Wir haben vor einiger Zeit im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Johannes a Lasko-Bibliothek in Emden über das literarische Werk des Kölner Schriftstellers Dieter Wellershoff referiert. Der folgende Text basiert auf dem frei gehaltenen Vortrag.
Unsere erste Beschäftigung mit Dieter Wellershoff datiert aus dem Jahre 1992. Damals lag unsere Mutter im Sterben. Wir begleiteten sie einige Wochen lang und setzten uns intensiv mit der Frage von Sterben und Tod auseinander. Wellershoff hatte kurz zuvor das Buch Blick auf den fernen Berg veröffentlicht. Darin hat er das Sterben seines jüngeren Bruders verarbeitet. Dieses Buch hat uns damals sehr geholfen, einen halbwegs rationalen Zugang zur Thematik Tod und Sterben zu finden. Wenn der Tod eines nahen Menschen überhaupt einen Sinn hat, dann vielleicht diesen: Ich brauchte einige Zeit, um den Gedanken zu akzeptieren, dass sein Tod mich mit einer vertieften, vorbehaltlosen Zustimmung zum Leben beschenkt hatte und das es sinnwidrig und unmöglich sei, dieses Geschenk nicht dankbar anzunehmen. Es waren keine völlig neuen Einstellungen in mir entstanden, aber sie wurden deutlicher und entschiedener: Alles Leben war kostbar und einzigartig, und man brauchte es nicht zu suchen. Es umgab einen überall, wenn man nur selbst lebendig war.
Bereits hier haben wir es mit einem durchgängigen Motiv seines Schreibens zu tun: Gerade das Wissen um die Vergänglichkeit des Lebens und das Erschrecken darüber, das bei vielen Angst auslöst, wendet Wellershoff um in ein Plädoyer für das Leben. Er sieht in der Literatur ein Medium der Erweiterung und Vertiefung der Wahrnehmung unseres Lebens. Diese Einsicht ist tief in Wellershoffs Biographie verwurzelt. Bereits als junger Mensch – er hatte sich als 17Jähriger freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet – ist ihm der Tod ein vertrauter Begleiter. Vierzig Prozent derjenigen, die mit ihm eingezogen wurden, starben im Krieg. Immer wieder hat Wellershoff betont, dass er nur durch einen großen Zufall am Leben geblieben ist, und die Tatsache des Überlebens hat er stets als Geschenk betrachtet, das seine spätere Einstellung zum Leben nachhaltig geprägt hat. Für ihn ist das Leben das Größte, das der Mensch besitzt. Gleichzeitig ermöglichen ihm seine Lebenserfahrungen auch einen illusionsfreien Blick auf die Möglichkeiten des menschlichen Lebens. Wellershoff huldigt also keineswegs einem naiven Lebensoptimismus. Im Gegenteil: Seine Figuren sind oft Außenseiter der Gesellschaft, denen es nicht gelingt, im Leben Fuß zu fassen, weil das Tempo der gesellschaftlichen Veränderungen die Balance zwischen äußeren Realitätsanforderungen und individuellen Möglichkeiten erschüttert. Das Resultat sind dann Identitäts- und Sinnverluste.
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Unsere Wellershoff-Studien haben wir erst Jahre später wieder aufgenommen. Nach dem Ende unserer Berufstätigkeit hatten wir endlich Muße zum Lesen. Wellershoff hatte soeben seinen Roman Der Liebeswunsch veröffentlicht, der uns sehr gefiel. Wir schickten ihm eine Besprechung zu und waren überrascht, dass er uns – die wir ja völlig unbekannt im Literaturbetrieb waren – antwortete. Er bedankte sich höflich für unseren Text und wies uns gleich auf ein weiteres Buch von sich hin, das in engem Zusammenhang mit seinem Roman entstanden war: Der verstörte Eros. Was lag näher, als ihm auch von diesem Buch unsere Besprechung zuzuschicken. So ging es dann in den nächsten Jahren immer weiter. Es entstand ein reger Briefwechsel und Gedankenaustausch, der sich im Laufe der Zeit immer mehr intensivierte.
Irgendwann hatten wir seine Romane, einen Großteil seiner Erzählungen, zwei Novellen, und einen Gedichtband gelesen. Aus unseren teilweise recht umfangreichen Besprechungen entstand unser erstes Buch über das literarische Werk von Dieter Wellershoff: Leben braucht keine Begründung (2012). Später – nach Erscheinen seiner gesamten Werkausgabe – haben wir dann einen zweiten Band veröffentlicht. Der Titel: Leben und Schreiben – was sonst? Ein Streifzug durch die Werkausgabe von Dieter Wellershoff (2014).
Wir knüpften an eine Bemerkung Wellershoffs an, wonach man zum Leben ebenso wenig eine Begründung brauche wie zum Atmen. Der Versuch zu leben, trage seine Berechtigung in sich selbst. Dieser emphatische Lebensbegriff beruht auf der Absage an übergeordnete metaphysische, religiöse oder politische Ideologien. Und diese radikale Haltung hängt natürlich mit der Erfahrung des Faschismus zusammen. Wellershoff ist der tiefen Überzeugung, dass der Einzelne die fehlende Orientierung durch vorgegebene Deutungssysteme selbst kompensieren muss. Dass er versuchen muss, sich in einer undurchschaubaren Wirklichkeit zurechtzufinden. Dass er letztlich das ist, was er aus sich macht, auch wenn Zufälle seine Lebensumstände beeinträchtigen, da er sich den Ort und Zeitpunkt seines Daseins nicht aussuchen kann.
Oft sind es Lebenskrisen wie schwere Krankheiten oder der Verlust des Partners, die zum Anlass werden, über das eigene Leben nachzudenken. In der Erzählung Das normale Leben schildert Wellershoff eine derartige Situation. Nach einer überstandenen Herzoperation entlässt der behandelnde Arzt den Patienten bei der Abschiedsvisite mit den Worten: Kehren Sie in ihr normales Leben zurück. Wahrscheinlich war dies lediglich eine Formel gewesen, die der Arzt häufig bei der Entlassung von Patienten gebraucht hatte. In diesem Fall aber löst sie beim Protagonisten einen Reflexionsprozess aus. Was macht das normale Leben aus? Was hat es damit auf sich? Je mehr er darüber nachdenkt, desto mehr scheint es sich zu verflüchtigen.
Als er nach der Operation wieder zu Hause war, hatte er gedacht, dass Jubel in ihm ausbrechen müsse. Aber er hatte sich nur leer und betäubt gefühlt. Zu Hause ereilte ihn der Nachhall des Schreckens. Der gesichtslose Feind, der sich in der Nacht auf seine Brust gestemmt hatte, um ihm das Leben auszudrücken, konnte wiederkehren. Doch wenn er, wie ihm aufgetragen worden war, in sein normales Leben zurückkehren wollte, musste er das vergessen. Er versuchte, alles so zu machen wie immer. Er hatte seine Sachen eingeräumt, war einkaufen gegangen, hatte zu Abend gegessen und fern gesehen. Alles verlief wie zu erwarten. Es war das normale Leben, doch hatte er das Gefühl gehabt, dass alles schon vergangen war und er in einem Nachspiel seines Lebens als Darsteller seiner selbst auftrat. Es war kein einschneidendes Gefühl. Nur eine Anmutung, die wieder verging, ein Hauch von Fremdheit, von dem er angeweht wurde, während er unverändert und äußerlich unangefochten den Anforderungen der wohlbekannten Situationen gerecht wurde. Und natürlich erfüllte er damit auch die Erwartungen seines Arztes, indem er alles so machte, wie er es vorher gemacht hatte, als er noch nicht von dem Gedanken gestreift worden war, dass alles ein Spiel mit einem absehbaren Ende sei.
Die Konfrontation mit dem Tod hat das Wahrnehmungsvermögen des Patienten geschärft. Gerade das Gewohnte, Normale, erscheint ihm nach dieser Erfahrung banal, langweilig, als ständige Wiederholung des Gleichen, als ein Leben, das er bereits hinter sich hat.
In Krisen zeigt sich nach Wellershoff die ganze Ambivalenz dessen, was wir Normalität oder das normale Leben nennen. Einerseits verbürgt die Normalität Sicherheit, Schutz und Verlässlichkeit; andrerseits ist sie stets gefährdet und kann jederzeit aus den Fugen geraten – auch durch kleine Irritationen. In seinem Roman Die Schönheit des Schimpansen hat Wellershoff dieses Motiv wieder aufgegriffen:
Das kunstvolle Gleichgewicht, in dem der Mensch lebt, ist manchmal nichts anderes als der angehaltene Moment vor seinem unvermeidlichen Sturz. Tag für Tag lebt er dahin, scheinbar in gesicherten Bahnen, und er selbst mag sich für jemanden halten, der sein Leben nach klugen und überlegenen Grundsätzen führt, bis er, aufgestört durch eine winzige Veränderung, vor der verdunkelten Seite seiner Welt steht. Das, was er nun sieht, hat er eigentlich immer schon gewusst, doch ohne den Schrecken, der, wie ein verspätet nachhallendes Echo, ihn erst jetzt erreicht und ihn taumeln lässt. Nichts ist passiert, sagt die Vernunft. Die Welt steht in ihren alten Formen da, es ist das Bild von gestern und vorgestern, nur um eine Winzigkeit verrückt. Doch dieser Unterschied hat den Dingen einen scharfen Rand gegeben, als stünden sie vor einem falschen Hintergrund. Und zwischen heute und morgen ist eine Schwelle, über die die Gedanken nicht mehr hinwegkommen. Wenn du dich morgen siehst, bist du schon nicht mehr.
An dieser Stelle wird deutlich: auch das Scheitern gehört zur Normalität. Daher sind es oft Gescheiterte oder Verzweifelte, die Wellershoff in seinen Figuren darstellt. In immer neuen Konstellationen spielt er die fragilen Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen in einer überkomplexen Umwelt durch und liefert damit die Gründe für ihr Scheitern. Der Undurchschaubarkeit und Zerrissenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechen auf der subjektiven Seite Individuen, die mit ihrer Situation vielfach überfordert sind. Viele von ihnen haben schon aufgrund ihrer Herkunft und Lebensumstände von vornherein schlechte Karten. Andere haben das Gefühl, im falschen Leben festzustecken. Ihnen gelingt es nicht, realistische Alternativen zu entwickeln. Oft treffen sie die falschen Entscheidungen, weil sie ihre Möglichkeiten überschätzen oder gar nicht erst erkennen.
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Man könnte der Auffassung sein, dass Wellershoff Adornos Diktum: Es gibt kein richtiges Leben im falschen literarisch umsetzt. Während Adorno jedoch das gesellschaftliche Ganze, den Kapitalismus und dessen Verwerfungen im Blick hatte, geht es Wellershoff um die Mechanismen, denen der Einzelne wie in einem Gehäuse der Hörigkeit (Weber) ausgesetzt ist, und darum, zu zeigen, wie eine von Ungerechtigkeit und ungleichen Lebenschancen geprägte Gesellschaft die Menschen deformiert. In seinem Roman Der Sieger nimmt alles rennt die Hauptfigur, ein Geschäftsmann, ein Leben lang dem wirtschaftlichen Erfolg nach. Zeitweilig gelingt es ihm, einigermaßen mitzuhalten. Aber die Gesetzmäßigkeiten des Wirtschaftslebens zwingen ihn, immer mehr Risiken einzugehen, so dass er am Ende vollends scheitert. Geschäftlich und gesundheitlich ruiniert, sinniert er über sein Leben nach:
Da plötzlich hatte ihn ein Gefühl der Sinnlosigkeit überfallen, das ihm von weit her bekannt war. Was sollte diese Anstrengung? Er wollte es nicht. Er steckte immer im falschen Leben. Das falsche war das einzige Leben, und man musste sich darin bewähren. Doch man wollte es nicht. Man versuchte, es besser zu machen, und alles wurde falsch. Und wenn man doch glauben wollte, dass es das Richtige war, wurde man ein Fälscher. Gute Fälscher waren kaum als Fälscher zu entlarven. Er war nur ein mittelmäßiger Fälscher gewesen, über Jahre hinweg, und hatte es selbst nicht immer wissen wollen. Und nun wollte er glaubwürdiger werden… Raste er deshalb so über die Autobahn, als ob er es gar nicht erwarten könne? Manchmal war die Welt nur ein Tunnel voller Geräusche, eine bunte Leere.
Diese Einsicht ist es, auf die Wellershoff hinweisen möchte, die jedoch im normalen Alltag meist nicht präsent ist. In der Erzählung Die Sirene schildert er einen Pädagogik-Professor, der sich in einem Freisemester befindet und eigentlich ein Buch schreiben will. Gedankenverloren sitzt er an seinem Schreibtisch und kritzelt einige Zeichnungen aufs Papier. Er kann sich nicht konzentrieren. Alles in allem könnte er mit seinem Leben zufrieden sein. Er hat eine schöne, kluge Frau, zwei hübsche Töchter und beruflichen Erfolg. Gleichwohl vermisst er die Routine des gewohnten universitären Betriebs, die sonst seinen Alltag strukturiert, auch wenn er oft über die vielen Anforderungen klagte. Jetzt fehlten sie ihm. Überhaupt spürte er einen Mangel, den er gar nicht so recht benennen konnte.
Während er am Schreibtisch sitzt, überkommt ihn plötzlich ein Gefühl der Leere. Lange hatte er geglaubt, sich auf dem Höhepunkt seines Lebens zu befinden. Nun hatte sich die Höhe in eine flache Einöde verwandelt, in der er schon das Ende sehen konnte. Etwas war falsch gewesen, seit langem. Er hatte auf Verlust, auf Verminderung gelebt, ohne es zu wissen. Er hatte gelebt wie alle anderen, wie seine Kollegen, die an ihre Berufe und an ihre Ehen, an ihre Erfolge, Probleme und Begriffe gekettet waren wie an Ruderbänke. Und das Ganze war fröhlich beflaggt, damit es aussah wie Leben, das volle, bunte, lärmende, ächzende Leben, das nichts von sich wusste und vorüberglitt.
Dieses Gefühl der Leere, das ihn überkommt, weist zugleich auf einen Mangel hin, den er nicht benennen kann. Wellershoff nennt es die Sehnsucht nach dem ungelebten Leben. In der Erzählung Doppelt belichtetes Seestück hat er diesen Zusammenhang wie folgt beschrieben: Er begann eine Theorie zu entwickeln, dass das praktische Leben der Bereich der Not sei, was Anpassung bedeutete oder Einsicht in das Notwendige, wie man es gelernt hatte oder von anderen erwartete, und dass es daneben Träume und Phantasien gab, in denen das ungelebte Leben wiederkehrte, und beides waren Versuche, den Tod zu vermeiden, den körperlichen und den seelischen Tod, so dass das Leben nur eine Vermischung und wechselseitige Begrenzung der beiden Prinzipien sein konnte.
Vor allem in seinen Erzählungen hat Wellershoff die Motive und das Spektrum dessen, was er das ungelebte Leben nennt, in zahlreichen Variationen ausgeleuchtet. Wie immer entlehnt er den Stoff seiner literarischen Darstellung dem Leben selbst. In seiner Erzählung Die Körper und die Träume schildert er einen Ehestreit, wie er alltäglich vorkommt. Aber diesmal eskaliert die Situation. Der Mann erträgt es nicht mehr, dass seine Frau immer alles unter Kontrolle bringen muss. Ich fühlte nichts mehr oder immer weniger. Ich zog mich immer mehr in mich zurück, und das Leben wurde von Jahr zu Jahr grauer und einförmiger. Allmählich stumpften sogar meine Sinne ab. Ich ging durch die Welt und sah und hörte nichts. Während seine Frau ihn beschimpft, weil er sich ihr wieder einmal entzog, wünscht er sich nichts mehr, als für ein paar Tage zu verschwinden, um sich Klarheit über den Zustand ihrer Beziehung zu verschaffen. Ich muss darüber nachdenken, möchte wirklich verstehen, woran es liegt. Ob ich wieder der Hauptschuldige bin oder vielleicht nur die menschliche Natur, die Art, wie wir gestrickt sind? Es gibt doch wohl ein richtiges Leben? Oder ist das nur eine verrückte Idee, hinter der alle herrennen, eine Art Rattenfängermelodie?
Als seine Frau ihn wie schon des Öfteren auffordert, doch endlich zu verschwinden, kommt ihm plötzlich die Eingebung, genau das zu tun. Gegen die Erwartung des Lesers erlebt er einen Augenblick der Erleuchtung, wie man ihn manchmal hat, wenn es um Leben oder Tod geht. Er packt seine Sachen und hat nur noch einen Gedanken: Weg, weg, bevor ich es bereue. Ich bin einfach losgefahren, ohne zu wissen, wohin ich wollte. Als er eine zeitlang gefahren ist, bricht es aus ihm heraus: Plötzlich habe ich angefangen zu schreien und wie wild auf das Lenkrad einzuschlagen. Ich war frei! Ich war gerettet! Ich hatte es geschafft! Ich war völlig überrascht, was da alles aus mir herauskam. Es war, als explodiere ich. Ich spürte auf einmal, dass ich eine ungeheure Kraft hatte, und die wollte leben, leben, leben!
Er will all das nachzuholen, was er in seine Ehe versäumt hat. Vor allem möchte er andere Frauen kennen lernen. Daran hatte er auch schon früher gedacht, sich aber nie getraut, weil sein Selbstbewusstsein einen Knacks bekommen hatte und er Angst davor hatte, von ihnen zurückgewiesen zu werden. Jetzt denkt er wieder daran. Leben und Frauen – das war dasselbe. Ich konnte mir nichts anderes vorstellen. Alles andere war Ersatz und Selbsttäuschung.
Die Berechtigung des Anspruchs auf das Leben – das ist das Credo des Wellershoffschen Schreibens schlechthin. Dieser Anspruch bedarf keiner besonderen Rechtfertigung. Er ist allen Werten vorgelagert. Insofern ist das Scheitern einer Ehe sowie die Absage an die bürgerliche Normalitätserwartung nicht der Krisenfall, sondern das Verharren in dieser, weil sie den Verzicht auf ein lebenswertes oder gar selbstbestimmtes Leben bedeutet. Moralische Erwägungen sind aus dieser Sicht nicht angebracht. Der Versuch zu leben trägt seine Berechtigung in sich selbst und bedarf keiner höheren Weihe. Was der Einzelne dann aus seinem Leben macht – das liegt nun allein in seiner Verantwortung.
Wellershoff wäre nicht Wellershoff – wenn das alles so einfach und glatt vonstatten gehen würde. Der Protagonist der Erzählung lernt in der Folgezeit vor allem durch Annoncen viele Frauen kennen – aber die große Liebe, von der er träumt, ist nicht dabei. Er zieht ein ernüchterndes Resümee seiner Bemühungen: Ich glaube, die große Liebe ist eine Rattenfängeridee, genauso wie das richtige, das wahre Leben. Ich kenne die Vorstellung, die die meisten Frauen davon haben. Ich musste sie mir immer wieder erzählen lassen. Es war eine Aneinanderreihung fast der gleichen Worte: gemeinsam erwachen, gemeinsam frühstücken, gemeinsam reisen, alles miteinander teilen – in schöner Einförmigkeit haben sie mir so das Glück beschrieben. Irgendwo habe ich gelesen, Träumen sei die Müllverbrennung der Seele. Die unbrauchbaren Vorstellungen vom Leben gehen in Flammen auf. Das sollte man auch mit den Tagträumen machen; sie anzünden und zuschauen, wie sie brennen.
Was bleibt, ist die Einsicht in die Notwendigkeit, dem Leben, wie es sich ihm bietet, Rechnung zu tragen. Warum auch nicht? Es wäre eine Beleidigung des Lebens, es nicht zu tun, auch wenn das Leben die große Illusionsmaschine ist. Jeder muss auf seinen Trip gehen, das ist die ganze Wahrheit.
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Wellershoff hat davon gesprochen, dass seine Texte – egal, in welchem Genre er sie verfasst hat – in Beziehung zueinander stehen wie Varianten eines übergreifenden Gesamtthemas. Es ist ein fortschreitender Verzweigungsprozess, in dem aus einer Gestalt immer neue Varianten hervorgehen. Dieses übergreifende Gesamtthema ist der große Lebenstext, dem er die Stoffe seines Schreibens entlehnt. Sie handeln von den existentiellen Problemen der Menschen, denen die verbindlichen Weltbilder abhanden gekommen sind. Dieser Realität sind sie ausgeliefert – mehr oder weniger gut ausgestattet mit materiellen und intellektuellen Ressourcen. Sie müssen ihren Lebensweg finden; ihre Wahlen treffen; sich entscheiden; sich anpassen oder widersetzen.
Wellershoff hütet sich, Rezepte oder Lösungen vorzuschlagen. Das verbieten ihm schon seine Lebenserfahrungen. Am Schluss seines Romans Der Liebeswunsch spricht er von der erbärmlichen Unbelehrbarkeit des Lebens. Aber sollte man ihn deswegen als Pessimisten bezeichnen? Keineswegs. Vielleicht eher als skeptischen Realisten, der um die Risiken und Nebenwirkungen des Lebens weiß. Sich dessen bewusst zu sein und nicht im Alltagstrott zu versinken – das ist das Credo seines Schreibens. Über diesem könnte ein Zitat von Imre Kertész, dem großartigen ungarischen Schriftstellerkollegen, stehen: Das Leben, das uns gegeben wurde, in vollen Zügen zu leben, das ist unsere Aufgabe, wo immer wir auch sind.
Bildquelle: Wikipedia, Alfred Löhr, Signature from a letter, dated 1972_12_29, CC BY-SA 3.0