Wenn ein CDU-Vorsitzender mit einem Schlag die trotz aller Kritik an ihren 16 Amtsjahren immer noch hochgeschätzte Vorgängerin, die christlichen Kirchen, einen führenden Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde in Deutschland und mehrere Holocaust-Überlebende gegen sich aufbringt, dazu Hunderttausende in Berlin, Hamburg, München, Bonn und Bremen auf die Barrikaden treibt, kann er weder mit sich „im Reinen“ sein noch glauben, er selbst und seine Partei seien „gestärkt“ aus einer denkwürdigen Parlamentswoche gegangen. Wenn Friedrich Merz das behauptet, befindet er sich in einem Stadium autosuggestiver Schönfärberei, die mit dem kurz bevorstehenden Wahltermin alles, mit der Realität aber herzlich wenig zu tun hat.
Auch wenn sein Fünf-Punkte-Plan zur Migrationspolitik von einer demoskopischen Mehrheit befürwortet werden mag, heißt das nicht, dass es gut und richtig war, ihn im Bundestag noch zur Abstimmung zu stellen – ohne jede Aussicht, dass die geforderten Maßnahmen den Bundesrat passieren und Gesetz werden würden. Der Preis für den vermeintlichen Beweis entschiedener Handlungsfähigkeit war überschaubar groß, ebenso der Schaden für die Glaubwürdigkeit des Oppositionsführers, der doch wenige Wochen zuvor genau diesen taktischen Winkelzug mit dem Brustton der Überzeugung ausgeschlossen hatte. Ein kurzzeitiger Pyrrhussieg, allenfalls.
Das eigentliche Resultat nämlich -– ein schriller öffentlicher Aufschrei, Irritation bei vielen europäischen Partnern, Verunsicherung in den eigenen Reihen – war auch durch die bemühte Geschlossenheit eines wenige Stunden dauernden Parteitags nicht zu übertünchen. Der Riss durch die CDU, der Graben zwischen der liberalen Merkel-Union und einem gewiss starken Lager, das von Merz-Anhängern wie Roland Koch vertreten wird, ist wieder tiefer geworden. Dabei hatte es der Sauerländer in den vergangenen Jahren doch geschafft, die Christdemokraten hinter einer betont konservativ ausgerichteten Programmatik zu einen. Das war, mit Blick auf renitente ostdeutsche Landesverbände, schwer genug und verlangte vor allem schwarz-grün regierenden Ministerpräsidenten wie Daniel Günther oder Hendrik Wüst einiges an Langmut ab.
Nun aber steht der lange Zeit als absolut sicher geglaubte Kantersieg der Union am 23. Februar plötzlich wieder in Frage, wie schon einmal vor vier Jahren, als Armin Laschet auf den letzten Metern vor dem Ziel ins Stolpern geriet. Die Umfragen der nächsten Tage werden zeigen, wie die Bevölkerung auf den Schulterschluss von CDU/CSU, FDP und AfD beim „Zustrombegrenzungsgesetz“ reagiert. Die endgültige Quittung der Wähler erfolgt in knapp drei Wochen. Gut möglich, dass Friedrich Merz dann vor einem Scherbenhaufen steht. Trotz seiner vor den 1000 CDU-Delegierten erneuerten Absage an jede Zusammenarbeit mit der AfD bleiben Zweifel, denn der parlamentarische Sündenfall von vergangener Woche war beileibe kein Versehen oder Ausrutscher, sondern strategisch kalkuliert.
Jedenfalls könnte die Verhandlungsposition von Friedrich Merz als potenziellem „Wahlsieger“ weit weniger komfortabel ausfallen als noch vor einigen Wochen erhofft, der Abstand zu SPD, AfD und Grünen schmilzt womöglich. Vielleicht kommt die Union, kommen CSU-Chef Markus Söder und einflussreiche CDU-Schwergewichte, nicht daran vorbei, Merz als scheinbar unausweichlichen Bundeskanzler nach der Wahl zur Disposition zu stellen, um eine neue Mehrheit im Parlament überhaupt schmieden zu können. SPD und Grüne werden sich, das ist zu erwarten, nach ihren jüngsten Erfahrungen mit der Zuverlässigkeit der Merz-Union nicht leichten Herzens und ohne Gegenleistung auf ein schwieriges Bündnis mit der Union einlassen.