Mein Doktorvater Horst Lademacher sagt in seinen Erinnerungen, er habe den Studenten Karl-Heinz Klär „als Mann aus der Arbeiterschaft gesehen“. Diese Wahrnehmung war erheblich, da Lademacher selbst aus der Arbeiterschaft stammte und sich nicht in die Bourgeoisie davongestohlen hatte. Der junge „Klassenkamerad“ gefiel ihm. Nach einem gemeinsamen Seminar in Saarbrücken bot er mir eine Dissertation an und lud mich ein, zu ihm nach Bonn zu kommen. Die Sympathie war gegenseitig. Mit der Arbeiterklasse verband ich den erfrischenden Professor auf Anhieb nicht, aber das unverhoffte Angebot nahm ich gerne an und zog im Frühjahr 1971 mit Renate Schmidt zum Studium in die provisorische Hauptstadt.
Die Arbeiterschaft ist eine tiefe Tasche. Als Hochschulassistent an der Gesamthochschule Kassel, wo ich dank Lademacher meine erste Anstellung als Wissenschaftler hatte, legte ich Wert darauf, dass die Studierenden den jungen Friedrich Engels beherzigten und von der Arbeiterklasse nur in der Mehrzahl sprachen. Wer will auch bestreiten, dass unterm Kapitalismus die eine Arbeiterklasse der gleichförmig abhängig Beschäftigten nie zustande kam? Und unterschiedlich wie die Arbeitsbedingungen, die Entlohnung und das herrschaftliche Umfeld des jeweiligen Typs der arbeitenden Klasse ist seit den Anfängen die Prägekraft des konkreten Milieus. Aber sie allein macht nicht das Individuum. Dessen Orte auf der Gaußschen Glockenkurve für Herz und Kopf, Verstand und Gemüt ergeben sich aus genetischer Ausstattung und den ungezählten wirkmächtigen Reizen des persönlichen Umfelds in Kindheit und Jugend. Im Mittel hängt der gesellschaftliche Erfolg der Individuen dann sehr wohl von Klassenherkunft und familiärem Status ab. „The son also rises“ (Gregory Clark) gilt statistisch auffällig nur in traditionell festgefügten höheren Kreisen.
Horst Lademacher, geboren 1931, erinnert sich anschaulich an die Familie, aus der er stammt. Sie war für das Arbeitervolk jener Jahre im Bergischen Land, später im Märkischen Sauerland auf den ersten Blick nicht untypisch. Aber der Hammerschmied Walter Lademacher besaß klare Vorstellungen, und der Sohn Horst blieb das einzige Kind, das er mit seiner Frau Cäcilie hatte. Obwohl Arbeiterschaft seit Generationen und darin leidgeprüft, konnte in diesen lebensklugen Eltern der Gedanke aufkommen, der Sohn könne es einmal in der allseits beschworenen „Volksgemeinschaft“ besser haben, vielleicht sogar so etwas wie Beamter im gehobenen Dienst werden. Die Naziherrschaft stand dem nicht entgegen, sondern bot mit der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (Napola) in Oranienburg eine höhere Schule an, die nach Aufnahmeprüfung und bei geringem Schulgeld zugänglich war. Horst Lademacher bestand mühelos und trat ein in eine Welt, die den Knaben erfasste, auch wenn sie seinem Naturell nur bedingt entsprach. Im November 1944 nahm ihn der Vater aus dem elitären Kloster des Systems wieder heraus, das Abitur bestand der Sohn in Friedenszeiten am Gymnasium in Altena
Als „Hammerjunge“ in der Gussstahlfabrik, dem Arbeitsort des Vaters, verdiente sich Horst Lademacher den Start in die akademische Welt, zum Wintersemester 1951/52 begann er in Bonn mit dem Studium. Ein solcher Aufbruch aus der Arbeiterschaft allein mit dem Rückhalt der Kernfamilie dürfte zu dieser Zeit seltener gewesen sein als ein höherer Ministerialbeamter ohne NS-Vergangenheit im Bundesministerium des Innern.
Die Arbeiterfamilie, die im Januar 1947, nach Krieg und Nazidiktatur, bei meiner Geburt in Bildstock mitten im Saarkohlewald Gestalt annahm, sah anders aus.
Meine Mutter war knapp 25, als sie niederkam. Sie hatte drei ältere Schwestern, der einzige Bruder war vor Stalingrad gefallen. Die Eltern stammten aus dem Hunsrück, also „vom Land“, waren gut evangelisch, der Vater arbeitete als Pferdeknecht auf der Grube Hirschbach und diente in Dudweiler seiner Gemeinde als Diakon. Wilhelm Hartmann war nicht auf den Kopf gefallen. Er baute in der Freizeit verlässliche Tischuhren und verkleidete sie reizvoll mit Halbedelsteinen, die er sich in Idar-Oberstein besorgte. Wenn ihm einer mit Klassendünkel kam, hielt er dagegen, seine blitzenden Augen erbte die jüngste Tochter Lina samt Temperament und Selbstbewusstsein. Beides bot sie mit 16 auf, um sich Heinz Klär zurecht zu legen, der später mein Vater wurde.
Heinz Klär, Jahrgang 1920, war die längste Zeit seines Lebens Arbeiter, aber in einer Arbeiterfamilie wuchs er nicht auf.
Valentin Klär, sein Vater, war aus dem 1. Weltkrieg mit einem Lungensteckschuss zurückgekehrt und invalide, er nahm sich bald nach der Geburt des dritten Kindes das Leben. Näheres wusste man nicht in der Ehe, die Heinz 1946 mit Lina Hartmann einging, seine Mutter hatte eine Decke über die Vergangenheit gebreitet. Ihren Jüngsten hatte sie bald in eine Pflegefamilie nach Weißenfels gegeben, den ersten Sohn und die Tochter behielt sie bei sich. Sie ging eine neue Verbindung mit einem der Söhne eines kleinen Schuhfabrikanten in Friedrichsthal ein. Die zweite Ehe war kleinbürgerlich wie die erste, die sie als junge Frau mit ihrem Mann nach Straßburg geführt hatte, wo beide ein bescheidenes Café unterhielten. Als Valentin feldgrau anziehen musste, war Philippine Straßenbahnschaffnerin geworden, angeblich fuhr sie sogar die Tram selbst, aber bei den Erzählungen meiner Friedrichsthaler Oma wusste man nie –. Nach Kriegsende hatte sie für Deutschland votiert und das Elsass Richtung Saarland verlassen.
Der Knabe Heinz traf es in Sachsen-Anhalt nicht schlecht. Reinhold Schieck und seine Frau, von ihm Onkel und Tante genannt, gaben den Ton an in Tagewerben, einem Dorf vor den Toren von Weißenfels, sie hatten Land, Vieh, Gastwirtschaft, Metzgerei, den Veranstaltungssaal, auch ein gutes Herz und keine Kinder. Nun hatten sie Heinz, aber der hing an seiner Mutter und den Geschwistern, und wenn das Verhältnis zu den Pflegeeltern auch gut war, fehlte ihm wohl das Innige. Schicksalhaft war, dass Onkel und Tante zwar alle Mittel hatten, aber kein Gespür für die lebhafte Intelligenz und das Potential des Jungen, mehr als Dorfschule kam ihnen nicht in den Sinn. Als Heinz trotz eines sehr guten Abschlusszeugnisses an der Volksschule in Friedrichsthal nicht in die dortige Gemeindeverwaltung übernommen wurde, sollte er in Weißenfels Schreiner lernen. Gerne wäre er in Leipzig Kellner in einem großen Hotel geworden und später vielleicht ein sprachgewandter Ober, aber als er den Schreiner ablehnte, landete er als „Schuhfacharbeiter“ in einer taylorisierten Fabrikfertigung.
Es war Nazizeit und jenseits der Schuhfabrik drohte der Reichsarbeitsdienst. Mit den Nazis hatten es die liberalen Schiecks nicht, im Gegenteil, bereits im Schlagschatten der Illegalisierung durften die Kommunisten noch Reinholds Veranstaltungssaal nutzen. 1945 bewiesen die Überlebenden Gedächtnis und ersparten dem Großbauern Schieck Sibirien. Heinz Klär seinerseits hatte es nicht mit dem Reichsarbeitsdienst, lieber meldete er sich mit 17 zur Luftwaffe, er landete im Fallschirmjägerregiment General Göring. Was ihn im Einzelnen zu diesem Schritt bewog, hat er mir nicht erzählt, wohl aber dass er ins Ausland gegangen wäre, hätte er nur einen dafür passenden Beruf gehabt. Nun aber war er in einem Elite-Regiment des Regimes, seine Ausgehuniform hatten ihm die Schiecks maßschneidern lassen, und gut sah er darin aus. Eine Weile wird er noch auf eine Pilotenausbildung gehofft haben, aber Fallschirmjäger sind am Boden Infanteristen, und überhaupt: Militär ist Kommiss, der übelste Feind des Nonkonformisten, er hätte das Verhängnis ahnen können. Denn das war er unverkennbar schon damals: ein unangepasster Individualist und Widerspruchsgeist, denkbar ungeeignet für ein System gebaut auf Befehl und unbedingten Gehorsam.
Mit gehörig Massel überstand der Mann sieben Jahre Barras, fünf davon im Kriegseinsatz, darin die „Schlacht um Kreta“, Versorgungsflüge in den umkämpften Kessel von Stalingrad, einen Prozess vor dem Militärgericht, Strafkompanie, Fleckfieber, am Ende zielgenau einen fanatischen Zugführer aus Argentinien, der in Italien faute de mieux den späten Heldentod suchte. Seine beste Zeit hatte er als Bursche bei einem Kommodore, der vor dem Krieg Generalagent für General Motors im Reich gewesen war und Erfolgsmärchen so kommentierte: „Die lügen wie die Nazis“. Dieser Oberst starb ihm zu früh. An Desertieren dachte er, aber er brachte es nicht über sich, die Kameradschaft hielt ihn ab. In englischer Kriegsgefangenschaft hoffte er wenigstens auf Erlösung von dem abgewirtschafteten Gesocks, doch auch dort blieb der Nazi-Offizier Offizier und Vorgesetzter. Immerhin durfte er, der geborene Saarländer, früh das Lager in Richtung Heimat verlassen. Im Sulzbachtal angekommen, erfuhr er vom Tod des Bruders kurz vor Toresschluss in einem letzten Gefecht mit den anrückenden Amerikanern unmittelbar vor der Haustür, im Warndt. Der Hass auf die Nazis war nun eingebrannt fürs Leben.
Lina Hartmann, die Heinz „Lilo“ nannte, war auch glücklich davongekommen. 1944 als „Blitzmädchen“ bei einer Wehrmachtseinheit in Rumänien stationiert, verordnete ihr ein einfühlsamer Leutnant Fronturlaub, als die Rote Armee nahekam, das ersparte ihr die Gefangenschaft. Während des Kriegs hatte sie schon heiraten wollen, doch Heinz, hellblond, wasserblaue Augen, athletisch – ein echter Kontrast zu Adolf Hitler — bekam den Arier-Ausweis nicht hin. Jetzt stand die Obrigkeit der Ehe nicht mehr im Weg. Bald fand sich in Bildstock eine Mansarde in der Bäckerei von Erich Born und eine Hausgemeinschaft mit Mina und Jakob Simon, einem Bergarbeiterpaar ohne Kinder. Genug Geld für den kleinen Start hatten die jungen Klärs auch, sie waren sparsam gewesen. Vor allem aber hatten sie Sehnsucht nach LEBEN, nach Tanzen, Feiern, Film, Theater, Reisen, schönen Kleidern, gutem Essen und alles, bitte, ohne Krieg, Schwulst und Zwang. Heinz fand einen Weg, der diese Freiheit eröffnete: Er schmuggelte. Als „Handelsvertreter“ führte er bevorzugt Leica und Contax, gerne auch Rolleiflex und Robot, sein Revier für Fotogeräte reichte von Dresden bis Paris.
Hatten die beiden keinen Respekt vor der Staatsmacht? Sagen wir so: Die alte Staatsmacht hatte ihnen die Jugendjahre gestohlen, die neue konnte das nicht wettmachen, auch wenn sie sich besser anfühlte als die alte. Nach zwölf Jahren Faschismus und totalem Krieg hatte „das Gesetz“ auch bei den Braven keinen Nimbus mehr, und wenn der Kohlenklau unter Fringsen fiel, warum nicht das Hintergehen des Zolls? Der Schwarzmarkt hatte viele Gesichter, der jüdische Exilant in Paris, der überlebt hatte und auf die Contax wartete, erteilte Heinz Dispens. Als der Schmuggel eines Tages aufflog, zeigte sich, dass auch der État sarrois, der „Saar-Staat“, auf den Akten des Großdeutschen Reichs aufbaute und ein Militärgerichtsurteil eine Vorstrafe bedeutete – politische Motivierung hin oder her. Die anarchische Auszeit fand ihr Ende, und die Kopfarbeiter-Beschäftigung, die zu Heinz gepasst hätte, die ihm bis dahin aber nicht begegnet war, rückte in noch weitere Ferne.
So wurde mein Vater Malocher, machte mal diesen, mal jenen Job – eine große Tankstelle in Saarbrücken und eine Zementfabrik sind mir im Gedächtnis geblieben – besuchte regelmäßig die Schiecks in Tagewerben, jetzt sowjetische Besatzungszone, war Mitglied der Sozialistischen Partei Saar und engagierte sich in der Europa Union. In Weißenfels trat die örtliche SED an ihn heran und lockte den Antifaschisten mit einer Offizierslaufbahn in der Nationalen Volksarmee. Das war das Falsche, nach dem ostdeutschen Stalinismus stand ihm eh nicht der Sinn, aber geradezu ein Gräuel war ihm die Uniform, „da hätte ich ja gleich nach dem Krieg auch Polizist an der Saar werden können“. Die Abneigung, sich an- und einzupassen, dürfte ihm auch einen politischen Weg aus der Malaise verbaut haben, denn genug Überzeugung und Überzeugungskraft brachte er eigentlich mit. Vielleicht wäre dank seines Redetalents noch etwas draus geworden, aber dann wurde im Dezember 1952 nicht nur mein Bruder Joachim geboren, es zeichnete sich auch „der Kampf um die Saar“ ab.
Nicht nur dem ehrlichen Europäer, auch dem gebrannten Kind waren „Deutsch ist die Saar!“ und „Heim ins Reich!“ verdächtige Parolen. Der Alt-Nazi Heinrich Schneider, Vorsitzender der Saar-Liberalen und Speerspitze des „Heimatbundes“, intonierte die Kampfgesänge wie in den 30er Jahren sein Vorbild Joseph Goebbels, das verstärkte nur die Abneigung und den Widerwillen. Heinz Klär legte sich mächtig ins Zeug für das europäische Saar-Statut und gegen die nationalistische Welle, die er verachtete, er ging der hochfahrenden Konfrontation nicht aus dem Weg, sein österreichischer Roller von Steyr-Puch überstand nur knapp die mutwillige deutschnationale Zerstörung. Und doch durfte sein Sohn, ein Kind halt, im Kreis der Kameraden die Zeitungen des Heimatbundes am Tor der Grube Maybach verkaufen, familiär war mein Vater weder autoritär noch eng. Als aber 1955 im Oktober stramme 67,7% der Saarländer gegen die europäische Zukunft stimmten, war er mit dem deutschen Skat-Verein fertig und votierte für Québec in Kanada. Die Vorkehrungen zur Auswanderung gediehen 1956 weit und führten doch nicht zum gewünschten Ergebnis, denn mitten hinein platzte eine weitere Schwangerschaft. Im Mai 1957 wurde mein Bruder René geboren. Man darf annehmen, dass Lilo Klär schwanger oder mit einem Säugling im Gepäck nicht in ein fremdes Land umziehen wollte und Heinz ein Einsehen hatte.
Meine Mutter war in all den Jahren das, was die Protestanten von ihrem Gott sangen: eine feste Burg. Der Krieg hatte ihr nichts anhaben können, die tiefe Trauer um den gefallenen Bruder Willi überstand sie und war dann ein helles Lagerfeuer in der neu gewonnenen Freiheit. Selbständig und tatkräftig steuerte sie durch die Fährnisse und hielt die Stimmung hoch. Bald besorgte sie sich eine Stelle als Kellnerin in einem großen Friedrichsthaler Vereins- und Speiselokal und verdiente am Wochenende und bei Feierlichkeiten das Geld für die kleinen Anschaffungen, die das Leben einer Arbeiterfrau leichter machten. Heinz stand ihr nicht im Weg, er war ihrer sicher und bewunderte tatsächlich ihr Geschick und ihren klaren Kopf. Lilo hatte einfach Händchen, sie bewies eine schlafwandlerische Sicherheit im Alltag, und wenn sie Unterstützung brauchte, war Mina Simon nicht weit. Als Jakob Simon 1954 mit 62 Jahren an Silikose gestorben war, ein typisches Bergmannsschicksal, war Mina 60 und umso froher um das Kind, das ihr leiblich nicht vergönnt gewesen war. So hatte ich gleich zwei Frauen, die mich im Blick hatten und mich wärmten: die Mama und Tamina.
1958, ich war elfeinhalb, nahm mein Leben eine überraschende Wendung. Als im Sommer die 5. Klasse an der Evangelischen Volksschule in Bildstock sich dem Ende zuneigte, zitierte der Rektor Volz, zugleich mein Klassenlehrer, einen Erziehungsberechtigten zum Gespräch. Meine Mutter ging hin, mein Vater hatte es mit den deutschnationalen Lehrern nicht so. „Entweder melden Sie Ihren Bub zum Gymnasium an, oder ich versetze ihn gleich in die 7. Klasse“, verkündete der Rektor, dem nicht verborgen geblieben war, dass ich mich im Unterricht ziemlich langweilte und am liebsten unter der Bank Heftchen las. Daraufhin erklärte Mina Simon sich bereit, das Schulgeld zu zahlen, ich wurde zur Aufnahmeprüfung am Staatlichen Realgymnasium Sulzbach/Saar angemeldet und bestand. Im Rückblick ziehe ich den Hut vor dem Rektor. Er eröffnete einen Weg, was seinem forschen jungen Kollegen, meinem Lehrer in der 3. und 4. Klasse, im Traum nicht eingefallen war, den eigenen Leuten ohne Anstoß aber auch nicht.
Abitur machte ich dank zweier Kurzschuljahre bereits im Herbst 1966. In der Klasse, anfangs 50 Kinder, rasch sehr viel weniger, war ich am Ende unter elf Abiturienten der einzige aus der Arbeiterschaft und gut dabei. Als der Studienrat Hubig, selbst Bergarbeitersohn und ein echter Überflieger – er sprach mehr als ein Dutzend Sprachen – mich in der 10. Klasse etwas maliziös unter Pfuschverdacht gestellt hatte, zeigte ich aus Daffke, dass ich auch Primus konnte, aber dieses Ostentative war nicht mein Ding. Glücklicherweise brauchte ich mir nie ein Bein auszureißen, die Lehrer waren mit ein, zwei Ausnahmen fair zu mir, auch die ehemaligen Nazis, von denen es einige gab. Nur mein Klassenlehrer in der Oberstufe war ein bourgeoiser Kotzbrocken, der gerne nicht nur den langjährigen Klassenprimus, meinen besten Kumpel und Banknachbarn seit der Sexta abgesägt hätte, sondern auch mich. Es gelang ihm nicht, er verdarb mir nur die Abiturnoten in Deutsch und Französisch, den Fächern, die er ohne Esprit gab. Intellektuell hatte ich Glück außerhalb der Schule. Arbeitete ich während der großen Ferien mit 15 beim Plattenleger, mit 16 beim Bauelektriker und mit 17 als Gerüstmacher im Wohnungsbau, ergatterte ich mit 18 beim saarländischen Kultusministerium einen Ferienjob im schweizerischen Wallis als Kinderbetreuer. Dort traf ich auf Karl-Heinz Schulde, der meine kulturelle Aufmerksamkeit ausbeulte und mir den Horizont weitete, ein Glücksfall aus heiterem Himmel. Vier Jahre später widerfuhr mir Ähnliches, nur sehr viel eindringlicher, als ich im ersten Semester an der Universität des Saarlandes auf Ekkehard Eggs stieß und seufzend erkannte, was alles ich von diesem klugen und gebildeten Romanisten lernen konnte.
Zur Zeit meines Schulabschlusses verdiente Heinz Klär gutes Geld bei Schluchter in Saarbrücken. Mehrere Jahre schon hielt er in Akkordarbeit die Telefon-Zellen und die großen und kleinen Leitungskästen der Bundespost im Saarland durch Entrostung und Neuanstrich in Schuss. Es war ein Job ganz nach seinem Geschmack, er erledigte ihn nach eigenem Plan und mit eigenem Auto, und da er sauber arbeitete, quatschte ihm niemand rein. In Sachen Bildung der Kinder ließen er und Lilo nichts mehr anbrennen: Mein Bruder Joachim besuchte das Aufbaugymnasium und mein Bruder René bald die Handelsschule, beide kamen gut zurecht. So waren wir nun eine eher ungewöhnliche Arbeiterfamilie, wenn auch weiterhin knapp bei Kasse. Ich verpflichtete mich nach dem Abitur für zwei Jahre zur Bundeswehr, überwies jeden Monat 100 von meinen 300 DM nach Hause und sparte für den Einstig ins Studium. Denn auch das war unausgesprochen klar: Nach dem „Bund“ wird studiert.
Als ich kurz vor Weihnachten 1968 aus Lager Lechfeld nach Saarbrücken zurückkehrte, hatte mein Vater gerade bei der Ford Motor Company in Saarlouis angeheuert. Bald war er Qualitätskontrolleur im Lack, bald auch Vertrauensmann und Betriebsrat. Nach mehr als einem halben Arbeitsleben war er doch noch in der Arbeiterklasse der großen Industrie gelandet. In Saarlouis richtete er sich als linker IG Metaller und Unterstützer von Franz Steinkühler ein, war ein antiautoritärer und bejubelter Volkstribun auf Betriebsversammlungen und der ewige Vorsitzende des Vertrauensleutekörpers, aber nie freigestellter Betriebsrat — das wäre weder im Sinn der Ford-Betriebsleitung noch der IG Metall-Verwaltungsstelle Völklingen gewesen. Mit Wohlgefallen sah er das Engagement seiner älteren Söhne in der damaligen Studenten- und Schülerbewegung. Bei einer politischen Keilerei an der Johanneskirche in Saarbrücken tauchte er auf wie Zieten aus dem Busch und haute meinen kleinen Bruder raus, bevor ich aus dem Bus hechten konnte und zur Stelle war, um die rote und die schwarze Fahne zu sichern, die wir, dem Selbstverständnis nach Anarchosyndikalisten in französischer Tradition, zu allen Demonstrationen mitnahmen.
In gewissem Sinn waren die Klärs Ende der 60er Jahre eine lupenreine Aufsteigerfamilie. Und doch: Meine erste Karte von der Landesversicherungsanstalt für das Saarland ließ ich mir ungerührt am 9. Januar 1970 für die Arbeiterrentenversicherung ausstellen. Als Heinz deswegen witzelte, erinnerte ich mich, schon immer mehr Klassenbewusstsein gehabt zu haben als er. Es war ein Joke, aber nicht ohne Hintersinn. Er zeigte belustigt die Zähne. Lilo fand das neue Leben schön, zu unser aller Entsetzen war es ihr nicht lange vergönnt. Ein Schlaganfall lähmte sie, sie litt und wir mit ihr, als sie 1977 verschied, war sie gerade mal 55 Jahre alt geworden. Tamina war 1967 gestorben, als ich im bayrischen Allgäu US-Atomraketen bewachte, die auf Prag gerichtet waren, Kriegsangst war nach 14/18 und 39/45 erneut in sie gekrochen und hatte sie gebeugt.
Ein Sprung.
1985, ich arbeitete seit zwei Jahren als Willy Brandts Büroleiter und Textvorbereiter, stellte ich meinem Chef am Rand eines Wahlkampffestes in Saarbrücken meinen Vater vor. Brandt riss ihm bei der Begrüßung fast den Arm aus. Wer diesen Norddeutschen kannte, wusste die Geste zu deuten, sie gehörte nicht zu seinem Standard-Repertoire.
Passender hätte ich mich selbst bei meinem Vater vermutlich nicht bedanken können. In der großen Tasche der Arbeiterschaft geboren, hatte ich beruflich das Glück, das er nicht hatte. Merci, Horst, merci, Willy.
(*Für Maja und Benni, die Urenkel von Lilo und Heinz)
Danke.