In diesen Tagen erscheint ein mächtiges Werk mit fast 1000 Seiten über Helmut Kohl. Der renommierte Berliner Historiker, Professor Henning Köhler, der vor Jahren das Leben und politische Wirken Konrad Adenauers beschrieb, hat sich in den letzten drei Jahren an Helmut Kohl abgearbeitet. “Helmut Kohl – Ein Leben für die Politik“, so lautet der Titel dieser umfangreichen Biografie. Mit intensiven Recherchen, zahlreichen Gesprächen mit Weggenossen und akribischem Studium von Dokumenten fördert Henning Köhler vieles zu Tage, was bislang von Kohl noch nicht zur Kenntnis genommen wurde.
Der Weg zum Kanzler der deutschen Einheit war nicht einfach vorgegeben, doch nur wenige hielten so stringent an der Idee der Wiedervereinigung über eine so lange Strecke fest wie Kohl – und das, obwohl der Zeitgeist gegen die Einheit eingestellt war.
Während viele andere Politiker die Wiedervereinigung als Lebenslüge der Deutschen geißelten, war er der Überzeugung, dass das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Wiedervereinigung wieder erlangen wird. Gewiss, der Zeitpunkt überraschte auch Helmut Kohl, der sich in Warschau zu einem Staatsbesuch aufhielt, als am 9. November 1989 die Mauer von der DDR-Seite her, von den ostdeutschen Landsleuten, zu Fall gebracht wurde.
Gorbi vertraute auf Kohls Hilfen
Das historische Fenster für die Wiederherstellung der Einheit in Frieden und Freiheit stand damals nur einen Spalt auf. Doch Kohl hatte politisch gerade mit dem Aufbau von Vertrauenskapital in den USA und in Europa Vorsorge getroffen, sodass ihm letztlich trotz mancher Widerstände das Werk der Einheit gelang. Dafür konnte er auch Michail Gorbatschow gewinnen, der angesichts der wirtschaftlichen Probleme in seinem Sowjetreich auf Kohls Hilfen vertraute.
Köhler zeichnet in dieser Biografie vor allem auch das Profil des großen Europäers facettenreich nach: “Europa stand zu allen Zeiten im Zentrum des politischen Denkens von Helmut Kohl.“ Insbesondere galt es, diesen Kurs auch nach der Wiedervereinigung engagiert fortzusetzen, zumal es gar Befürchtungen gab, Deutschland könnte sich auf den Weg in das “Vierte Reich“ begeben.
Ein Vernunfteuropäer
Der Autor bezeichnet Helmut Kohl zum einen als “Vernunfteuropäer, der keine Illusionen über die Langsamkeit des Einigungsprozesses und die Probleme bei der mühsamen Suche nach Kompromissen hatte. Andererseits blieb bei ihm der Traum vom vereinigten Europa aus seinen Jugendjahren lebendig.
Sehr eindrucksvoll sind die Beschreibungen des langen Weges von Helmut Kohl mit seinen schnellen Aufstiegen schon in jungen Jahren in seinem Heimatland Rheinland-Pfalz, seinen harten Bewährungsproben nach dem Wechsel nach Bonn, seinem Einzug ins Kanzleramt, seiner 16 Jahre währenden Ära als Regierungschef, aber auch mit der Niederlage im Jahre 1998. Nie war Kohl der große Liebling der Medien; einige Journalisten wollten ihn gar “in sechs Monaten herunterschreiben“. Nach außen gab er sich dennoch hart und kämpferisch, im Inneren war er oft genug empfindlich getroffen und verbittert.
Henning Köhler beleuchtet sehr einfühlsam das Verhältnis von Helmut Kohl zu seiner Frau Hannelore, die mehr noch als er unter den öffentlichen Attacken, der Verächtlichmachung und den Verletzungen leiden musste. Das verstärkte sich nach der verlorenen Bundestagswahl im Jahre 1998 sowie nach dem Rücktritt Kohls als CDU-Vorsitzender noch und erreichte den Höhepunkt im Jahr darauf mit der Spendenaffäre.
Persönliche Katastrophe
Der Biograf zeichnet recht detailliert nach, wie der Druck der Medien und auch der Partei vor allem auf Kohl zielte, wie Wolfgang Schäuble sehr widersprüchlich operierte und wie es schließlich zu dem Bruch zwischen den beiden Spitzenpolitikern der CDU kam. Angela Merkel, damals CDU-Generalsekretärin, schrieb am 22. Dezember 1999 einen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der “dem verstörten Parteivolk wie ein Lichtstrahl in der Finsternis“ erschien, der jedoch zugleich “fast einem Nachruf auf Helmut Kohl glich – ohne polemische Angriffe oder Schuldzuweisungen.“
Die persönliche Katastrophe nahm für den “Kanzler der Einheit“ ihren Lauf. Hannelore Kohl nahm sich Anfang 2001 das Leben; das war für Helmut Kohl der gewiss schwerste Schicksalsschlag. Mit den Söhnen Walter und Peter nahmen die Spannungen zu: “Eine tief greifende Veränderung im Verhältnis Kohls zu seinen Söhnen trat 2004 ein, als er ihnen mitteilte, dass er eine neue Lebenspartnerin gefunden habe“, so beschreibt Köhler die neue Beziehung zu Maike Richter, die Kohl Anfang Mai 2008 heiratete. Zuvor hatte Helmut Kohl einen schweren Unfall in seinem Oggersheimer Haus und dabei ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten, das ihn zum Pflegefall werden ließ. In geradezu bewundernswerter Weise wird er seitdem von seiner zweiten, wesentlich jüngeren Frau betreut. Doch verschiedene Bücher seiner Söhne, die auch in TV-Shows auftraten, sorgten dafür, dass Helmut Kohl nicht in dem “redlich verdienten Frieden“, wie der Biograf es darstellt, leben kann. Besondere Turbulenzen bescherte Kohls einstiger Ghostwriter Heribert Schwan dem Altkanzler mit einem Buch über Hannelore Kohl mit dem Titel “Die Frau an seiner Seite“ und mit dem indiskreten Werk mit dem Titel “Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle“, über das Kohl gegen Schwan noch vor Gericht streitet.
Henning Köhler wagt sich mutig an eine Gesamtbewertung des Lebenswerks von Helmut Kohl, seines Lebens von der und für die Politik. Ja, er plädiert dafür, endlich “die grandiose politische Leistung dieses Mannes zu würdigen“, vor allem die deutsche Einheit, die Modernisierung Deutschlands und die Verdienste um Europa. Er fordert in seiner Schlussbetrachtung eine neue angemessene Bewertung – so wie es vor Jahren bereits Roman Herzog vorgetragen hatte: “Die Spendenaffäre erscheint bei genauer, historischer Betrachtung in einem anderen Licht“, so Henning Köhler, der in seinem Buch deutlich macht, dass “Kohl sich für seine Partei geopfert hat. Er hat Verstöße gegen das Parteiengesetz zugegeben. Indem er aber die Namen der Spender verweigerte, lenkte er von den Spenden ab und zog die Ächtung auf sich. Denn es ging nur gegen Kohl – nicht gegen die Spender oder die Partei.“
Das Buch ist eine eindrucksvolle Schilderung eines Mannes, der länger als alle anderen Kanzler unsere Republik regierte, der die CDU prägte wie nur Konrad Adenauer zuvor, der mit seinen politischen Erfolgen einen Platz in den Geschichtsbüchern einnehmen wird, der indessen auch als tragische Persönlichkeit zu betrachten ist. Zugleich ist das Werk ein lebendiges Geschichtsbuch für die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute.
Henning Köhler:
Die Biografie Helmut Kohl – Ein Leben für die Politik – Quadriga-Verlag 2014