Man muss das neue Buch von Harald Welzer „Zeiten-Ende“ nicht mögen, aber mir hat es gefallen. Der Leser muss nicht allem zustimmen, was der Soziologe und Viel-Buch-Schreiber Welzer auf 302 Seiten aufzählt, durchaus auch spannend erzählt, aber die Art und Weise, wie er das tut, hat mich das Buch ziemlich zügig lesen lassen. Ich fand es nie langwierig. Der Mann versteht, ein schwieriges Thema in einem Buch zu verkaufen, wenn der Begriff erlaubt ist.
Ja, auch ich hatte zwischendurch das Gefühl, was der Rezensent der SZ so beschreibt: „Insgesamt wirkt das Buch, als hätte Welzer Inventur in seinem umfangreichen Zettelkasten gemacht und dann entschieden: Alles muss raus.“ Und es stimmt auch, dass man den Eindruck gewinnt, als wollte Welzer sich den Frust vom Leib schreiben. Den kann man ja haben, wenn man die deutsche Politik beobachtet, wie sie zum Beispiel seit Jahrzehnten die jeweiligen sozialen Nöte zu lösen versucht. Jedenfalls lässt sie immer die Reichen ungeschoren, lässt sie zu, dass die Schere zwischen den wenigen Milliardären und mehr Millionären und den Millionen Armen immer weiter auseinandergeht. Der Zusammenhalt bröckelt, wenn nicht mehr.
Diese Gesellschaft steckt in einer ihrer größten Krisen, das ist nicht von der Hand zu weisen. Gesellschaft ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr. Ich würde das unterschreiben, weil viel zu große Teile dieser Gesellschaft einer Partei wie der AfD nachlaufen, obwohl diese Rechtsradikalen inhaltlich nichts, aber auch gar nichts anzubieten haben. Und es ist eine billige Ausrede, wenn Wählerinnen und Wähler aus Frust über den Kanzler ihre Stimme der AfD geben wollen, oder weil sie sich über Friedrich Merz oder die Liberalen oder die Grünen ärgern. Nein, diese Ausreden sind mir zu billig. Dann sollen sie uns doch offen ins Gesicht sagen, dass sie die AfD wählen, weil sie selber den Gedanken der Nazis anhängen, dafür sind, dass wir Geflüchtete rauswerfen aus Deutschland. Und überhaupt für die nationalistische Parole sind: Deutschland den Deutschen. Um nur diesen Punkt zu erwähnen.
Der Westen ist nicht mehr alles
Welzer hat Recht, wenn er beschreibt, dass der Westen nicht mehr die bestimmende Größe dieser Welt ist. Er hat an Attraktion verloren, an Macht, an Ausstrahlung. Da ist China, Indien, alle Brics-Staaten. Und wenn die Europäische Union sich nicht zusammenreißt, sondern weiter über dies und das streitet, aber nicht zu einer Einheit wird, kann sie einpacken, dann wird sie eines Tages politisch zu einem Entwicklungsland.
Das Buch ist wie eine Abrechnung mit Deutschland. Welzer schlägt Alarm. Das finde ich gut. Täte er das nicht, die Leser würden es nicht bemerken, was er meint. Wenn es ihm um die geht, die „absichtlich oder nur aus Ignoranz Schindluder treiben und die erheblich dazu beitragen, die Demokratie auf den Hund zu bringen“, da gebe ich ihm Recht. Warnt nicht der Bundespräsident seit Jahr und Tag vor diesen Gefahren, mahnt er nicht immer wieder in Appellen den Einsatz der Demokraten an, ihre Demokratie notfalls zu verteidigen. Gerade hat der Bundeskanzler eine solche Mahnung ausgesprochen am Rande der 75-Jahr-Feier in Bonn zu Ehren des Parlamentarischen Rates, der 1948 seine Arbeit in Bonn aufgenommen hatte.
Und er hat auch Recht, wenn er darauf hinweist, dass wir mitten im Klimawandel stehen, dass uns nicht die Erderhitzung droht, sondern sie schon da ist, stattfindet. Beinahe wöchentlich sehen wir Bilder von Katastrophen irgendwo in dieser schönen Welt, gestern in Florida, dann in Italien, davor in Slowenien, die Ahr-Flut hat ein wunderschönes Wein-Tal so zerstört, dass es Jahre dauern wird, bis die Schäden beseitigt sind. „Es geht, nach allem was wir wissen, ums Ganze, und damit müssen die Menschen zum ersten Mal umgehen.“ Dass diese Fragen die Demokratie gefährden und die Gesellschaft sprengen können, da liegt er gewiss nicht falsch. Zumal wir vieles dafür tun. Welzer beklagt die „Aggression gegen die Mitwelt“ und die „rücksichtlose Mobilität“, „den rücksichtslosen Konsum“.
Statuskonsum- man zeigt
Unsere Welt, eine Welt mit Statuskonsum, wie Welzer das beschreibt an Hand der „Fotos wie das vom fliegenden Politiker, vom Monster-SUV fahrenden Fußballer oder von Kreuzfahrten liebenden Prominenten wie Harald Schmidt“. Nicht verdeckt, man will ja zeigen, „was man sich leisten kann.“ Welzer nennt es „ein merkwürdiges Phänomen, dass etwa die Aktivistinnen und Aktivisten der selbsternannten Letzten Generation von- übrigens von Politikern geschürter–heftiger Aggression sind, obwohl sie nicht mehr machen, als den durchschnittlich 1400 Staus pro Tag noch jeweils einen oder zwei hinzufügen“.
Am Ende kommt der Autor zum Leitbild. Welches Land wollen wir sein? fragt Welzer. „Wenn man ein Land sein will, das auf die zivilisatorischen Güter Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit stolz ist und zudem staatliche Daseinsvorsorge gut findet, dann muss die Politik sagen, dass es die Wohlstandsgewinne wie bisher nicht mehr geben wird, sondern ganz im Gegenteil Wohlstandsverluste“. Die Gesellschaft müsse widerstandsfähiger werden-resilienter, schreibt Welzer-, sie braucht widerstandsfähige Bürgerinnen und Bürger, „die ihre Gesellschaft für wert halten, für sie einzutreten und etwas für sie zu tun“. Womit wir fast bei Kennedy wären: Frage nicht, was das Land für dich tun kann, sondern frage, was du für das Land tun kannst.
Es lohnt sich, so verstehe ich Welzer zum Schluss, sich die Geschichte des Grundgesetzes anzuschauen und zu bedenken, unter welchen Bedingungen kurz nach dem Krieg „mit der größten, brutalsten und gegenmenschlichsten Zerstörung der Menschheitsgeschichte das stattfand“. Es herrschte damals größte Beschämung angesichts von sechs Millionen ermordeten Juden, 27 Millionen Toten allein auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion, es herrschte Hoffnungslosigkeit, vieles war kaputt, Millionen Flüchtlinge kamen in den Westen, der selber zerstört war und nicht viel zu bieten hatte, kaum Wohnraum.
Zivilisiertes Überleben
Es lohnt sich, schreibt Welzer, „auch in Zeiten, in denen es ökologisch und klimapolitisch und geopolitisch erst mal alles schlecht aussieht, am zivilisatorischen Projekt weiterzubauen. Die Zukunft ist nämlich immer noch offen. Nur dass ihre Gestaltung im 21. Jahrhundert anderen Vorgaben folgen muss als im 19. und 20. Jahrhundert. Weshalb die Politik ein Leitbild braucht, das von der Aufgabe bestimmt ist, ein zivilisiertes Überleben in Freiheit zu ermöglichen“.
In diesem Sinne möchte man der Politik zurufen: Es gibt viel zu tun, fangt, schon mal an. „Demokratische Politik ist, persönliche Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen“. Damit sind alle Demokraten gemeint, wir alle sollten die Ärmel hochkrempeln.