Die Kernaussage der Zeitenwende ist: Wir dürfen nicht im alten Denken verharren. Die Zeitenwende geht dabei weit über das eines militärischen Konzepts hinaus und gibt den Anstoß für eine gesamtstrategische Neuorientierung unseres Landes.
Die Zeitenwende ist dabei ein Dreiklang bestehend aus Erfassung des neuen politischen Lagebildes unserer Zeit, in welchem wir die neuen Realitäten und globalen Trends analysieren, den Herausforderungen, die für uns als Land aus dem Lagebild resultieren und der strategischen Antwort, mit der wir diesen begegnen. Das Momentum der 1990 Jahre mit dem grenzenlosen Optimismus des Siegeszugs der Demokratien und dem prophezeiten „Ende der Geschichte“ von Fukuyama liegt mit der Zeitenwende endgültig in der Vergangenheit.
Olaf Scholz hat mit der Zeitenwende bewusst einen Umbruch zu etwas Neuem hin eingeläutet. Es ist eine Zeit, die härter und rauer ist: Machtblöcke und Machtansprüche verschieben sich und unser demokratisches System ist gefordert wie nie. Wenn wir den Ausgangspunkt der Zeitenwende betrachten, müssen wir feststellen: Wir haben uns getäuscht. Wir haben unsere Strategie auf Annahmen gebaut, die nicht eingetreten sind und diese Konstanten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik eben nicht mehr funktionieren. Die Strategie „Wandel durch Handel“ hat in China nicht zu einer Öffnung geführt und trotz der Förderung zivilgesellschaftlicher und demokratischer Beziehung zu Russland hat sich das Regime nicht demokratisiert, sondern maximal radikalisiert. Polen und andere Staaten Osteuropas haben ausdrücklich vor der mangelnden Vertrauenswürdigkeit Russlands gewarnt. Seit Jahren – ohne Widerhall. Schlussendlich war es nicht Naivität, die uns zum Austausch und Handel bewogen hat, sondern die Annahme, dass interdependente Abhängigkeiten die allgemeine Sicherheit fördern.
Dieser Beitrag stellt sich der Frage, was bedeutet diese neue Zeit für unsere Gesellschaft? Zuerst handelt es sich um eine veränderte Wahrnehmung der Realität, wir müssen unseren Blick über das aktuelle Lagebild schärfen. Darauf aufbauend, zeigen sich die zeitgenössischen Herausforderungen, die uns als Land begegnen werden, von Desinformationskampagnen autokratischer Staaten über die steigende Häufigkeit von Klimakatastrophen bis hin zur digitalen Transformation unserer Wirtschaft. Diese Herausforderungen kommen auf uns zu, ob wir wollen oder nicht. Als Antwort darauf ist eine ganzheitliche deutsche Strategie zu entwerfen notwendig, die ressortübergreifend und interdisziplinär unser Land führt und wappnet. In anderen Staaten wie den USA und Großbritannien ist dies bereits seit Langem der Standard und die Zeitenwende verlangt von uns auch hier mehr strategischen Weitblick. Eins ist klar, wir brauchen eine krisenfeste, resiliente und demokratische Gesellschaft. Sie ist die Grundvoraussetzung für die Definition einer Zeitenwende.
Das Lagebild
Wir befinden uns in einer Zeit multipler Konfrontationen, gesellschaftlicher Transformationen und geopolitischer Systemkämpfe, welche die Demokratien weltweit fordern. Die Annahme, dass nur freiheitliche Gesellschaften Wohlstand erzeugen, liegt mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der Autokratie Chinas in der Vergangenheit. Diese neue Macht an Ressourcen nutzt das Reich der Mitte, um aktiv an der Dekonstruktion unserer regelbasierten internationalen Ordnung zu arbeiten. Nach den 1990 Jahren wurden die rasant aufsteigenden Länder des globalen Südens häufig als „Democracies in Transition“ bezeichnet. Die teilweise autokratischen Züge dieser noch aufsteigenden Demokratien wurden durch Ihren jungen Charakter entschuldigt und hoffnungsvoll auf die „Transition“ verwiesen. Auch in der Wissenschaft hat die Zeitenwende bereits eingesetzt und der Harvard Professor Levitsky bezeichnet diese mittlerweile als „competitive authoritarianism“, also als wettbewerbsfähige Autokratien mit „Wahlen ohne Demokratie“. Diese neuen hybriden Staaten halten sich nicht an die Regeln des Völkerrechts, der Menschenrechte oder friedliche Lösungen von Konflikten. Viel mehr sehen Autokratien die demokratisch freiheitliche Grundordnung und deren Direktiven als Schwäche des Westens an und bekämpfen diese Ordnung aktiv durch Desinformationsstrategien und hybride Kriegsführung.
Der brutale Angriffskrieg Moskaus gegen die Ukraine ist der Auslöser der Zeitenwende, approximativ geradezu ein Weckruf, aber die Zeitenwende ist umfangreicher und die Bedrohung Russlands ist in diesem Szenario vielleicht sogar die kleinste Bedrohung. Denn Russland ist eine Regionalmacht, die Bevölkerung hat mit 70,4 Jahren dieselbe Lebenserwartung wie Nordkorea, das BIP pro Kopf in Höhe von ungefähr 12.000 USD bewegt sich im Rahmen des von Kasachstans und Costa Rica und im Better Life Index als Maßstab für Lebensqualität befindet sich Russland auf Platz 39 von 41 nur noch mit der Türkei und Südafrika dahinter. Putin drangsaliert regional seine kleineren Nachbarn wie die Ukraine und Georgien, um den sowjetischen Großmacht-Fantasien zu frönen und der Zivilgesellschaft deutlich zu machen, dass der Weg gen Freiheit und Demokratie versperrt bleibt. Was Russland für Europa so gefährlich macht ist, (1) der fehlende Respekt von Regeln – internationale Abkommen werden genauso missachtet wie Menschenrechte – außerdem (2) seine nuklearen Fähigkeiten – in Form von über 5000 Atomsprengköpfen – und (3) Russlands Fähigkeit auf Kosten der Bevölkerung große Mengen an Vermögen für außenpolitische Machtpolitik von unten nach oben umzuverteilen. Ein schnelles Ende des Krieges ist nicht abzusehen und die De-Radikalisierung Russlands liegt noch in weiterer Ferne, deshalb muss der Umgang mit diesem totalitären Nachbarn in unserer Lagebildbewertung Beachtung finden.
Was differenziert die Regionalmacht Russland von der neuen autoritären Weltmacht China? Russland bietet weder seiner Bevölkerung noch seinen Nachbarn etwas an, Russland nutzt lediglich Gewaltstrategien der Unterdrückung und unterscheidet sich dabei nicht von anderen Diktaturen weltweit. China jedoch entwirft ein ausgeklügeltes Gesellschafts- Handels- und Unterdrückungsregime, das Wohlstand schafft, die Gesellschaft unterdrückt und Länder in einseitige Abhängigkeiten treibt. Es exportiert seine Überwachungstechnologie des Sozialkreditsystems ins Ausland, betreibt Diplomatie, um kleinere Länder mit Investitionen zu ködern und mit Schulden zu binden, es will den Weltmarkt von seltenen Erden monopolisieren, es baut eigene Ratingagenturen für die Finanzmärkte auf und pocht auf die Internationalisierung des Renminbi. Regionale und bilaterale Freihandelsabkommen, globale Infrastrukturprojekte und der Ausbau von sicherheitspolitischen Kapazitäten runden das neue chinesische System ab. Simultan zum steigenden globalen Einfluss agiert Peking auf der Weltbühne zunehmend aggressiv und offenbart damit seinen wahren Charakter – welcher aufgrund der zurückhaltenden Art Xi Jing Pings oft unterschätzt wird – Auseinandersetzungen an der indischen Grenze im südchinesischen Meer und gegenüber Taiwan sowie der Einsatz einer illegalen Auslandspolizei und die zunehmenden Spionagetätigkeiten weltweit sind die ersten Indikatoren, dass die defensive außenpolitische Maxime Pekings sukzessiv der Vergangenheit angehören wird. Der resultierende Systemkampf zwischen Demokratien und Autokratien wird uns noch das ganze 21. Jahrhundert begleiten.
Zum Lagebild gehört auch – Der menschengemachte Klimawandel ist real. Es bleibt politisch weiterhin streitbar, wie wir darauf reagieren, wie der Weg zu einer emissionsfreien Wirtschaft aussehen soll und wie wir möglichst viele Länder davon überzeugen können, sich den westlichen auf Regeln basierten Produktionsstandards anzuschließen. Das Lagebild ist jedoch klar und deutlich. Die Klimaerwärmung konnte selbst in Zeiten einer stillstehenden Weltwirtschaft während der Corona Pandemie nicht gestoppt werden. Der Klimawandel hat unsere Welt bereits verändert. Großwetterereignisse verändern ganze Kontinente – als Stichpunkte seien hier die Desertifikation, Wasserknappheit, Dürren, Brände, Fluten bis hin zu den veränderten Meeresströmungen genannt. Dies liegt nicht mehr in der Zukunft, sondern ist heute schon Realität. Inselstaaten wie die Marshallinseln sind dabei wortwörtlich vom Untergang bedroht, dabei geht es nicht um eine Ideologie, sondern um eine pragmatische Bestandsaufnahme aktueller Trends. Klimawandel betrifft alle Bereiche des politischen Lebens und verlangt obendrein nach einer kohärenten Regierungsstrategie, um die daraus folgenden Herausforderungen zu meistern.
Daneben verändert sich auch unsere gesellschaftliche Form des Informationsaustauschs. Heute konsumieren wir innerhalb der ersten fünf Minuten eines Tages Meldungen aus allen Kontinenten der Welt, dabei hat die Kommunikation im digitalen Raum unsere Vernetzung gestärkt, aber gleichzeitig die Wahrnehmung von multiplen Konfrontationen und Krisen verändert. Die medialen Algorithmen haben ein neues Konsumverhalten von Nachrichten erschaffen und während der krisengebeutelte Journalismus Leser benötigt, die sich dem Studium anspruchsvoller Beiträge widmen, so informiert sich ein Großteil der Menschen durch Schlagzeilen und Überschriften in Ihren „Feeds“. So springen wir von militärischen Auseinandersetzungen, verstärkter Migration in Europa über Energiekrisen bis hin zu spürbaren Folgen des Klimawandels – und das innerhalb weniger „Swipes“. All dies erschwert es vielen Menschen, die Flut an Informationen geschickt einzuordnen – das Resultat ist eine gefühlte Überforderung und politischer Pessimismus im Dauerkrisenmodus.
Einem rasanten Wandel unterliegt auch unser Wirtschaftssystem. Während wir als Politik innerhalb unserer Grenzen agieren können, befinden wir uns in einem Konkurrenzverhältnis mit einem globalen Finanz- und Wirtschaftssystem, welches wir als einzelne Länder nur schwer verändern können. Das als Sozialdemokrat größte Problem, welches daraus resultiert, ist der globale Kostendruck, denn im Zweifelsfall werden private sowie geschäftliche Investitionsentscheidungen aus Kostengründen getroffen. Der technische Vorsprung ist zentral, damit wir weiterhin Güter produzieren können, die konkurrenzfähig sind und höhere Preise rechtfertigen. Aber der Abstand nimmt ab und die TIGER Staaten stellen in den vergangenen Jahren ihr rasantes Wachstumsvermögen unter Beweis. Die Produktion und Entwicklung von Konsumgüterelektronik liegt heute bereits nicht mehr in Europa. Die Balance zwischen Innovation und sozialen Arbeitsbedingungen steht im Zentrum der kommenden Jahrzehnte. Es braucht Gleichgewicht, das nur die Sozialdemokratie versprechen kann auszutarieren.
All dem müssen wir als Gesellschaft begegnen. Hierbei erschwert die Fragmentierung des privaten Lebens die Möglichkeit für Demokratien einen strategisch langfristigen Plan zu entwerfen. Die kommunistische Partei kann in Jahrzehnten handeln und planen, da sie ihre Macht auf extremistische und brutale Weise festigt. Wir als Demokratien müssen in einer Zeit der post-hierarchischen Gesellschaften Mehrheiten bilden. Denn Demokratien haben kein politisches Ziel und akzeptieren auch friedliche Koexistenz. Sie folgen keiner Ideologie. Das ist der Herrschaft des Volkes fremd. Wenn politische Systeme wie Demokratien kein Ziel kennen, was gilt dann: Es ist eher die bestimmte Verfasstheit, dass in ihren Gesellschaften von Zeit zu Zeit neue Vereinbarungen getroffen werden, die eigene Gesellschaft fortzuentwickeln. Die Stärke des Parlamentarismus liegt somit in der freiheitlichen Gesellschaft selbst. Doch die Demokratie braucht Mehrheiten, um zu funktionieren. Sinkende Wahlbeteiligung, zunehmender Populismus und Extremismus, ausbleibende Prosperität und zurückgehende Wohlfahrt sind hierbei Gift.
Die Zeitenwende zeigt deutlich auf, dass insgesamt etwas ins Rutschen gekommen ist, was durch die aktuellen Ereignisse wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und seinen Folgen befeuert wird. Aber es ist nicht die Ursache, der Krieg ist die Spitze des Eisbergs von weltweiten Veränderungen der vergangenen und kommenden Jahrzehnte. Eins vorweg, jede Generation, jede Zeit birgt Herausforderungen und mit der Zeitenwende sind wir in einer neuen und dauerhaften Realität angekommen. Diese in Blick zu nehmen und Deutschland strategisch zu positionieren ist die zentrale Aufgabe der Politik.
Multiple Herausforderungen
Es bedarf einer Agenda, welche Herausforderungen wie gelöst werden sollen, sowie eine klare, nachvollziehbare Prioritätensetzung. Zu allererst müssen wir dabei unseren demokratischen Rechtsstaat verteidigen. Der einzige Weg, wie sich Demokratien dem neuen Lagebild der Zeitenwende gegenüber behaupten können, ist, die westlichen Werte zu bewahren und sein System für wachsenden Wohlstand und dauerhafte Wohlfahrt auszubauen. Das ist das, was den Westen überlegen macht: freie Meinungsäußerung, Wissenschaftsfreiheit, Gleichberechtigung, Menschenrechte, Humanität, Sozialstaatlichkeit, Wohlfahrt und Sicherheit.
Das entscheidende Merkmal einer Demokratie ist aber der Wahlgang als solcher. Erst die Wahl sichert den friedlichen Übergang von Macht von der einen Seite des politischen Systems auf die andere Seite. Die freie und geheime Wahl ist die Legitimation der Demokratie. Genau hier hat Donald Trump jedoch angesetzt: Er hat seine Wahlniederlage nicht akzeptiert, den Wahlakt als manipuliert deklariert und die Legitimation als politische Macht als solches in Frage gestellt. Eine Erschütterung für das demokratische System, welche durch den Einfluss im Informationsraum noch verstärkt wird. Aufgeklärte Rechtsstaaten, die die Minderheit auf der Welt darstellen, können durch Fake News und Verschwörungstheorien sehr einfach gestört werden: Wenn etwa die Gesellschaft überhaupt nicht befähigt wird, Informationen einzuordnen, einen demokratischen Diskurs zu führen oder Narrative zu entlarven. Wie kann ich etwa in digitalen Raum feststellen, ob ich tatsächlich mit einem Menschen kommuniziere oder Social Bots meine Meinung manipulieren? Wir stellen fest: Auch die Kommunikation der Politik und der damit verbundene Umgang ist eine reale Herausforderung für demokratische Staaten im Informationszeitalter.
Desinformationen greifen die Demokratie an und zerstören den demokratischen Diskurs durch Manipulation öffentlicher Meinung, wobei soziale Netzwerke verstärkt als Echoräume der Radikalisierung fungieren. Wenn nichts mehr wahr ist, ist auch nichts mehr falsch. Ein Beispiel ist die Kommunikationsstrategie von Donald Trump, der etwa durch Twitter Millionen Menschen mit populistischen Aussagen erreicht hat. Gut, dass Twitter ihn zeitweilig ausgesperrt hat – schlecht ist daher die Wiederaufnahme durch Elon Musk. Gleichzeitig ist zu hinterfragen: Wer reguliert diese Kommunikation auf sozialen Plattformen – insbesondere, wenn sie von privaten Firmen gekauft werden? Für das demokratische System ist es wichtig, eine Antwort auf diese Frage zu formulieren. Timothy Schneider hat in seinem Buch „Missionen für den Widerstand“ deutlich gemacht: Man kann einen Tyrann nicht mehr entlarven, wenn es keine Diskursmöglichkeit gibt. Denn wie kann ich das Falsche nachweisen und dokumentieren, dass es unwahr ist? Wie kann ich beweisen, dass eine Wahl nicht manipuliert ist, wenn das Gegenteil behauptet wird und eine beträchtliche Masse das glaubt. Deshalb muss der demokratische Diskurs gewahrt werden, indem er nach Regeln funktioniert und vor allem neutral dargelegt wird. Wenn diese Grundlagen infrage gestellt werden, beginnt bereits der Kampf gegen den demokratischen Rechtsstaat.
Der Rechtsstaat ist dabei in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt und auch dies löst in demokratischen Staaten eine Vertrauenskrise aus. Dabei ist es wichtig zu verstehen: Die eingeschränkte Handlungsfähigkeit ist Wesensmerkmal der Demokratie, denn unsere Selbstbeschränkung stammt von unserem Respekt gegenüber Menschenrechten, dem Völkerrecht und der internationalen Ordnung und steht für einen friedlichen Diskurs zwischen Staaten. Unsere Bürgerinnen und Bürger können dabei ihre Rechte gegenüber dem Staat geltend machen. Diese Sicherheit vor staatlicher Willkür geschützt zu sein, ist ein zentraler Unterschied zu den autokratischen Unterdrückungsregimen und Garant unserer freiheitlichen Grundordnung. In dem aktuellen Systemkampf der Zeitenwende gerät dieses Konzept der Staatlichkeit mehrfach unter Druck. Der Westen muss hier seiner Führungsrolle nachkommen. Wer den Klimawandel bekämpfen und Artenschutz betreiben will, wer Frieden sichern und bewahren will, wer soziale und ökonomische Rechte wie gewerkschaftliche Mitbestimmung und Arbeitsschutz schützen will, der muss wissen: Es braucht Regeln in der internationalen Ordnung. Der Westen hat das aus den Augen verloren.
Zu den multiplen Herausforderungen gehört: Das Geschäftsmodell Deutschland ist in dieser Zeitenwende ebenso mehrfach unter Druck geraten. Wir haben als einziges Land den Ausstieg aus der Atomenergie, der Stein- und der Braunkohle gleichzeitig vereinbart. Doch der Ausbau und die Bereitstellung alternativer Energiequellen fehlen in ausreichender Konsequenz. Gas wurde nicht als Brückentechnologie, sondern als billiges Rückfallmittel begriffen. Das war eine mangelnde Konsequenz in einem Land, das über wenige Ressourcen verfügt, aber billige Energie voraussetzt für energieintensive Unternehmen und den Umbau der Industrie. Das ist nicht nachhaltig. Deutschland muss hier nachlegen und die Führungsrolle dieser Transformation übernehmen und beweisen, dass der Umbau auch ohne gesellschaftlichen Verteilungskampf machbar ist. Die zweite Fehlannahme im Geschäftsmodell ist die Ressource „zu billige Arbeit“ mit allen sozialen Folgen und Verarmungsrisiken bis hin zur Gefährdung der resilienten Gesellschaft.
Öffentliche und soziale Sicherheit sind untrennbar miteinander verbunden. Je folgenreicher die Ungleichheit zwischen den Menschen, umso größer ist das Konfliktpotenzial einer Gesellschaft, desto schwächer die äußere Verfasstheit, desto geringer die internationale Attraktivität. Verbessern wir die soziale Lage, gehen auch Konflikte und Kriminalität zurück. Dabei kann nur ein handlungsfähiger, starker Sozialstaat ein freies Leben in Sicherheit garantieren. Der Sozialstaat sorgt für ausreichend Bildungsmöglichkeiten, um gleiche Chancen im Leben zu schaffen. Er unterstützt diejenigen, die sich selbst nicht ausreichend schützen können: beim Wohnen, für gerechte wie faire Arbeit sowie bei der Sicherheit auf der Straße und im Netz.
Demokratien stehen also in mehrfacher Sicht unter Druck. Wir führen den Kampf aber nicht mit militärischen Mitteln. Parallel dazu zeichnete etwa Joseph Nye den westlichen Anspruch als „Soft Power“: Machtausübung findet statt durch die Beeinflussung der Ziele politischer Akteure – ohne militärische Bedrohungen. Wir bestreiten den Konflikt mit der Überlegenheit von Werten und militärische Mittel sind dabei ein Instrument Ultima Ratio. Wir müssen dafür sorgen, dass der Kampf auf unserem demokratischen Feld stattfindet und wir die Regeln der Auseinandersetzung – auch global – definieren.
Die Herausforderung dabei ist, dass antidemokratische Staaten sich nicht an die Direktiven der internationalen Ordnung, dem Völkerrecht oder den Menschenrechten halten und im Falle Russlands und Chinas sogar aktiv an deren Abschaffung arbeiten. Deshalb ist es trotz unserer „Soft Power“ kein Widerspruch, die militärische Wehrfähigkeit der Bundeswehr in der Zeitenwende zu forcieren, denn wir müssen Anerkennen, das autokratische Staaten ihre Nachbarn militärisch dominieren möchten und dafür keine Mittel scheuen. Neutralität bedeutet nicht Moralität und die Seite der Unterdrückten und Minderheiten zu schützen liegt in der Natur der Demokratie selbst. Die strategische Balance bedeutet: Deutschland sollte nicht im Alleingang, sondern in enger Kooperation mit seinen Verbündeten seine Strategie verfolgen um Eskalationsspiralen und Rüstungswettkämpfe zu vermeiden.
Im Kontext multipler Herausforderungen sollte man unser Land und unsere Gesellschaft nicht unterschätzen – das ist keine Drohung. Es ist die Anerkennung, dass wir Deutschen in der Lage sind, einen zentralen Wendepunkt unserer Geschichte selbstbewusst zu gestalten. Dies gilt ebenso für die Transformationsprozesse wie für die Deutsche Einheit oder Willy Brandts Ostpolitik. Es zeigt, dass unsere Gesellschaft nicht darüber zerbrochen ist oder zerbrechen wird, sondern tatsächlich sich zusammenschließt und gemeinsam handelt. Diese Stärke unseres Gemeinwesens darf nicht unterschätzt werden.
Strategische Ansätze
Die Zeitenwende ist die Aussage darüber, dass wir das Lagebild neu einschätzen, denn ein weiter so hilft nicht. Dazu brauchen wir ein ganzheitliches strategisches Vorgehen, dieses kann nur ressortübergreifend aus dem Kanzleramt koordiniert werden. Denn ein strategisches nebeneinander mehrerer ressortspezifischer Strategiepapiere verkennt die multidimensionale Verbundenheit der akuten Herausforderungen unserer Zeit. Das entscheidende Merkmal eines modernen Staates ist dabei Sicherheit zu generieren. Als Sozialdemokrat bedeutet dies für mich ein integrierter Sicherheitsbegriff als Kombination von äußerer, innerer und sozialer Sicherheit.
Das vorausgehend analysierte Lagebild sowie die daraus resultierenden Herausforderungen zeigen klar und deutlich: Deutschland braucht ein ganzheitlich strategisches Vorgehen der Regierung. Dabei geht es nicht nur darum, den Status-Quo zu sichern, sondern um ein Voranschreiten mit mehr Wohlstand, mehr Sicherheit und mehr Freiheit. Denn der Systemkampf ist bereits im vollen Gange und in einer dynamischen vom Wandel getrieben Zeit brauchen wir als freiheitliche Demokratien eine strategische Konstante. Wie stellen wir uns also strategisch auf, dass wir diese Zeitenwende bestehen?
Dafür ist ein Programm nötig, eine Neudefinition der deutschen Rolle in der EU und der Welt. Es ist gemeinsam zu klären, nach welchen Regeln das Zusammenspiel gesellschaftlich aber auch global funktionieren soll, wer dazugehört und wie ein demokratischer Diskurs in einer demokratischen, resilienten Gesellschaft zu führen ist. Die EU ist die größte Versicherung dafür, dass man sich in einer raueren Welt sicherer zusammenschließen kann und als demokratische Staaten eher behaupten kann. Es braucht europäische Regeln und europäisches Recht. Das ist die Herausforderung des Westens für eine resiliente Gesellschaft. Nur durch den Zusammenschluss sind wir jetzt in der Lage, etwa der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen Russland zu unterstützen. Somit ist der Begriff der Zeitenwende zuallererst ein Appell an uns. Der russische Angriffskrieg wird in sozialen Netzwerken als Versagen oder Schwäche westlicher Demokratien umgedeutet. Dem muss die Politik entschieden entgegentreten, denn es ist ein Rückschlag, der das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Staates gefährdet.
Für die demokratische Überlegenheit müssen sie in ihrer Kommunikationsstrategie auch das Augenmerk auf das legen, was Dank Wissenschaft, Forschung und Technik in demokratischen Systemen gelungen ist. So ist es beispielsweise gelungen, Kindersterblichkeit massiv zu senken: Sie hat sich seit 1950 bei Kindern unter fünf Jahren mehr als halbiert. Wir haben Möglichkeiten geschaffen, die Weltbevölkerung weitestgehend zu ernähren. Weiterhin haben wir den Hunger nicht abschließend bekämpft und noch immer sterben Menschen. Doch eine Stärke der Demokratien sollte es sein, ihre Errungenschaften in den Mittelpunkt der Kommunikation zu stellen. Diese Erfolge beweisen einmal mehr, dass das politische System nicht zurückweicht. Es nimmt den Kampf aktiv auf. Deshalb spreche ich von einem Systemkampf: Autokratien wollen keinen Waffenstillstand. Sie wollen dominieren. Sie verlegen den Kampf zusätzlich in den Cyberraum. Diese hybride Kriegsführung mit Angriffen auf die kritische Infrastruktur und Desinformation birgt eine zusätzliche Gefahr, da sie dort schwerer einzuschätzen und greifbar ist.
Wenn wir von der Zeitenwende sprechen, darf die (wirtschaftliche) Transformation unseres Landes keineswegs vernachlässigt, sondern muss mitgedacht werden: Die Transformation von Industrie und Gesellschaft, getrieben von Digitalisierung und Globalisierung. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte dazu gesagt: „Ich bin der festen Überzeugung, dass die Transformation nur gelingen kann, wenn Menschen mitbestimmen, wohin die Reise geht.“ Und weiter: „Und auch der Schwächere etwas zu gewinnen hat.“ Ein ganz zentrales Leitmotiv ist, dass der Mensch in diesem Prozess mitgenommen werden muss. Sein Fortkommen ist das Ziel. Die soziale Sicherheitsfrage muss obere Priorität haben.
In einer Phase der multiplen Krisenlage von Inflation und der Bedrohung von Arbeitsplätzen muss ein Sicherheitsversprechen an den Anfang gestellt werden. Das muss die Grundvoraussetzung sein, damit die Zeitenwende tatsächlich ein langfristiges Programm ist. Es ist die Voraussetzung für Resilienz und Stabilität. Die milliardenschweren Entlastungspakete sind hier wichtige Schritte, um den Menschen unter die Arme zu greifen. Weitere Maßnahmen werden folgen und die Politik bleibt gefordert, insgesamt dynamisch zu agieren.
Klar ist: Ferne, globale Lagen sind allein lokal kaum zu bewältigen. Die Beobachtung der zumeist negativen Ereignisse, Krisen und Herausforderungen lösen Ohnmachtsgefühle aus, da sie ein Einzelner nicht lösen kann. Paradoxerweise muss jeder einen Beitrag leisten, denn globale Ereignisse und lokales Handeln gehören eng zusammen. Der Kampf gegen den globalen Klimawandel etwa ist eine globale Herausforderung, die wir nur gemeinsam angehen und durch persönliche lokale Beiträge lösen können. Hier muss die Kommunikation ansetzen und deutlich machen: Lokales Handeln ist erforderlich, indem etwa das Konsumverhalten angepasst wird, lokal Gebäude nachhaltiger errichtet werden und lokal auf erneuerbare Energien umgestellt wird. Darauf fußt auch die Nachhaltigkeitsstrategie der Vereinten Nationen. Hinzu kommen nationale Vorhaben oder Projekte.
Es ist eine anhaltende Vereinbarung nötig, weil die Idee der „Soft Power“ voraussetzt, dass wir langfristig daran arbeiten. Dazu braucht es offene Räume zur Diskussion. Dieser Text soll einen Beitrag dazu leisten und vor allen Dingen den Zusammenhang herstellen zwischen der Leistungsfähigkeit des Staates, dem dynamischen Umgang mit den aktuellen Herausforderungen, der sozialen Wohlfahrt, der inneren und äußeren Sicherheit und der Zeitenwende als politisches Programm.
Schlusswort Unser demokratisches System ist gefordert wie nie. Doch nur sie ist die Lösung in einer ungewissen Zeit. Bei einem Blick etwa auf China und seinem rasanten Aufstieg könnte es zur falschen Schlussfolgerung kommen, dass es auch ohne Demokratie gehen könnte. Dort gibt es keinen Rechtsstaat, keine freie Meinungsäußerung, keine freien Wahlen. Diese Annahme ist falsch. Das demokratische System muss seine Stärken, Werte und Erfolge spielen. Denn sie sind das Erfolgsrezept für soziale Gerechtigkeit und Wohlstand. Es braucht nicht eine militärische, sondern eine intellektuelle Führungsrolle in der Welt. Unsere intellektuelle Führungsrolle in der Welt ist der militärischen überlegen und darf nicht unterschätzt werden. Diese neue Gruppe führender Gesellschaften muss als Vorreiter Probleme angehen, Konflikte befrieden, Verteilungsgerechtigkeit herstellen und eine starke Kommunikationslinie für demokratische Systeme schaffen.