Am 29. Januar 2025 wurde im Deutschen Bundestag eine rote Linie überschritten. Erstmals seit Gründung der Bundesrepublik suchte und fand eine der großen demokratischen Parteien bewusst eine Mehrheit mit den Stimmen der extremen Rechten. Die CDU/CSU unter Friedrich Merz hat damit nicht nur ihr eigenes Wort gebrochen, sondern auch einen jahrzehntelangen demokratischen Grundkonsens aufgekündigt. Die erschreckende Taktlosigkeit dieses Vorgehens wird noch dadurch unterstrichen, dass es ausgerechnet am Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust geschah.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat zurecht das Gedenken an die unschuldigen Opfer der Terrorakte von Mannheim, Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg an den Beginn seiner bewegenden Rede gestellt. Das Leid der Eltern des getöteten zweijährigen Kindes bleibt unvorstellbar. Jede dieser Taten zeigt Defizite auf – auch politische. Gleichzeitig darf die verständliche und richtige Empörung nicht für politische und parteitaktische Manöver missbraucht werden, dass ist das, was wir Friedrich Merz vorwerfen. Auch der Bundeskanzler hat daran erinnert: „Seit Gründung der Bundesrepublik vor über 75 Jahren gab es immer einen klaren Konsens aller Demokratinnen und Demokraten: In unseren Parlamenten machen wir mit extremen Rechten nicht gemeinsame Sache. Sie haben diesen Grundkonsens unserer Republik im Affekt aufgekündigt.“ [Plenarprotokoll Deutscher Bundestag, 29.01.2025]. Diesen Grundkonsens, diese Brandmauer dürfen wir nicht aufgeben.
Was uns als aufrechte Demokratinnen und Demokraten empört ist – wie es auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich ausgedrückt hat – die „Leichtfertigkeit, […] die Wahrheitswidrigkeit und […] die Rechtsbeugung“ [REUTERS/Agenturübersicht, 29.01.2025], die die Vorschläge der CDU/CSU durchzieht. Das wohlfeile Bedauern von Friedrich Merz über die zustande gekommene gemeinsame Mehrheit mit der AfD ist nichts als eine durchsichtige Geste, die die Schwere dieses demokratischen Tabubruchs nicht im Ansatz erfasst. Das höhnische Lachen und der Jubel der rechtsextremen AfD im Plenum des Bundestages zeigt nicht nur, dass auch eine rechtsoffene CDU/CSU von der AfD allenfalls als Erfüllungsgehilfin missbraucht und als Teil der sogenannten Altparteien dennoch verachtet wird, es ist als Demokrat auch schwer auszuhalten.
Selbst die ehemalige CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel sah sich genötigt, den offenkundigen Wortbruch ihres Nachfolgers öffentlich zu kritisieren. Dies unterstreicht die historische Dimension dieses Vorgangs. Während in anderen europäischen Ländern Kooperationen zwischen Konservativen und Rechtsextremen zwar politisch bedauerlich sein mögen – in Deutschland sind sie angesichts unserer Geschichte schlicht unverantwortlich und hochgradig gefährlich. Das Verhalten der CDU sendet ein verheerendes Signal an unsere europäischen und internationalen Partner und an alle, die sich – bei vielen unterschiedlichen politischen Meinungen – hinter der Überzeugung „Nie wieder!“ versammeln können und sich gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und für die Demokratie engagieren.
Die schrecklichen Terroranschläge von Mannheim, Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg verlangen nach einer entschlossenen Antwort des Rechtsstaats. Das ist unbestritten. Diese Antwort muss aber auf dem Boden unserer Verfassung und des europäischen Rechts erfolgen. Die SPD steht für eine konsequente und rechtsstaatliche Asylpolitik, die Humanität und Ordnung gleichermaßen berücksichtigt: Wer Schutz braucht, dem wird geholfen. Wer schwere Straftaten begeht oder eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt, muss unser Land wieder verlassen. Die Vorschläge der Union sind nicht nur rechtlich unhaltbar, sie sind auch in der Sache untauglich und dienen einzig dem Zweck, im Wahlkampf Stimmung zu machen.
Die Gefahr für unsere Demokratie ist real. Wer wie Friedrich Merz die Brandmauer gegen Rechts einreißt, der öffnet den Feinden der Demokratie Tür und Tor. Der Blick nach Österreich und in die USA zeigt, wohin dieser Weg führen kann. Wer glaubt, man könne mit Rechtsextremisten taktisch zusammenarbeiten, ohne sich die Hände schmutzig zu machen, der irrt fundamental. Dieser Weg hat schon andere konservative Parteien in die Bedeutungslosigkeit und die rechtsextremen Originale an die Macht geführt.
Es mag für einen Sozialdemokraten ungewöhnlich sein, sich gleich mehrfach auf eine CDU-Bundeskanzlerin a.D. zu berufen. Aber in dieser entscheidenden Frage hat Angela Merkel Recht. Es ist erforderlich, „dass alle demokratischen Parteien gemeinsam über parteipolitische Grenzen hinweg, nicht als taktische Manöver, sondern in der Sache redlich, im Ton maßvoll und auf der Grundlage geltenden europäischen Rechts, alles tun, um so schreckliche Attentate wie zuletzt kurz vor Weihnachten in Magdeburg und vor wenigen Tagen in Aschaffenburg in Zukunft verhindern zu können.“ [Erklärung Merkel, 30.01.2025]. Es geht jetzt nicht um Parteipolitik – es geht um unsere Demokratie!
Wir brauchen alle Demokratinnen und Demokraten – Konservative, Liberale, Grüne und Sozialdemokraten -, die bereit sind, für unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie einzustehen. Die sich nicht von populistischen Parolen verführen lassen. Die wissen, dass der Kampf gegen Terror und Gewalt nur auf dem Boden unserer Verfassung gewonnen werden kann. Die Antwort auf die großen Herausforderungen unserer Zeit kann nur eine gemeinsame europäische sein, getragen von demokratischen Werten, rechtsstaatlichen Prinzipien und europäischer Solidarität. Mit seinem unverantwortlichen Vorgehen hat Friedrich Merz eindrucksvoll bewiesen, dass ihm für das Amt des Bundeskanzlers jegliche staatspolitische Verantwortung und strategische Weitsicht fehlt. Wer aus wahltaktischem Kalkül bereit ist, die Grundfesten unserer Demokratie zu erschüttern, der ist für das höchste Regierungsamt unseres Landes schlicht ungeeignet.
Der 29. Januar 2025 muss uns Mahnung und Auftrag sein: Der Kampf für die Demokratie beginnt nicht erst, wenn eine gesichert rechtsextreme Partei kurz vor der Regierungsübernahme steht – er muss jeden Tag aufs Neue geführt werden. Unsere Aufgabe ist es nicht nur, die Demokratie zu verteidigen, sondern sie aktiv zu gestalten und zu stärken. Das bedeutet auch, bei allen notwendigen politischen Meinungsverschiedenheiten einen demokratischen Grundkonsens zu wahren und als starke demokratische Parteien in den entscheidenden Grundsatzfragen zusammenzustehen. Die deutsche Geschichte hat uns gelehrt, wohin der Weg führt, wenn Demokraten zu spät aufwachen.
Zum Autor: Dr. Ralf Stegner, SPD, ist Politikwissenschaftler, seit 2021 Abgeordneter des Bundestages, Davor war er von 2005 bis 2021 Abgeordneter des Landtags Schleswig-Holstein. 2003 bis 2005 Finanzminister und von 2005 bis 2008 Innenminister des Landes Schleswig-Holstein. 2007 bis 2019 Mitglied des Präsidiums der SPD; 2014 bis 2019 Stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD.
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