof. Hans-Peter Heinz und der Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken erhalten dann die Buber-Rosenzweig-Medaille.
Bildquelle: Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR)