Willkommen. Tausende erfüllen das Wort in diesen Tagen mit Leben. Tatkräftig zeigen sie den Erschöpften nach ihren unterschiedlichen Odysseen, dass sie sicher und behütet sind. Sie leben. Die Flucht ins Ungewisse ist geglückt. Die Zukunft bleibt ungewiss. Doch in der Atempause erfahren sie Menschlichkeit. Applaus bei der Ankunft am Bahnhof. Ein Händedruck, eine Umarmung.
Das Erstaunen weicht der Erleichterung – auf beiden Seiten. Für die Flüchtlinge bedeutet es, endlich zur Ruhe kommen, ohne Angst einschlafen, Durst und Hunger stillen, Kraft schöpfen. Für die Helfer bedeutet es Freude und Stolz auf die eigenen Fähigkeiten, die Energie und Hilfsbereitschaft. So selbstverständlich kann Gastlichkeit sein, so engagiert, so einfallsreich und gelingend.
In Dortmund wird der Wandel besonders drastisch wahrgenommen. Mit seinen Nazis gerät die westfälische 600.000-Einwohner-Stadt seit Jahren immer wieder in die Schlagzeilen. Seit der Jahrtausendwende haben Rechtsextremisten dort wiederholt schwerste Gewalttaten begangen. Fünf Menschen starben, weil sie nicht ins krude Menschenbild der Nazis passten, drei Polizeibeamte, ein junger Punk und – im Rahmen der NSU-Morde – ein türkischstämmiger Kioskbesitzer.
Nazi-Demos an der Tagesordnung
Bis heute sind in Dortmund Nazi-Demos an der Tagesordnung, vorzugsweise vor Flüchtlingsunterkünften. Doch seit wenigen Wochen wandelt sich die Qualität der auswärtigen Schlagzeilen. Gerühmt wird jetzt die besondere Willkommenskultur der Stadt und ihrer Bürger. Wahrgenommen wird, was lange im Schatten der braunen Hetze blieb: das vielfältige zivilgesellschaftliche Engagement für Fremde, Asylbewerber und Flüchtlinge.
Vor über einem Jahrzehnt fanden sich knapp zwanzig Großorganisationen – Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Hochschulen, Jugendorganisationen, Wohlfahrtsverbände – zum „Dortmunder Arbeitskreis gegen Rechtsextremismus“ zusammen, seit drei Jahren gibt es zudem den „Arbeitskreis Christen gegen Rechtsextremismus“. „Dortmund ist bunt statt braun“ lautet eine ihrer Losungen, „Unser Kreuz hat keine Haken“ eine andere.
Fußballturnier der Religionen
Am ersten Sonntag im September fand im Dortmunder Hoeschpark das Fußballturnier der Religionen statt. Es war bereits das zehnte der alljährlichen Turniere, veranstaltet von Vertretern der sogenannten Abrahamsreligionen, also Christen, Juden und Muslimen. Angehörige von mehr als 180 Nationen trugen ihre Landesfahnen ins Stadion. „Wir alle sind Dortmund“ stand auf einem Transparent.
An eben diesem Wochenende verblüffte Dortmund die Öffentlichkeit mit der „neuen“ Willkommenskultur. Viele der Aktiven beim Fußballturnier waren seit über 24 Stunden auf den Beinen, sie hatten die Nacht und den Morgen mit Hunderten anderen Menschen im Dortmunder Hauptbahnhof verbracht, als hier in Sonderzügen weit über tausend Flüchtlinge ankamen.
Spontane Mobilisierung
Die spontane Mobilisierung so vieler Helfer geschah über soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter, per SMS oder WhatsApp, per Handy, zuweilen über Festnetz. Fast jeder brachte etwas mit, das den Flüchtlingen nützen konnte, Nahrungsmittel und Babywindeln, Kleidung und Getränke, Decken und Spielzeug. Die Szene wirkte chaotisch, dennoch blieb wirkliches Chaos aus. Aus dem Stand wurde Organisation aufgebaut: Als beispielsweise jemand sagte, die Nahrungsmittel müssten für die ankommenden Flüchtlinge portionsweise abgepackt werden, wurde binnen kürzester Zeit jemand in Wuppertal ausfindig gemacht, der zufällig ein paar Tausend Tüten übrig hatte, die er dann auch gleich mit einem Kleintransporter zum Dortmunder Hauptbahnhof schaffte.
Vier Tage später, am 9. September, wurden am Dortmunder Hauptbahnhof erneut etwa 500 Flüchtlinge willkommen geheißen. Zu der Aktion hatten binnen weniger Stunden der Evangelische Kirchenkreis und das Diakonische Werk mobilisiert. Was tut man, außer auf dem Bahnsteig zu stehen und zu den ankommenden Fremden freundlich zu sein? Eine Vorbereitungsgruppe beschloss, auf die Schnelle ein paar Transparente anfertigen zu lassen mit „Willkommen“ und „God bless you“ in sechs Sprachen.
Zuvor hatten die Verantwortlichen der Stadt Dortmund dringend darum gebeten, keine Hilfsgüter zur Begrüßung neuer Flüchtlinge mitzubringen. Obwohl mehrere Tonnen der in der langen Nacht der ersten Transporte herangeschafften Sachspenden bereits verteilt waren, lagerten immer noch tonnenweise Spenden in einer Halle des hinter dem Hauptbahnhof gelegenen Dietrich-Keuning-Hauses, der Auffangstelle der Flüchtlinge.
Gemeinschaftsleistungen
Ähnliche Beispiele der Willkommenskultur sind in anderen Städten Nordrhein-Westfalens zu beobachten. Die Devise „Wir schaffen das“ hat ungeahnte Gemeinschaftsleistungen hervorgebracht. Haupt- und ehrenamtliche Helfer, Feuerwehr, Rotes Kreuz, Johanniter, Technisches Hilfswerk, Verkehrsgesellschaften, Kirchen- und Moscheegemeinden und auch Flüchtlinge selbst arbeiten Hand in Hand, um Unterkünfte herzurichten und mit dem Notwendigsten auszustatten. Zahnbürsten und Badeschlappen, Kinderbetten und Schlafsäcke – jede Bitte um Sachspenden erfährt unmittelbar Resonanz.
Doch je weitere Kreise das Engagement zieht und je mehr die Improvisationskraft der Bevölkerung beeindruckt, desto deutlicher treten die Unzulänglichkeiten des staatlichen Krisenmanagements und die Hemmnisse der Bürokratie zutage. Da wird der Ennepe-Ruhr-Kreis zur Erstaufnahme von 400 Flüchtlingen verpflichtet, binnen 48 Stunden wird alles Nötige aus dem Boden gestampft, und tatsächlich treffen in den frühen Morgenstunden nur50 Menschen ein. Eine schlüssige Erklärung gibt es nicht.
Umdenken in der Politik fehlt
Kopfschütteln ernten auch Erfahrungen wie diese: Die Auffangklassen, einige nennen sie auch Willkommensklassen, in vielen Ruhrgebietsstädten sind überfüllt; Sprachkurse sind nicht in ausreichender Anzahl anzubieten, weil Lehrkräfte fehlen. Und zugleich sitzt in einer Turnhalle, die zur Flüchtlingsunterkunft umgebaut wurde, eine Germanistikprofessorin aus Syrien – zur Untätigkeit verdammt.
Ohne Zweifel gehört auch das zum Lernprozess, dass Vorschriften und Gesetze überdacht werden. Aktive regen beispielsweise ganz pragmatisch an, dass schon bei der Registrierung sportliche oder musische Talente abgefragt werden, die sich ohne Sprachhemmnisse und ohne lange Wartezeiten unmittelbar in Chören, Vereinen oder Orchestern einbringen lassen. Doch die Denkrichtung in der Bundesregierung hält noch am hergebrachten Abwehrmuster fest. Geldleistungen kürzen, zurückweisen, schneller abschieben… Willkommenskultur ist eine Bewegung von unten. Das Umdenken in der Politik muss noch folgen.
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