Es ist schon erstaunlich: In gleich zwei großen Artikeln setzt sich die Wochenzeitung DIE ZEIT mit der Entfesselung radikaler Extremisten und Populisten auseinander – und das unter dem Titelbild einer entschlossen dreinblickenden Alice Weidel (AfD): „Entfesselt radikal“. Doch wer nun auf eine fundierte Analyse der Propaganda der Trumps, Kickls und Weidels hofft, sieht sich enttäuscht. Da wird zum einen von Heinrich Wefing unter der Überschrift „Die Hoffnung wechselt die Seite“ dargelegt, dass in vielen Ländern dieser Erde voller Hoffnung auf die Trump-Administration geblickt wird. Gleichzeitig wird die These vertreten, dass das radikal woke Auftreten der Demokraten in den USA Schuld an der Wiederwahl Trumps sei – so als seien die Wähler:innen Trumps arme Opfer verfehlter Politik der Demokraten. Man fragt sich, was Wefing uns damit signalisieren will … vielleicht die in inzwischen dutzendfachen Variationen vorgebrachte Beruhigungsfloskel: Habt euch nicht so, alles nicht so schlimm? Zum andern scheint Jochen Bittner in seinem Artikel „Die Rechts-links-Schwäche“ dem Narrativ der international organisierten und vernetzten Rechten vom angeblich rot-grün-versifften Mainstream auf den Leim zu gehen. Er meint den „engagierten Demokraten“ einen Balken aus den Augen ziehen zu müssen mit seiner Kernthese: „Denn zu einer ehrlichen Bilanz gehört, dass der furchtlose Ideenaustausch und der intellektuelle Wettbewerb immer stärker verdrängt wurden von vermeintlich einzig wahren progressiven Lehren.“ Ich weiß nicht, in welcher Welt sich Jochen Bittner bewegt. Aber ich gehe einmal davon aus, dass er sich sicher nicht unterstellen lassen möchte, ein angepasster, verängstigter, der Kritik ausweichender Journalist zu sein. Des Weiteren gehe ich davon aus, dass er als kritischer Journalist es nicht nur ertragen kann, sondern auch für erforderlich hält, Widerspruch zu erfahren – und nicht jeden sog. Shitstorm als unanständigen, den Meinungskorridor einschränkenden Angriff empfindet. Geradezu entlarvend mutet die Zeichnung über seinen Artikel an: eine als Pistole geformte Hand, deren rot gefärbter Zeigefinger den Schusslauf abbilden soll; darunter die Zeile: „Und raus bist du: Wer nicht nach linker Doktrin lebt, denkt und handelt, ist kein guter Mensch?“ Was soll diese Reminiszens an seit Jahren ständig wiederholter Propaganda angeblich eingeschränkter Meinungsfreiheit – die vor allem von Leuten permanent wiederholt wird, die nicht nur frei ihre Meinung äußern können, sondern auch denen den Weg bereiten, die den Freiraum für die Verbreitung von Lügen schaffen wollen?
Beide Artikel sind ein durchaus erschreckendes Beispiel dafür, wie schnell sich auch Journalisten einer angesehenen Zeitung beeinflussen lassen von durch Wahlen und Umfragen festgestellten Stimmungen in der Bevölkerung – und das nur ein Jahr nach dem millionenfachen Aufschrei vieler Menschen angesichts der unverhohlenen Absicht rechtsradikaler Kreise, an allen Grundrechten vorbei Deutschland/Europa von Migrant:innen zu säubern. Da kann es nicht verwundern, dass in den Artikeln mit keinem Wort kritisch reflektiert wird, warum gerade die Ampel-Parteien nach den Demonstrationen im Januar und Februar 2024 nicht den Impuls zur Stärkung der repräsentativen Demokratie aufgegriffen und politisch umgesetzt haben. Ich frage mich, warum werden in beiden Artikeln null Überlegungen darüber angestellt, wie es gelingen kann, Menschen von dem grundsätzlichen Vorteil demokratischer Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft zu überzeugen? Warum kein Kopfzerbrechen darüber, wie es sein kann, dass Dauerlügen, menschenunwürdiges Niedermachen des politischen Gegners, unverhohlene Rechtfertigung von Gewalt, rassistische Rhetorik und Anzettelung eines Staatsstreiches am 6. Januar 2021 unter Bürger:innen so viel Zustimmung finden können? Sehen Bittner und Wefing in AfD-Wähler:innen nur unmündige Trottel, die leider gezwungen sind, sich den Metzgern der Demokratie und der Menschenwürde auszuliefern? Oder wächst sich inzwischen nicht zu einem riesigen Problem aus, dass A-Moralität gepredigt wird, um menschenwürdige Maßstäbe aus dem politischen Raum zu verbannen? Warum also wird vor der Gefahr gewarnt, „Moralvorstellungen absolut zu setzen“, wo doch das eigentliche Problem ist, dass die radikale Entfesselung rechtsextremer Politik jegliche, die menschliche Hybris steuernde Moralvorstellungen systematisch zerstört? Das Problem ist doch nicht, dass diejenigen, die das umstrittene Selbstbestimmungsgesetz verteidigen, sich dabei „Schmähbegriffe“ bedienen. Das Problem ist, dass inzwischen viele Bürger:innen in einer demokratischen Partei, die wie die CDU gegen das Selbstbestimmungsgesetz ist, keine Alternative mehr sehen.
Für mich ist nur schwer nachzuvollziehen, dass eine Wochenzeitung wie DIE ZEIT eine solche Wende vollziehen kann. Polemisch gesagt: Auf Gott sei Dank noch niedrigem Niveau, aber von der Struktur ganz ähnlich, scheint sich auch in Hamburger Redaktionsstuben etwas abzuspielen, was mit unvergleichbarer Wucht von Musk, Zuckerberg, Bezos in ihren Meinungskonzernen und Zeitungen derzeit vollzogen wird. Deren Bücklinge vor Donald J. Trump, der – im vollen Wissen darum, dass er ein proletenhafter Dauerlügner, ein Putsch-Initiator und verurteilter Straftäter, ein Rassist, ein raff- und rachsüchtiger Abzocker, ein Verachter der Menschenwürde und des demokratischen Rechtsstaates ist, von der Mehrheit der Wähler:innen zum 47. Präsidenten der USA gewählt wurde, offenbaren in atemberaubender Weise, wie ein autoritär-demokratiefeindlicher Mainstream einer Gesellschaft brutal implementiert werden kann. Grundwerte eines menschlichen, demokratischen Zusammenlebens werden systematisch abgeräumt. Dafür wird von Mark Zuckerberg „maskuline Energie“ beschworen und die „Aggression“ als wesentliches Element der neuen Firmenkultur eingeklagt. Das nun wieder schönzureden als schier unausweisliche Konsequenz angeblich linker, woker Ideologie, ist mehr als lächerlich. So wird leider mit beiden Artikel in der aktuellen Ausgabe der ZEIT kein Balken aus den Augen der Leser:innen gezogen, sondern ein klarer Blick auf die Gefahren des rechtsextremen Autokratismus und seiner Claqueure vernebelt. Hoffentlich regt sich auch in der ZEIT-Redaktion kräftiger Widerspruch gegen diese ZEITenWENDE.