Ein gedanklicher Spaziergang durch die Dortmunder Innenstadt führt Ullrich Sierau von Rathaus und Berswordthalle hinüber zum Konzerthaus und Orchesterzentrum. Die City sei nicht wiederzuerkennen, sagt er, und hält kurz inne an der Reinoldikirche, der vertrauten. Sieraus Weg passiert den Alten Markt. „Früher war da Wüste“, sagt der Oberbürgermeister, schwärmt sodann vom südlichen Flair, das den Platz heute belebe, und skizziert obendrein die noch anstehenden Umbaupläne für das Herz der Stadt. „Wandel ist kontinuierlich“, sagt der 60-Jährige, „wie der Stoffwechsel in einem Organismus.“
Dortmund rühmt sich, den Strukturwandel am besten von allen Städten im Ruhrgebiet bewältigt zu haben. „Übern Berg ist man nie“, bekräftigt Sierau auch hier, doch sein Stolz auf das Erreichte ist überbordend. In der Stadt der Stahlwerke, Zechen und Brauereien, die Dortmund noch vor 30 Jahren war, ist heute kein einziges Stahlwerk und keine Zeche mehr in Betrieb, auch die großen Brauereien, die ihre Biere nach der Stadt benannten, sind Vergangenheit. Die alten Montanstandorte und ehemaligen militärischen Konversionsflächen seien „neu erblüht“, beheimaten nun neues Gewerbe, Kultur und Wohnen.
Grau raus, Grün rein
Leuchtturmprojekte wie das Konzerthaus und der U-Turm, der Phoenix-See und – in der Stadt, die mit dem BVB wie keine andere den Fußball lebt – das Deutsche Fußballmuseum strahlen weit über die Grenzen der Region hinaus. Nationale und internationale Auszeichnungen würdigen neben dem Gestalterischen auch die Philosophie der Stadt. Ort des Fortschritts, innovativste Stadt Europas, nachhaltigste Stadt Deutschlands, Hauptstadt des Fairen Handels. „Wir sind Paradigmen-Pioniere“, sagt Sierau, der schon als Planungsdezernent unter dem Motto „Grau raus, Grün rein“ eine Vision für seine Stadt entwarf, die an Willy Brandts blauen Himmel über der Ruhr anknüpft.
Vor wenigen Minuten hat der Rathaus-Chef den nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister verabschiedet. Garrelt Duin war mit einem Preis für den Masterplan Energiewende nach Dortmund gekommen. Und nachdem Duin den Vodafone-Konzern eingeladen hatte, seinen Sitz aus London nach NRW zu verlegen, konkretisierte Sierau die Vorlage: Dortmund sei ein perfekter Standort mit erschwinglichen Preisen. B-Liga. Mit München, Köln, Düsseldorf oder Hamburg misst sich die Stadt nicht. Die hochpreisigen, glitzernden A-Standorte zitterten derzeit vor dem Platzen der Immobilienblase.
Früher nur Durchlauferhitzer
Sechs Hochschulen sind mit 51 000 Studierenden „Triebkräfte des Strukturwandels“. Technologiezentrum und Technologiepark zählen zu den größten und erfolgreichsten Europas. „Früher waren wir mit der Universität nur ein Durchlauferhitzer“, sagt Sierau, die jungen Menschen kamen zum Studium und gingen danach wieder. „Heute bleiben sie, weil sie hier Arbeit finden.“ Und wenn es nach dem Dortmunder OB geht, dann zieht in Zukunft auch die Elterngeneration ihren Kindern nach in die Stadt mit fast 600 000 Einwohnern, dorthin, wo Gesundheitsversorgung und Mobilität, Einkaufen und Kulturerlebnisse die Lebensqualität steigern und eine echte Alternative zur „Langeweile der Vorstadt“ bieten.
10 500 Arbeitsplätze sind allein im Technologiepark entstanden; bei insgesamt 320 000 Arbeitsplätzen in Dortmund sei der Verlust von 80 000 Jobs in der Montanindustrie inzwischen wettgemacht. Die Arbeitslosenquote für Dortmund liegt im Juni 2016 bei 11,8 Prozent, also über denen von Hamm (9,3%) und Bochum (10,19 %), aber deutlich unter denen von Duisburg (12,8%) und Gelsenkirchen (14,7%). „Wir wollen Jugendarbeitslosigkeit erst gar nicht aufkommen lassen“, sagt Sozialdemokrat Sierau, und bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit gilt für ihn die Leitidee, es sei besser Arbeit zu finanzieren als Arbeitslosigkeit.
Gerechtigkeitsfrage lässt uns nicht kalt
Etwa 20 000 der 37 000 Langzeitarbeitslosen in Dortmund gelten als „abgehängt“. Mit dem Strukturwandel sind viele Helferarbeitsplätze verschwunden, und auf dem ersten Arbeitsmarkt werden die gering qualifizierten Menschen keinen Job mehr finden. Sierau setzt auf ein Modell, in dem Unternehmen, die Langzeitarbeitslose einstellen, mögliche Produktivitätsdefizite gegenüber regulären Beschäftigten ausgeglichen werden. Dem Gegenwind aus Berlin trotzt er. Auch wenn die Bundesregierung finanzielle Förderung verweigert: „Wir wollen mit zehn Modellstädten an den Start gehen.“ An Quartiersmeister, Altenbetreuer und die Renovierung heruntergekommener Häuser denkt Sierau, wenn er sagt, dass es genügend Arbeit gebe. Und außerdem betont er: „Die Gerechtigkeitsfrage lässt uns nicht kalt.“
Bei allen Erfolgen übersieht Sierau die im Schatten nicht. „Meine Aufgabe ist es, aus Verlierern Gewinner zu machen.“ Hartzer und Aufstocker sind solche Verlierer, die sich in bestimmten Vierteln der Stadt drubbeln. Von „13 Sozialräumen mit schlechten Werten“ spricht Sierau und führt sogleich den „Aktionsplan soziale Stadt“ an, Initiativen im sozialen Wohnungsbau und Bildung als „Schlüssel für die Zukunft“. Es ist offenbar ein Wesenszug des seit 2009 amtierenden OB, ein Problem nicht lange zu bejammern, sondern die Lösung anzugehen. „Dortmund ist eine Stadt, die kämpfen kann“, sagt er und es klingt nicht die Spur pathetisch.
Ökologisch, ökonomisch, sozial, partizipativ
Als „ökologisch, ökonomisch, sozial und partizipativ“ charakterisiert Sierau die Eckpfeiler seiner Politik. Er ist überzeugt: „Qualität und Transparenz schaffen Akzeptanz.“ Die so genannten Wutbürger tauchten dort auf, wo die „Eliten Angst vor der Gesellschaft haben, die ihnen den Spiegel vorhält und auf die Schliche kommt“. Sierau hält es mit Thomas Jefferson, der Kritiker als Freunde betrachtet, die einen vor Fehlern bewahren. Bürgerbeteiligung ist für ihn nicht in erster Linie teuer, mühselig oder lästig, sondern hilfreiches und beschleunigendes Instrument. Jeder Bürger ein Experte, der mit „maximaler Ortskenntnis“ den Prozess optimiert, hinter die Kulissen guckt, Verständnis entwickelt und die Entscheidung mitträgt. „Das erspart uns auch Klagen vor Gericht“, sagt der OB, und „Investoren wissen das zu schätzen.“ Er erzählt die Geschichte von der Thier-Galerie, einer Mall auf dem ehemaligen Brauereigelände, die ebenso reibungslos wie erfolgreich und ohne die andernorts üblichen Auseinandersetzungen und Widerstände verwirklicht wurde.
Ullrich Sierau ist ein Möglichmacher. Bremser, Verhinderer und Zauderer bringen ihn auf die Palme. Inkompetenz lässt ihn aus der Haut fahren. Dann schlägt er auf den Tisch, wettert gegen die Bundesregierung, gegen die Kanzlerin und Ursula von der Leyen genauso wie seinen Parteichef und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Das Mantra der Schwarzen Null nervt, wenn man vor Ort unmittelbar und konkret vor Augen hat, welche sinnvollen Projekte ihm geopfert werden. Oder Angela Merkels „Wir schaffen das“ in der Flüchtlingsfrage, ebenso wie Thomas de Maizières Ausspruch von dem starken Land. „Und dann sind sie nicht ansatzweise in der Lage, ihre Versprechen zu halten, tauchen weg, wenn es Probleme gibt und lassen uns damit allein“, schimpft Sierau.
Politikversagen des Bundes
Dortmund hat die Situation allein bemerkenswert gut bewältigt. „Wir haben über Nacht einen Krisenstab eingerichtet und die Zivilgesellschaft hat toll mitgemacht“, betont Sierau. Doch der Ärger über die Scheinheiligkeit, Politikversagen in Europa, im Bund und in den Ländern brodelt. Er fühlt sich „heillos im Stich gelassen“ und sieht den gesellschaftlichen Frieden bedroht. Die Unsitte des Bundes, Wohltaten zu beschließen, ohne dafür zu bezahlen, und die chronische Unterfinanzierung der sozialen Leistungen tragen Spannungen in die Stadt, die Populisten und Rechtsextremisten als Nährboden dienen.
Ausgerechnet Dortmund, das jahrzehntelang als Herzkammer der deutschen Sozialdemokratie galt, haben die Nazis als „ihre Stadt“ entdeckt, in der sie regelmäßig aufmarschieren, zuletzt am 4. Juni 2016 beim sogenannten Tag der deutschen Zukunft (TddZ). Sierau buchstabiert die Abkürzung als „Treffen dumpf dummer Zombies“ und betont, dass die Nazis Zugezogene seien. Zwei Nazis sitzen im Rat der Stadt und drei von der AfD. „Die Zivilgesellschaft steht dagegen“, sagt Sierau, der bei deren Demos gegen die Nazis regelmäßig mitgeht und als Redner auftritt.
Stadt- der Ernstfall der Demokratie
„Hier in der Stadt, die kommunale Ebene, das ist der Ernstfall der Demokratie“, zitiert Sierau den verstorbenen Bundespräsidenten, langjährigen Ministerpräsidenten und Wuppertaler OB Johannes Rau. „Wir werden für alles in die Haftung genommen, die Leute stehen bei uns vor der Tür und manche sind schon hasserfüllt.“ Völlig unverständlich ist für ihn, der Partizipation aus Überzeugung lebt, dass die Städte nicht mit am Tisch sitzen, wenn in Brüssel oder Berlin über Aufgaben beraten wird, die letztlich in den Kommunen zu erfüllen sind. „Wir müssen hier die Enden zusammenkriegen“, sagt er und fühlt sich „manchmal in der Vergeblichkeitsfalle“. Doch Resignation entspricht nicht seinem Naturell.
„Westfalen sind stur, aber fröhlich“, kommentiert Sierau das Tauziehen um den Phoenix-See, an dessen Machbarkeit anfangs nur wenige glaubten. „Man darf nicht beratungsresistent sein, aber man darf sich auch nicht durch Zweifel vom Guten abbringen lassen.“ Sein Vorgänger Gerhard Langemeyer sei da „ein Glücksfall“ gewesen, ein „richtiger Steher“. Nun spiegelt das Areal den Geist wider, der insgesamt den Strukturwandel in Dortmund geprägt hat: Neues schaffen, ohne es zu überhöhen; das Alte überwinden, ohne es abzuwerten. Die Vergangenheit der Stadt ist nicht ausgelöscht. Zeugen der Zeit, in denen der Wohlstand an Hochöfen und unter Tage erwirtschaftet wurde, sind erhalten. In dieser Haltung gelang auch der Kompromiss zum Phoenix-See, den der Pfarrer in der Bürgerversammlung mit wenigen Worten besiegelte: „Glückauf und Hallelujah“.