„Da geht sie wieder“, zischte der Drache. Oder besser das, was von ihm übrig geblieben war. Die lange Schnauze: grünstichig. Grünstichig, schmal und durch Risse gezeichnet. Die Spitzen des steinernen Kamms: Stumpf. Bedrohlichkeit war dem Drachen abgeschmirgelt worden. Wind und Regen hatten eine Ohrspitze rund geschliffen. Das andere Ohr – nur noch ein Rest. Aus dem Hals des Drachen waren Teile heraus gefallen und auf den Kirchenstufen tief unter ihm aufgeschlagen, um dort in tausend Stücke zu zerspringen.
Begonnen hatte der Drache als harter, grauer Stein in einem Mittelgebirge. Er war heraus gebrochen, gespalten, geformt, verpackt, transportiert, hochgehoben und in eine gegen Himmel strebende steinerne Wand eingesetzt worden. Damals ein scharfes, beunruhigendes Profil, welches jene mit scharfen Augen tief unter ihm erschauern ließ.
„Da geht sie wieder“, ließ sich der Drache ein zweites Mal vernehmen. „Ich bin ja nicht blind“, antwortete von rechts eine samtene Stimme. Ein schärferes Profil, spitzer, kleinporiger Stein. Kein Grün in den Sandsteinfalten. Ein Teufel. Gesicht mit Vorgereckter Hundeschnauze. Niedrige, braun-rote Stirn und ein kahler Schädel dahinter. Ausgestreckte Ohren. Ins rechte Ohr hatte ein spaßiger Steinmetz einen Ring geschlagen. Ein hinterlistiges Gesicht.
„Ich habe sie gesehen. Die hat den Weihnachtsmarkt vergeblich abgegrast, und nun ist der Platz vor dem Dom an der Reihe. Das kenne ich. Das ist nichts Neues. Gleich wird sie zu klauen versuchen. Irgendeinem Provinzschwengel die Geldbörse abnehmen, der mit offenem Mund vor der Posaunen- Gruppe des Doms stehen bleibt, um diesem nerv tötenden Geblase zuzuhören. Oder einer dummen Pute, die sich vornüber beugt, um bei dem Schwarzen da drüben Schmuck anzuschauen. Völlig hinüber…“, sagte der Teufel. „Ich hasse Weihnachten. Ich hasse dieses…Fest!“ Seine Stimme war kratzig geworden. „Es geht nichts über richtig dunkle Winternächte. Über dunkle Winterwochen ohne Feste, Ohne Geläute. Und dann dieser Weihrauch- Gestank. Böuwaäh!“ Der Sandstein vibrierte. „Weihnachten! Heute Abend laufen sie wieder in Scharen zum Dom. Diese Narren. Ich möchte vor Wut schreien….“ –
„Nein!“ Der Drache grollte. „Verschon mich mit Deinem dummen Geschrei. Oder willst Du Weihnachten alleine hier oben hängen, weil ich unten liege. Nachdem Dein Geschrei meine Wurzeln in der Wand gelöst hat?“
Der Teufel meckerte. „Kein Schrei. In Ordnung. Aber lustig wär´s schon. Früher haben die Teufel immer geschrien. Damals, als „.
„Was, was? Damals? Wann denn? Du weißt doch gar nichts. Vor ein paar Jahren hast Du dem Regen gelauscht, wenn der auf Deinen Felsen prasselte. Das war das Spannendste, was Du erleben konntest.“ Der Drache nutzte jede Gelegenheit, dem Teufel unter die Nase zu reiben, dass er erst vor einigen wenigen Jahren in die Wand eingelassen worden war; nachdem sein Vorgänger- Teufel mir nichts dir nichts komplett aus der Wand gebrochen war.
„Blas Dich nicht so auf. Ich sagte: Fast so wie damals. Als da unten die Weiber gehetzt und später auf einen Scheiterhaufen gebunden wurden. Lustig, lustig. Wir vergessen nämlich nichts. Was mein Kumpel vor mir hier in der Wand gesehen hat, geht auf mich über. Das gibt´s bei euch nicht. Ihr seid irgendwie beschränkt.“
Der Drache antwortete nicht, zischte nur. Es war ja etwas dran, an dem, was der Teufel gesagt hatte. Als dessen Vorgänger urplötzlich aus der Wand gebrochen war, war es einsam hier oben geworden. Viele Jahre lang hatte er nur die Luft laut durch seine stumpfer werdenden Zähne ziehen können. Bis der Ring- im- Ohr- Teufel eingesetzt worden war. Ihn, den Drachen, hatte man damals betrachtet und begutachtet, betatscht, dass es ihn ekelte und er den nächsten Regenguss herbeisehnte. Dann hieß es: „Der macht es auch nicht mehr lange.“ Er hatte leise mit den Zähnen geknirscht. Sogleich waren die wieder hinab gestiegen.
Er hatte ratlos und gar ein wenig mit Bangen in der Wand gehangen. Zu böser Letzt hatte er auch noch erfahren müssen, dass dieser Sandsteinbastard alles wusste, was sein Vorgänger erlebt hatte. Der Drache keuchte vor plötzlich aufflammender Wut.
Die Diebin hatte ein Opfer gefunden. Das Opfer beklaut. Die geraubte Börse war sofort an jemanden weiter gereicht worden, der sich eilig entfernte. Die Diebin war weiter gegangen, war einem Skater ausgewichen und schließlich um eine Ecke gebogen. Verschwunden. Der riesige eiserne Bogen des benachbarten Bahnhofs erzitterte, weil mehrere Züge gleichzeitig einliefen. Der Drache spürte dieses Erzittern wie ein fernes Donnergrollen bis in seine innersten steinernen Zellen hinein.
Der Teufel schien sich in sich zurückzuziehen, während der Drache wach dem Vibrieren in sich nachspürte. Er straffte sich. Seine steinernen Poren spien plötzlich einen Schauer winziger Steine aus. So sehr hatte es ihn geschüttelt.
Auch der Teufel regte sich.
„Da geht er“, fauchte der Drache. Er hatte inmitten all der Bewegungen unter sich etwas erspäht, was ihm Tod fremd und dennoch vertraut erschien und dies genauer in Augenschein genommen. Was er sah, ließ ihn fauchen.
„Was ist da los? Was ist passiert“, fragte der Teufel, der nun die Erregung des Drachen spürte und sich unwohl fühlte. Der Drache lachte leise. Ein leises, zufriedenes Lachen, tief aus seiner steinernen Erinnerung. „Das passt zu euch“, sagte er und bleckte die Zähne. „Man schickt euch kleine Scheißer auf die Kathedralen und Dome ohne euch die wichtigsten Dinge mitzuteilen. Das ist er!“ – schnaubte der Drache. „Euer Erzfeind. Spürst Du das nicht, Du Wicht? Was bringen die euch denn bei, bevor sie euch auf die Erde senden?“
Stille tropfte auf den Platz unter den beiden Stein- Figuren. Der kleine Teufel mit dem Ring im Ohr sagte nichts. Denn er wusste nichts zu sagen. Der Drache blähte lediglich den Rest seiner Nüstern. Der Teufel spürte eine Ausstrahlung von unten aufsteigen, von der er fürchtete, dass sie ihn bis ins Mark versengen würde. Jeden winzigen Rest Wasser aus dem Sandstein saugen, bis er vor lauter Wüste in sich zerspringen würde. Er hätte etwas darum gegeben, sich unter die Flügel des Drachen flüchten zu können. Der sah starr auf die Gestalt unter ihnen.
Einige Menschen dort unten blieben stehen. Nach und nach. Zuerst jene, die ihm auf der Seite des Platzes am nächsten waren, von der aus er erschienen war. Dann jene, auf welche die Menschengestalt zuschritt. Die Menschen welkten nicht dahin, wie im Zeitraffer. Sie wurden auch nicht kleiner. Sie versteinerten nicht. Sie sanken nicht auf die Knie und brachen nicht in Verzückung aus. Blieben einfach und ruhig stehen. Nicht nach einem inneren Ruck oder wie auf Befehl, sondern so, als suchten sie eine angenehme Position. Dann aber Stille und Bewegungslosigkeit. Und als er vorüber ging, da leuchteten sie für kurze Zeit von innen heraus. Das war nicht so, als ob ein Sonnenstrahl den einzelnen Menschen treffe und der daher im Vergleich zu anderen heller aufscheine; obgleich dass allein ein wundersames Erlebnis sein kann. Es war anders. Für kurze Zeit war der dunkelhäutige Händler mit seinem zerfurchten und bangen Gesicht und dem Bauchladen voller Silberschmuck vor der Brust eine Lichtgestalt. Kraftvoll und schön. Ebenso der Reisende, der mit fast verzweifelter Miene nur daran gedacht hatte, ob er noch seinen Zug erreichen könne. Die Studentin in ihren dünnen Klamotten, auf dem Weg zur Tagesmutter ihres Jungen. Kraftvoll und schön und leuchtend.
Die anderen Leute auf dem Platz waren weiter gegangen. Hatten sich weiter unterhalten, waren weiter geeilt oder stehen geblieben, um den Kopf in den Nacken zu legen und um die Spitze des Doms zu betrachten. Nur von der Höhe des Doms herab, war zu erkennen, was dort unten geschah.
Dann war die Gestalt aus dem Blickfeld von Teufel und Drachen verschwunden. Der Platz mit den kreuz und quer durcheinander laufenden, stehen bleibenden, schimpfenden oder lachenden, bettelnden und in sich gekehrten Menschen war wieder wie zuvor. Keine Lichtgestalten mehr. Wie viele Jahre lang vorher.
„Was war das“, fragte der Teufel. Er fing sich, hatte bereits wieder etwas Freches in den Samt der Stimme geschmuggelt. Mit größter Mühe und wie unter Schmerzen drehte der Drache seinen Kopf ein wenig nach rechts, um den Teufel betrachten zu können. Er spürte zu seiner Überraschung nach langer, langer Zeit so etwas wie Feuer in sich. Einen Funken, ein heißes Licht, ein Glosen, Wärme bis in die Wand des Doms hinein. „Das war er. Der Erlöser“, sagte der Drache. „Ab und an, also mit Unterbrechungen von vielen, vielen Jahren kommt der hier vorbei. Ist für kurze Zeit zu sehen, dann wieder weg. Einige Menschen verwandeln sich dabei. Aber so kurz vor Weihnachten? Das ist mir neu. Das hat es noch nie gegeben. Und meine Erinnerung reicht ganz schön lange in die Vergangenheit.“ Der Drache brachte seinen Kopf leise knurrend wieder in die Ausgangsposition zurück.
„Der mag eben Weihnachtsmänner“, griente der Teufel.
„Blödsinn“, entgegnete der Drache. „Ich habe darüber nachgedacht und gefunden, dass unter denjenigen, die so leuchten, weil er vorübergegangen ist, die sind, auf die es ankommt, wie die Menschen sagen.“ Er schien nachzudenken. „Irgendwas ist da los. Etwas, was ich noch nicht verstehe. Sonst wäre das da nicht passiert.“ Der Drache schnaubte: Er bleckte seine Zähne, zog die Lefzen zurück, als wolle er lächeln. Der Teufel blickte ihn aus den Augenwinkeln an. Dann fuhr der Drache fort: “ Gesegnete Weihnachten, Herr Nachbar.“
Aus dem Lokalteil des „Kölner Stadtanzeiger“ vom 27. Dezember: „Beträchtliche Schäden richtete ein herunter gefallener Wasserspeier vor dem Kölner Dom an. Der fast tonnenschwere Wasserspeier war an Heilig Abend plötzlich aus einer Wand über dem Hauptportal gebrochen und fast 40 Meter tiefer auf dem Dom-Vorplatz aufgeschlagen. Wie durch ein Wunder wurde keiner der zahlreichen Besucher des Gotteshauses verletzt. Der Wasserspeier aus Sandstein hatte Figur und Gesicht eines Teufels. Die Dombauhütte hat nach Aussagen ihrer Leitung keine Erklärung für den Vorfall, zumal der Teufel erst vor wenigen Jahren in der Wand eingesetzt worden war. Ein „Nachbar“ des Wasserspeiers in Gestalt eines Drachen wurde nicht in Mitleidenschaft gezogen.“
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