1.) Die Herausforderungen der Zeitenwende für eine Neuordnung der sozialdemokratischen Außen- und Sicherheitspolitik müssen als Summe aus Humanität, Demokratie, Sicherheit, globaler Gerechtigkeit (z.B. Geschlechter- und Ernährungsgerechtigkeit), Rüstungskontrolle und neuer Friedensordnung gedacht werden. Wir bekennen uns zu unserer Wehrhaftigkeit, der Verteidigungsfähigkeit unseres Landes und unseren Bündnisverpflichtungen in der EU und NATO. Dem dient das geplante Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, mit dem die Ausrüstung der Bundeswehr als unsere Parlamentsarmee so verbessert werden soll, dass dieses Ziel erreicht werden kann. Eine Militarisierung des Denkens und Handelns in unserer Politik lassen wir dabei nicht zu!
2.) Unsere Rolle in der Welt muss es sein, als friedensschaffender und auf Diplomatie ausgerichteter Partner der Staatengemeinschaft in Sachen humanitärer und wirtschaftlicher Hilfe mit gutem Beispiel voranzugehen. Die Zeitenwende verlangt auch, dass wir unsere militärische Mitverantwortung wahrnehmen. Sie verlangt keineswegs Alleingänge oder eine militärische Führungsrolle, die sich mit Blick auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts und die Haltung unserer Mitglieder und Wählerschaft verbietet. Die von Konservativen lancierte Vorstellung militärischer Großmachtfantasien widerspricht zutiefst unseren Grundwerten und wird auch von einer großen Mehrheit der Menschen in diesem Land nicht geteilt!
3.) „Wir wollen keine Rüstungsexporte in Krisengebiete und Diktaturen.“ Das steht im Wahlprogramm der SPD für die Europawahl 2019. Auch der derzeitige Ampel- Koalitionsvertrag sieht eine restriktive Rüstungsexportpolitik vor. Eine mit europäischer Industriepolitik begründete Liberalisierung von Waffenexporten in Krisen- und Kriegsgebiete oder Autokratien dieser Welt konterkariert unsere Bemühungen für eine stärker wertegeleitete Außenpolitik. Unser friedenspolitischer Anspruch muss es bleiben, dies nicht zuzulassen und uns weiterhin für Abrüstung und weniger (tödliche!) Waffen einzusetzen.
4.) Wir stehen für Frieden und Freiheit und zu den Prinzipien des Völkerrechts. Es hat Irrtümer und Fehleinschätzungen der konkreten Politik gegeben: Insbesondere die starke Abhängigkeit vom Import fossiler Energien, der Zustand der Bundeswehr und die Distanz zu den Oppositionsbewegungen unserer osteuropäischen Nachbarn. Diese müssen korrigiert werden! Dennoch war die europäische Ost- und Entspannungspolitik der letzten Jahrzehnte insbesondere in Europa, dem Ausgangspunkt zweier Weltkriege im 20.
Jahrhundert, insgesamt richtig. Sie hat im Gegenteil den Kalten Krieg und die europäische Teilung überwunden und die demokratischen Entwicklungen in vielen Staaten erst ermöglicht. Dass Willy Brandt genau dafür der Friedensnobelpreis verliehen worden ist, gehört zu den stolzen Traditionen der Sozialdemokratie.
5.) Für demokratische Staaten kann es nur eine auf unsere Werte begründete Außenpolitik geben. Dabei wäre eine Ausrichtung dieser Außenpolitik ohne Realitätsbezug falsch und gefährlich. Wir brauchen also eine wertegeleitete UND realitätsbezogene Außenpolitik und müssen auch mit denen sprechen, die unsere Werte nicht teilen. Dafür müssen wir Leitplanken entwickeln, an denen wir uns orientieren können, auch wenn die sich ändernden Realitäten immer wieder einen neuen besonnenen konkreten Abwägungsprozess der politisch Verantwortlichen erfordern.
6.) Wir wissen nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Es gibt keine „sauberen Kriege“, die sich „nur“ gegen militärische Ziele richten und es gibt schon gar keine „Gewinner“, außer in der Waffenproduktion. Im Gegenteil: Tod und Zerstörung, Flucht und Vertreibung, Terror und Angst, Verletzungen an Körper und Seele mit lang anhaltender Traumatisierung waren und bleiben Kennzeichen auch „moderner Kriegsführung“ – und sie treffen die Zivilbevölkerung wie Soldaten. Hinzu kommen Kriegsverbrechen und Gräueltaten, zu deren konsequenter Ächtung und Verfolgung der Verantwortlichen wir uns ausdrücklich bekennen.
7.) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind weder naiv noch insgesamt pazifistisch, bekennen uns aber zu unserer friedenspolitischen Tradition und sagen klar: Wir lehnen jede Art von kriegerischen Auseinandersetzungen als Mittel der Politik ab! Denn außenpolitische Fragen und Konflikte lassen sich am Ende niemals militärisch lösen. „Eine Alternative zum Krieg gibt es immer – eine Alternative zum Frieden nicht.“ (Wolfgang Schneiderhan, Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, General a.D.). Das Recht auf Selbstverteidigung bleibt davon unberührt und es gibt auch weiterhin eine Beistandspflicht der Völkergemeinschaft gegenüber von Angriffs- und Bürgerkriegen bedrohten Ländern. Diese orientiert sich weder an machtstrategischen noch ressourcengetriebenen Überlegungen und muss strikt im Rahmen völkerrechtlicher Mandate stattfinden. Wir müssen die Vereinten Nationen im Sinne der Menschenrechte zu DER zentralen Friedensinstitution machen, die unabhängig von Allianzen und Veto- Rechten effektiv arbeiten kann. Diplomatie muss dabei immer an erster Stelle stehen!
8.) „Frieden ist nicht alles aber ohne Frieden ist alles nichts“ (Willy Brandt) – Humanität und der Schutz vor kriegerischen Auseinandersetzungen müssen Vorrang vor politischen und taktischen Erwägungen haben. Die Ächtung des Einsatzes von ABC-Waffen durch internationale Verträge und das Völkerrecht reicht nicht aus und wird immer wieder verletzt. Das Verhindern einer militärischen Auseinandersetzung zwischen
Nuklearmächten (zum Beispiel Russland und NATO) ist wieder zu einer virulenten Herausforderung geworden. So sehr wir innen- wie außenpolitisch unsere Werte von Demokratie und Freiheitsrechten verteidigen, so abstrakt sind die im Kalten Krieg entwickelten Abschreckungsszenarien, wenn die Friedenssicherung versagt. „We had to destroy the village in order to save it.” (US-General im Vietnamkrieg) – die Werte zu verteidigen ohne Rücksicht auf Menschenleben, ist in letzter Konsequenz unmoralisch!
9.) Wir sollten das Konzept „struktureller Nichtangriffsfähigkeit“ (Egon Bahr) zur präventiven Friedenssicherung neu konzipieren. Neben einer auf gemeinsame Sicherheit und Deeskalation sowie Vorrang der Diplomatie ausgerichteten Außenpolitik gehören Angebote für eine Kooperation bei Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft dazu. Zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit zum Beispiel durch Jugendaustausch und Kultur können ein wesentlicher Faktor für zukünftige Friedenssicherung sein.
10.) Deutschland muss als Lehre aus seiner Vergangenheit und in Anerkennung der Chancen und Vorteile, die gerade unser Land durch die Völkergemeinschaft trotz des Zweiten Weltkrieges erhalten hat, immer gemeinsam mit unseren europäischen und internationalen Verbündeten handeln. Wir haben durch den Marshall-Plan und die europäische Integration und nicht allein durch eigene Anstrengung die Chance bekommen, in kürzester Zeit zum größten und wohlhabendsten Industrieland in Europa zu werden. Daher haben wir mehr als andere Länder die Verpflichtung auf nationale Alleingänge zu verzichten. Das darf aber keine Rechtfertigung für Nichtstun sein. Insbesondere bei humanitären Hilfen, Entwicklungszusammenarbeit, wirtschaftlicher Unterstützung für schwächere Länder haben wir eine besondere Verantwortung.
11.) Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen bieten längst den Orientierungsrahmen für die globalen Gerechtigkeitsfragen, die es zu lösen gilt. Ob Hunger in der Welt, Kinderarbeit, Umweltzerstörung, Fluchtbewegungen, Bürgerkriege, Verteilungskämpfe, unmoralisches und illegales Handeln globalagierender Konzerne, Unwuchten in der Landwirtschafts- und Handelspolitik und vieles mehr – die Lebenschancen der Menschen sind weiterhin krass unterschiedlich. Das widerspricht nicht nur unserer Auffassung der universellen Menschenrechte, sondern ist und bleibt DIE Bedrohung für Frieden und Wohlstand in Europa.
Unsere Verpflichtung und Leitbild unserer Politik ist es, den Frieden und Wohlstand, den wir seit fast acht Jahrzehnten erstmals in unserem Land erreicht haben, für unsere Kinder und Enkel zu sichern. Deshalb sind die sustainable development goals der Vereinten Nationen auch für die deutsche Politik die richtige Antwort auf die Zeitenwende.
Über den Autor: Dr. Ralf Stegner, SPD, ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Ordentliches Mitglied im
Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) und im Auswärtigen Ausschuss sowie Obmann im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung . Zuvor war er von 2003 bis 2005 Finanzminister und von 2005 bis 2008 Innenminister des Landes Schleswig-Holstein.