Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!
Das Thema Desertion ist gerade im Moment sehr aktuell, auch z.B. in Köln bei der SPD.
Zum inzwischen historischen Sölle-Text gehören zum Verständnis naturgemäß die damaligen Begleitumstände:
Die Filbinger-Affäre, Die Wehrmachtsausstellung…. In Bonn ging es damals wegen des Denkmals hoch her.
Etliche Pfarramtskollegen wie damals in Bonn Helmut Hofmann bekamen für ihre Solidarität mit den Pazifisten
massive Schwierigkeiten.
Dorothee Sölle
Für die unbekannten Deserteure
Rede in Bonn am 1.9.1989
Wir stehen hier, um die unbekannten Deserteure zu ehren. Das Leben können wir diesen etwa 15.000 Menschen, die Militärgerichte und Nazijustiz ermorden ließen, nicht wiedergeben, aber vielleicht können wir ihnen die „Ehre“, ich benutze diesen konservativen Begriff bewusst, zurückgeben.
Wer ihnen das Denkmal, das öffentliche sichtbare Andenken verweigert, der hat eigentlich eine zentrale Lektion aus der Geschichte noch immer nicht verstanden: es waren nicht nur die Nazis, der Führer, die SS, die KZ-Mannschaften, die Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes begangen haben, es war auch das Militär.
Es gibt heute kaum eine offizielle Organisation in der BRD, deren Verhältnis zum Nazistaat so unklar ist wie die Bundeswehr. Da spuken immer noch Vorstellungen vom „sauberen Waffenrock“ herum,- als hätten die Männer nichts als ihre Pflicht getan. Ich frage mich, wie wir eine Demokratie werden können, solange der Militarismus noch fest in den Köpfen verankert ist, solange er als heilige Kuh in den Medien nicht angegriffen werden darf und solange der Bürgermeister dieser Stadt, Herr Dr. Daniels sich moralisch im Recht glaubt, wenn er verlangt: „Der einzelne Soldat, der in den vergangenen Kriegen glaubte, seine Pflicht zu tun, darf nicht ins Unrecht gesetzt werden.“
Wer setzt denn hier eigentlich ins Unrecht, als säßen nicht schon alle, die im Rock des Mordbrenners herumliefen, und ebenso die, die das Verbrechen schweigend duldeten, im Unrecht drin? Die Auseinandersetzung, die um dieses Denkmal stattgefunden hat, ist notwendig. Wenn unser Land sich nicht endgültig und kompromisslos vom Militarismus und der Staatsloyalität, die ihn verklärt, verabschiedet, dann werden wir nicht friedensfähig.
Desertieren heißt „Leistungsverweigerung für den Staat“, wie in diesem Streit empört festgestellt wurde. Ein großer rheinischer Dichter und einer, der heute hier sprechen sollte, aus der Erfahrung der Desertion, hat in seinem Lebenswerk genau diese Leistungsverweigerung anarchistisch und human, lebensbejahend und subversiv-kölsch dargestellt. Leistungsverweigerung zieht sich, wie ein roter Faden durch das Werk Heinrich Bölls.
Ich brauche nicht mehr darauf einzugehen, welche Leistungen der Staat damals forderte. Mir ist wichtig, was die Behörden dieses Staates heute an Leistungen fordern:
– von den Krankenschwestern und Ärzten, dass sie unterscheiden sollen, wer nach dem Atomkrieg noch medizinisch versorgt wird und wer nicht,
– von Lokführern und Bahnbeamten, dass sie atomare Waffen und Gift transportieren
– von Schuldirektoren, dass sie selektieren, welche Kinder im Bunker Platz haben dürfen und welche nicht,
– von Ingenieuren, Technikern und Wissenschaftlern, dass sie von der Atompille bis zum Geräuschbelastungstest für den Kriegsfall arbeiten,
– von Museumsleuten und Geschichtslehrern, dass sie ein Geschichtsbild herstellen, das den Militarismus als neutral und staatsfördernd darstellt.
Die politische Frage, die sich heute stellt, ist doch nicht, ob wir dieser Demokratie die Loyalität aufkündigen, die wir in Wirklichkeit durch solche Denk-male erst befestigen, sondern ob wir als die friedliebende Mehrheit der Bevölkerung noch bereit sind, Vorleistungen für den sogenannten V-fall zu
erbringen.
Was verlangt der Staat von uns an kriegsvorbereitenden Leistungen? Alle Steuerzahler zahlen für den „Jäger90“, der militärisch anerkanntermaßen sinnlos ist, aber als Prestigeobjekt unserer Militaristen beibehalten wird. Weite Gebiete unseres Landes werden von Tieffliegern terrorisiert, die den Überfall auf andere Länder und den „ deep strike “ simulieren. Sollen wir nicht von den Brüdern Deserteuren aus dem zweiten Weltkrieg Leistungsverweigerung schon jetzt lernen?
Die politischen Gegner dieses Denkanstoßes haben schon ganz recht: Hier wird Leistungsverweigerung eingeübt. Hier wird gefeiert: Fahnenflucht von der blutigen Fahne, Verrat an der eigenen Klasse, die noch immer mit den Wölfen heulte, Entfernung von der Truppe, die zum Morden ausgebildet wird.
Wir ehren die Deserteure, wenn wir uns von ihnen belehren lassen. Ich möchte zwei Dinge nennen, die mich bewegt haben, als ich Dokumente über die Deserteure zur Kenntnis nahm. Es ist einmal die Rolle der Frauen und zum andern die der sogenannten Asozialen. Es gibt kaum eine Desertion, bei der nicht eine Frau dahintersteckt, das haben die Kriegsrichter ganz richtig gesehen. Ohne eine helfende Frau, Mutter, Geliebte wären die meisten Geschichten der Entfernung vom Verbrechen nicht möglich gewesen. Frauen haben die Last getragen, ohne zu fragen, ob die Motive eines Fahnenflüchtigen besonders hoch oder nur aufs Überleben gerichtet waren, sie haben nicht gefragt, ob der Deserteur es verdiente, beschützt zu werden oder nicht. Sie haben ihm Essen und zivile Kleider gegeben, Obdach und Lebensmittelmarken, Fahrkarten und Ausweise und sie haben so an die Stelle der Männerbündelei, der angeblichen Ehre und der falschen Kameradschaft aus Alkohol und Gehorsam eine menschliche Solidarität gesetzt.
Ich zitiere aus dem Bericht einer solchen Frau. (Norbert Haase, Deutsche Deserteure, Berlin 1987, S.40):
Die Norwegerin Marie Lindgren, Freundin von Walter Gröger, dessen Todesurteil Hans Karl Filbinger als Marinestabsrichter im Januar 1945 erwirkt hatte, konnte sich erinnern.
Walter sah ich erst bei der Verhandlung wieder, ich hatte noch nie vor einem Richter gestanden. Dieser schrie mich gleich an. „Du bist schlimmer als ein Tier. Zu einer Ratte müsstest du Sie sagen. Du bist nicht einmal wert, dass man dir Unkraut zu essen gibt. Du bist ein nichtsnutziger Teufel, ein Schmarotzer der Menschheit. Deine Verbrechen am deutschen Volk sind so schwer, dass wir dich sofort erschießen sollten. Du hast einem deutschen Soldaten geholfen, Fahnenflucht zu begehen. Du wirst dem Erdboden gleichgemacht werden. Du bist eine nichtsnutzige Hure, die es mit jedem treibt. Der gesunde deutsche Geist wird sich an deiner Tätigkeit rächen.“ Ich fühlte mich nicht länger als Mensch. Der Ankläger sah gut aus. Seine Worte waren Gift. Hilflos, eingekeilt von den Wachen, war ich auf die Hilfe des Übersetzers angewiesen. Die meisten Worte, die er sagte, hatte ich in meinem Leben noch nie gehört. Aber ich konnte nicht antworten. Immer wenn ich sagte: „Ich habe Walter gern. Ich fragte nicht nach dem, was er gemacht hat. Ich will ihm helfen“, brüllte er mich an: „Schwein, Nutte, Spion.“ Am Ende sollte ich für zwei Jahre ins Zuchthaus. Ich blieb noch in Oslo. Dann wurde ich plötzlich noch einmal dem Gericht vorgeführt. Der Ton änderte sich nicht: „Drecksau, Tier.“ Walter war wieder da. Er sah noch schwermütiger aus. Wir waren getrennt. Mein Urteil änderte sich nicht: zwei Jahre … Ich wache oft nachts auf und sehe den Ankläger vor mir. “Du bist ein Tier, schlimmer als eine Ratte.“
Bildquelle: Magnussen, Friedrich (1914-1987) – Stadtarchiv Kiel, CC BY-SA 3.0 de, via Wikimedia