In einem Gespräch mit dem Journalisten Martin Kessler habe ich im Frühjahr 2023 die weltpolitischen Handlungsmöglichkeiten Deutschlands und damit Europas zu erfassen gesucht. Es wurde unter der Überschrift „Die Probleme der Welt sind lösbar“ in der von Wolfgang Roters, Horst Gräf und Hellmut Wollmann herausgegeben 2. Auflage des Buches „Zukunft denken und verantworten“ veröffentlicht. Diese Handlungsmöglichkeiten sind jetzt mit dem Kenntnisstand vom November 2024 – Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA, Ende der SPD-geführten Koalition in der BRD – präzisiert, aktualisiert und dabei auch erweitert. Dabei sind die Fragen Kesslers unverändert geblieben.
Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, verbunden mit seinen vielfach vermittelten Vorstellungen zu Demokratie und zu Sicherheit in Europa, haben die Sicht vieler auf die weltpolitischen Handlungsmöglichkeiten Europas erschüttert. Die damit verbunden Probleme und Realitäten waren schon vorher erkennbar, wenn nicht zu hinterfragendes Welt- und Geschichtsverständnis und provinzielle europäische Überheblichkeit dem im Wege stehen. Dabei sind realistische Handlungsmöglichkeiten durchaus umsetzbar.
Anfang 2020 gaben Sie in einem Interview einen optimistischen Ausblick auf das Weltgeschehen. Nach der hartnäckigen Corona-Pandemie und dem brutalen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine mitten in Europa – korrigieren Sie Ihren zuversichtlichen Ausblick?
Wenn die Probleme der Welt und dabei Europas aus einer nachhaltigen und nicht aktuell oder ideologisch verzerrten Perspektive betrachtet werden, sind sie lösbar. Dabei ist zu sehen, dass die Weltbevölkerung 2050 zehn Milliarden Menschen betragen wird. Der Rückblick auf die Corona-Pandemie macht, hoffentlich mit Lerneffekten, die Vielfalt wissenschaftlicher Erkenntnisse deutlich, vor allem, wenn sie auf soziales Handeln stoßen.
Die größten Herausforderungen sind der Klimawandel und der Krieg Russlands in der Ukraine. Dabei ist der Klimawandel trotz all seiner die Natur und dabei Lebensräume von Menschen schädigenden Folgen beherrschbar. Den Angriff Russlands auf die Ukraine hätte ich dagegen nicht für möglich gehalten. Er ist ein Rückfall in die nationalistische Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts. Kreml-Chef Wladimir Putin mag, wie seine nähere Umgebung, aus dem Geheimdienst stammen, oligarchisch-mafiotische Wirtschaftsstrukturen den Krieg finanzieren, er ein spezifisch russisches Geschichtsbild haben. Das alles erklärt nicht die Grundlage von Putins aggressiver Politik. Es ist seine Verfügung über Atomwaffen. Sie ist geschichtlich zurückzuführen auf europäische Wissenschaftler, die aus Furcht vor dem faschistischen Deutschland, der USA erklärt haben, wie Atomwaffen konstruiert werden können. Bei der internationalen Vernetzung der Physikwissenschaftler erreichten diese Erklärungen bald auch die Sowjetunion, die sie bei dafür ausreichender Wirtschaftsstärke anwenden konnte. Die damit nach dem Einsatz von Atombomben 1945 in Japan entstandene Abschreckungsmacht der USA wie Russlands verhindert letztlich, dass diesen Staaten etwas aufgezwungen werden kann, was sie nicht wollen. Diese Abschreckungsmöglichkeiten lassen sich nur für die USA und Russland gleichzeitig beseitigen oder auch nur einschränken.
Der Politikwissenschaftler Peter Neumann fürchtet, dass sich der Westen selbst zerstören könnte. Eine seiner Zahlen erschreckt. Danach haben nur 6,4 % der rund 200 Länder der Erde eine voll funktionsfähige Demokratie. Sind die Demokraten gescheitert?
Dieses Zitat Neumanns, in seinem Buch von 2023 „Die neue Weltunordnung. Wie sich der Westen selbst zerstört“ bezieht sich auf den Democracy Index, der im The Economist veröffentlicht wird. Nach diesem Index sind 59 Staaten autoritäre Regime, und 87 fehlerhafte Demokratien bzw. hybride Regime. Nur 21 Staaten sind „Full Democracies“. Das sind weniger als die EU Mitglieder hat, was schon allein diese Abgrenzung fragwürdig macht. Neumann stellt dem Democracy Index von 2021 die Konstituierung der „Gemeinschaft von Demokratien“, initiiert von Präsident Clinton, im Jahr 2000 gegenüber, 106 Staaten beteiligten sich daran.
Weltweite Demokratien zu erfassen, kann nicht auf „westliche“ Indikatoren gestützt werden. Zu beurteilen sind Staaten wie Brasilien und vor allem Indien, der bevölkerungsreichste Staat der Welt, mit 16 % der Weltbevölkerung. Erlaubt ist menschenrechtliche und demokratische Kritik an Verhältnissen und Vorgängen dort. Aber angesichts der sozioökonomischen Probleme, denen sich dieser Staat gegenübersieht, halte ich ihn für eine bemerkenswerte Demokratie. In einzelnen Bundesstaaten Indiens sind nicht nur die großen Parteien, Modis Bharatiya Janata Party und die sozialdemokratische Kongresspartei Nehrus und Indira Ghandis relevant, im sozialökonomisch gut entwickelten Kerala hat auch die marxistische Communist Party of India regiert, dazu gibt es dort als muslimische Regionalpartei die Indian Union Muslim League.
Nach seiner Zeit als Entwicklungsminister hat Egon Bahr 1996 in „Zu meiner Zeit“ geschrieben: „Die globalen Probleme drängen unabhängig davon, ob Staaten demokratisch regiert sind. Wenn wir Entwicklungshilfe an die Bedingung etablierter Demokratie geknüpft hätten, wären wir rund 80 Prozent unserer Kunden losgewesen. Denen zu helfen, die sich an demokratischen Staaten ausrichten wollen, ist selbstverständlich; doch Versuche, unsere gesellschaftlichen Vorstellungen zu exportieren, sind abzulehnen. (…) Man kann bezweifeln, ob Demokratie der beste Weg für Völker und von Staaten ist, die erst eine Nation werden wollen und ihre ganz anders gewachsene Tradition nicht brechen dürfen, wenn schwere Erschütterungen vermieden werden sollen. Was unserer Überzeugung nach die beste, wenngleich immer noch zu verbessernde Regierungsform ist, erweist sich als Ideologie vor dem Hintergrund globaler Probleme, die sich objektiv stellen und nicht warten können, bis die Welt, genauer die Mehrheit der Staaten, demokratisch geworden ist.“ Diese Auffassung war für die 1970er Jahre richtig, sie gilt auch für das 21. Jahrhundert.
Der US-Politologe Francis Fukuyama hat erwartet, dass sich liberale Demokratie und Marktwirtschaft überall auf der Welt durchsetzen. Es sprach vom „Ende der Geschichte“. Man hat manchmal den Eindruck, das Gegenteil ist eingetreten.
Die Annahme, die Geschichte sei zu Ende und die ganze Welt würde sich in eine liberale Demokratie mit Marktwirtschaft verwandeln, halte ich für Ideologie. Die Prognose konnte nicht eintreten, sie unterstellt, das Wirtschaftssystem der USA, verbunden mit deren Interessen, würde sich global durchsetzen.
Fukuyama hat sehr gründlich studiert, wie Demokratien funktionieren.
Der indische Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen hat die Vorzüge von Demokratie, insbesondere mit Blick auf sozialökonomisch weniger entwickelte Staaten, besser erfasst. In seinem Buch von 2003 „Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft“ schreibt er „In keinem unabhängigen Land mit einer relativ freien Presse hat jemals eine Hungersnot gewütet.“
Aber in Ländern wie China oder Russland hungert auch niemand. Doch von einer Demokratie sind die meilenweit entfernt.
Sen behauptet nicht, dass die Überwindung von Hungersnot zur Demokratie führen muss, aber in den bis heute nicht-demokratischen Systemen Russlands und Chinas hat es Hungersnöte gegeben – in China zwischen 1958 und 1961, in der von der KPdSU beherrschten Ukraine in den 1940er Jahren.
Wie sehen Sie die Entwicklung in diesen beiden großen Staaten?
In China gibt es seit den 1990er Jahren ein kontinuierlich hohes Wirtschaftswachstum, extreme Armut ist überwunden. Neumann schreibt: „Zu keinem Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte haben sich die Lebenschancen für so viele Menschen so schnell so positiv entwickelt wie in den letzten zwei Jahrzehnten in China.“
Mit seiner Bevölkerung von 1,4 Milliarden ist es zur größten Wirtschaftsmacht nach den USA geworden. Gegenüber vielen Staaten betreibt es aggressive Politik. Es ist ein autoritärer Staat ohne politisch relevante Freiheiten. Internationale Verträge, wie das Abkommen zu Honkong mit Großbritannien, hält es nicht ein. Seine militärische Stärke basiert auch auf dem Besitz von Atomwaffen. Die Größe seines Marktes ist es für Deutschland als Exportstaat von hoher Bedeutung, zu Importzwängen führte die Vielfalt seiner Rohstoffe. Die EU mit Deutschland muss sich um gegenseitig akzeptable Handelsverträge und Investitionsmöglichkeiten mit China bemühen.
Und wie geht es in Russland weiter?
Die Größe Russlands besteht in seinem Territorium, die Bevölkerungszahl mit 145 Millionen liegt weit hinter der der EU zurück. Bei Prognosen zu seiner politischen Entwicklung ist größte Vorsicht geboten. Eine breite demokratische Bürgerbewegung zum Sturze Putins wird es nicht geben, wie das in der stalinistischen Sowjetunion und im faschistischen Deutschland nicht möglich war. Möglich ist aber, dass „Reformer“ aus dem derzeitigen Herrschaftssystem heraus Änderungen schaffen, das Beispiel ist Michail Gorbatschow. Er ist im kommunistischen System der UdSSR aufgewachsen, hat dort Karriere gemacht, aber gesehen, dass das sowjetische System, auch wegen wirtschaftlicher Defizite, reformiert werden muss. Ohne seine politischen Reformen wären der Fall der Mauer und die deutsche Vereinigung nicht möglich gewesen. Die DDR-Sicherheitskräfte hätten die Demonstranten in Leipzig im Oktober 1989 zusammengeschossen, wenn nicht Gorbatschow, sondern ein kommunistischer Hardliner in Moskau geherrscht hätte.
Mit Putin sitzt nun wieder ein Hardliner an der Spitze des Kremls. Hat Deutschland, und gerade auch Ihre Partei, die SPD, den russischen Präsidenten falsch eingeschätzt, obwohl er schon früh Menschenrechte missachtet und brutale Kriege geführt hat?
Diese Frage betrifft zunächst die Russland-Politik der SPD seit den 1960er Jahren. Die Generation von Sozialdemokraten, die zum Teil noch als Soldaten an der Ostfront gekämpft haben, mit der Lebenserfahrung des Krieges, waren friedliche Beziehungen zu Russland – und zu allen osteuropäischen Staaten – eine politische Herausforderung. Für zum und unmittelbar nach Weltkriegsende Geborene war es die starre Frontstellung zwischen Ost und West, die zu einer entsprechenden Haltung geführt hat. Diese Herausforderung und diese Grundhaltungen haben zur Russland-Politik der SPD seit Egon Bahr und Willy Brandt geführt. Sie war ein grandioser historischer Erfolg mit der Vereinigung Deutschlands und als Beitrag zur Überwindung kommunistischer Herrschaft in den osteuropäischen Staaten. Es gab zunächst keinen Grund mit Russland nach Zusammenbruch der Sowjetunion, vollzogen von Jelzin, nicht weiter friedlich zusammenzuarbeiten.
Das erklärt aber nicht, dass mehr Vorsicht angebracht gewesen wäre, als die Beziehungen sich rapide verschlechterten. Muss sich das die SPD vorwerfen lassen?
Nach 1990 war erkennbar, dass Russland, bei großer Armut in der Bevölkerung, seine wirtschaftliche Entwicklung fast nur auf Energieexporten aufbauen konnte. Nur durch die Energie-Milliarden konnte Russland Technologien kaufen. Wenn Deutschland kein russisches Gas mehr bezöge, könnte der russische Konzern Gazprom große Probleme bekommen. Auch Kanzler Gerhard Schröder sah das so. Handel zwischen Deutschland und Russland war deshalb in beiderseitigem Interesse, keiner der beiden Staaten sollte aussteigen können, ohne eigene wirtschaftliche Verluste.
Diese Annahme schätzte die globalen Verflechtungen Russlands, seine weltweiten Absatzmöglichkeiten falsch ein, ein Beispiel provinzieller Überheblichkeit in Europa, in den meisten Staaten, in Deutschland überparteilich. Ende der Regierung Schröder stammten 30 Prozent des deutschen Gasverbrauchs aus russischen Quellen, am Ende der Regierung Merkel waren es mehr als 50 Prozent.
Die wirtschaftlichen Folgen der nicht früh genug erkannten Abhängigkeit Deutschlands von den Gasimporten aus Russland wirkten mit unterschiedlicher zeitlicher Dauer. Für Deutschland wurden immer Gasimport-Alternativen gesehen, so aus Algerien. Es war und ist nur die Frage, wie schnell sie genutzt werden können. 2022 entstanden gravierende energiewirtschaftliche Probleme. Aber schon nach drei Jahren sind sie weitgehend überwunden, auch durch Gasimporte über den Atlantik aus den USA.
Die Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990 stellt sehr abwägend Bastian Matteo Scianna in seinem Buch von 2024 „Sonderzug nach Moskau“ dar. Zusammenfassend stellt er fest: „Die deutsche Russlandpolitik unter Kohl, Schröder und Merkel bewegte sich im Mainstream der Gesellschaft, sie folgte deutschen Interessen mit unterschiedlichen Prioritäten, die die jeweiligen Kanzler bzw. die Kanzlerin setzen. Keineswegs war Naivität die Mutter der Porzellankiste. Kohl und Merkel haben sich nie Illusionen hinsichtlich der kurz- und mittelfristigen Entwicklung Russlands hingegeben. Man verfolgte deutsche und teils europäische Interessen, ohne jedoch eine Abschreckungs- oder Eindämmungspolitik gegenüber einem immer aggressiver auftretenden Russland ins Kalkül einzubeziehen.“
Die besondere Kritik an der SPD bezieht sich vor allem auf Gerhard Schröder. Zu dessen Motiven schreib Scianna: Er „wollte Machtzentren ausbalancieren, eigene Interessen deutlicher verfolgen und hierzu multi- und bilaterale Pfade nutzen– auch im Umgang mit Russland. Dort rannte er mit dem Schlagwort „Multipolarität“ offene Türen ein. Dies zeigte sich exemplarisch in der Irak Krise 2002/03. Die Erfahrung, gemeinsam den USA die Stirn geboten zu haben stärkte das Band zwischen dem Kanzleramt und dem Kreml.“ Folge war „die Dankbarkeit Schröders gegenüber Putin für den Schulterschluss gegen Bushs Irak- Invasion.“ Dass Deutschland sich nicht an der Irak-Invasion der USA beteiligte, die die politischen Verhältnisse dort nicht verbesserte, ist inzwischen weitgehend unbestritten. Eine sicherheitspolitische Unabhängigkeit Europas von den USA wird spätestens seit der ersten Präsidentschaft Trumps diskutiert.
Ab wann war klar, dass dieses Modell nicht mehr trägt?
Die wirtschaftliche Bedeutung der Beziehungen zwischen Russland und Deutschland wurde von der weltpolitischen Entwicklung überlagert. Mit der Annexion der Krim hat Putin eine völkerrechtliche Linie überschritten, was demokratische Staaten in Europa sicherheitspolitisch nicht hinnehmen konnten. Deshalb gab es Verhandlungen im Normandie-Format mit Russland und der Ukraine. Es verhandelten Deutschland und Frankreich, damit versuchte Europa seine Sicherheits-Probleme ohne die USA zu lösen. Dabei war auch nach der Krim-Annexion ein Angriff Putins auf die Ukraine wenig vorstellbar. Die Verhandlungen aber hatten keinen Erfolg. Für die SPD bedeutet dies, dass eine erfolgreiche Politik von den 1960er bis in die 2010er Jahre, ein Beitrag zu mehr als 50 Jahren Frieden in Deutschland, nicht mehr der internationalen Politik Russlands entsprach. Nach dem Ersten Weltkrieg währt der Frieden nur 20 Jahre, 1918–1939, nach der Niederlage Napoleons, zwischen 1814–1864, dauerte er nicht länger als 50 Jahre.
Sehen Sie irgendeine Möglichkeit, den Krieg zu beenden?
Fast immer enden Kriege durch Abnutzungserscheinungen, das gilt auch für Russland.
Eine solche Erscheinung sind sie sozialökonomischen Folgen, vor allem Preissteigerungen, für die Mehrheit der russischen Bevölkerung.
Ein Sieg der Ukraine ist wegen der territorialen Größe Russland und seiner Verfügung über Atomwaffen nicht möglich. Es wird zu von Staaten außerhalb Europas vermittelten Verhandlungen kommen, die zur Berücksichtigung russischer und europäischer Interessen, zu denen die ukrainischen gehören, kommen. Die Auffassung, es gäbe Lösungen, die zu immerwährendem Frieden führen, ist, wie gerade gezeigt, geschichtliche Ignoranz. Jegliche Lösung für absehbare Zeit, auch Waffenstillstand, ist zu rechtfertigen, weil dann keine Toten mehr beklagt und die Zerstörung von Städten und Infrastruktur nicht mehr hingenommen werden müssen.
Bei allen absehbaren Verhandlungen mit Putins Russland ist seine menschenrechtswidrige Politik mit der Ermordung und langjährigen Inhaftierung von Regimegegnern und mit der Kriegsführung gegen Zivilisten für Europa ein Grund zur Distanzierung. Für das Russland-Vokabular bedeutet das, Putin „verstehen“ ist nicht sein „Freund“ sein, so wenig wie mit ihm zu verhandeln.
Kriegsbeendigungslösungen müssen dann in eine neue europäische Sicherheitsordnung eingebunden werden. Sie ist bereits seit Trumps „America First“-Politik zwischen 2017 und 2020 erforderlich. Dazu gehört, dass Europa über Atomwaffen verfügt, es eine europäische nukleare Abschreckungsfähigkeit gibt. Sie kann innerhalb der NATO, aber wenn nötig auch ohne die USA wirksam sein.
Überlegungen dazu hat Eckard Lübkemeier angestellt in SWP-Studien vom September 2020 und Februar 2024, hier schreibt er:
„Europa sollte wie die USA in der Lage sein sich ohne den Beistand der anderen schützen zu können.“ Dabei stellt sich die Frage „nach nuklearer Abschreckung“, Bei weiterer europäischer Integration „könnte sich eine neue Form des nuklearen Schutzes herausbilden.“ Dieser Ansatz wäre zu ermöglichen, durch „eine französische nukleare Abschreckung für Europa, die sich auch ohne eine Aufstockung erreichen ließe.“ Bislang wird „ein französischer Nuklearschutz für eine europäische Selbstverteidigung weder angeboten noch nachgefragt“. Der zeitgeschichtliche Zusammenhang besteht darin, dass die von de Gaulle begonnene Politik der partiellen Unabhängigkeit von den USA in Deutschland nicht aufgenommen wurde. Jetzt wäre eine entsprechende Initiative von Deutschland und Frankreich möglich, sie „könnte Nucleus und Katalysator einer europäischen Selbstverteidigungsunion sein.“ Entscheidungen Deutschlands über den Einsatz von Atomwaffen sind dabei auszuschließen, sie wären auch wegen fehlender atomtechnologischer Kenntnisse nicht möglich. „Eine wünschenswerte Beteiligung der Nuklearmacht Großbritannien würde nicht zwangsläufig einen EU-Wiedereintritt (…), wohl aber ein bestimmtes Maß an Wiederannäherung und Wiederverflechtung mit der EU erfordern.“
Diese Überlegungen sind mit den bestehenden atomaren Fähigkeiten abzugleichen. An einsetzbaren Atomsprengsätzen verfügen die USA über 1.770, Russland über 1.710, Frankreich und Großbritannien zusammen über 400. Diese 400 Atomsprengsätze in Europa genügen, um Russland atomar abzuschrecken.
Überlegungen zur europäischen nuklearen Abschreckungsfähigkeit gehören in den Zusammenhang mit den konventionellen militärischen Fähigkeiten und mit der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Dazu hat Simon Weiß im November 2024 in dem von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebenen IPG-Journal dargelegt:
Russlands Verteidigungsausgaben sind in den letzten 15 Jahren stark gestiegen Sie wuchsen auf 74,8 Milliarden im Jahr 2023 an und sollen 2024 auf etwa 140 Milliarden verdoppelt werden. Die europäischen NATO-Staaten geben im gleichen Zeitraum jedoch über 400 Milliarden US-Dollar jährlich aus. Europa wird 2024 und 2025 weiterhin deutlich mehr Geld für Anschaffungen, Übungen sowie Forschung und Entwicklung bereitstellen als Russland.
Die russische Armee ist in den vergangenen 15 Jahren um etwa sieben Prozent gewachsen und umfasst heute und 1,1 Millionen Menschen. In den kommenden Jahren soll sich auf 1,5 Millionen wachsen. In der Tat sank bei allen europäischen NATO-Verbündeten zusammen die Truppenstärke im gleichen Zeitraum um etwa 28 % und lag 2023 bei rund
1,89 Millionen, das sind weiter mehr als die russische. So wäre eine Invasion Russlands mit Landstreitkräften in EU-Staaten, bei gemeinsamer Abwehr der europäischer NATO-Staaten, schwerlich erfolgreich.
Die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland ist mit einer europäischen nuklearen Abschreckungsfähigkeit kaum erklärbar, wenn sich die USA zurücknehmen wollen, auch nicht absehbar.
Kann ein Atomkrieg in jedem Fall vermieden werden?
Ob ein Atomkrieg in jedem Fall vermieden werden kann, ist die alles überragende Frage der Menschheit. Er muss vermieden werden. Die Menschheit muss allerdings immer mit der Tatsache leben, dass es die Fähigkeit zur Konstruktion und zum Einsatz von Atomwaffen gibt.
Über die je gegenseitige Kontrolle können nicht allein die USA und die EU mit Russland verhandeln. Dazu müssen auch die Atommächte China und Indien eingebunden werden. Die bisherigen fünf Atommächte USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich reichen jedenfalls nicht aus, um zu dauerhaften Lösungen zu kommen. Allerdings gibt es gegenwärtig kaum entsprechende Verhandlungen, China entzieht sich bisher vollständig.
Wird nicht der Dualismus zwischen den USA und China die Zukunft bestimmen?
Das ist eine anmaßende Vorstellung der USA. Sie haben die privilegierte Position, in ihrer Hemisphäre nicht herausgefordert zu sein. In Nord- und Südamerika gibt es als Weltmacht nur die USA. Deshalb überschätzen sie sich. In Asien gibt es mit Indien und China zwei Staaten, die jeder fünfmal so viele Einwohner hat wie die USA, beide besitzen Atomwaffen. Sicherheitspolitisch werden sie sich gegenseitig in Schach halten. Darauf muss eine neue globale Sicherheitsordnung aufbauen.
Welche Rolle spielt künftig Europa?
Europa wird sein System der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, der fortgeschrittenen Wissenschaft und Technologie, seinen Lebensstil und seinen Wohlstand nur halten können, wenn es sich zurücknimmt, sich als Schweiz im Weltmaßstab versteht.
Die Schweiz ist multinational, multikulturell, multisprachlich, föderal, Sitz weltpolitischer Institutionen, hat einen Ausländeranteil von 25 % in seiner Bevölkerung und ist sozialökonomisch wohlhabend. Diese Indikatoren sollten Perspektiven der weiteren Integration der EU sein.
Damit kann sich die Schweiz und sollte sich Europa aus Großmachtkonflikten in der Welt heraushalten.
Das müssen Sie genauer erklären.
Globalpolitische Zurückhaltung bedeutet, dass sich die Europäische Union in ihrer Außenpolitik auf die Beziehungen und Konflikte mit ihren Nachbarregionen konzentriert. Deutsche Militärschiffe im Indischen und Pazifischen Ozean sind pseudogrößenwahnsinniges sicherheitspolitisches Handeln, veranlasst durch das Verhältnis zu den USA, diese bei ihrer Politik gegenüber China zu unterstützen als Ausgleich für den Schutz Europas.
Die 500 Millionen Menschen Europas in einer Welt von bald zehn Milliarden sind ein kleiner Faktor, 4 %. Diese Erkenntnis hat sich in Brüssel, Paris, Berlin bei den außenpolitischen Eliten noch nicht richtig durchgesetzt. Sich von Konflikten der Großmächte fernzuhalten, bedeutet allerdings gerade nicht Rückzug aus den Vereinten Nationen, aus globaler Menschenrechtspolitik, aus Entwicklungszusammenarbeit. Und es ermöglicht eine erfolgreichere Politik gegenüber Russland und gegenüber den südlichen und östlichen Mittelemeerstaaten.
Neumann hält es für erforderlich, dass „westliche Eliten endlich akzeptieren, dass nicht alle Gesellschaften so denken oder so sein wollen wie der Westen. Religion, Nationalismus und ethnische Identität bestimmen die politischen Präferenzen– und das Handeln– vieler Menschen mindestens genauso stark wie das Streben nach einem liberalen Regierungssystem. Dass es im Westen schwerfällt, diese vermeintlich archaischen Kräfte zu verstehen, hat es seinen Gegnern leichter gemacht sie für ihre eigenen Zwecke zu mobilisieren. Ein weiterer Faktor ist, dass der Westen im Rest der Welt meist nicht als so uneigennützig gesehen wird, wie es westliche Politikeliten tun. Besonders im Nahen Osten und in Afrika wurden westliche Intervention oftmals nicht als Wohltat, sondern als Auslöser von Chaos und sogar Unterdrückung erlebt.“
Neumann bezieht diese Feststellungen auf den Westen. Was sie für die USA bedeuten, mag dahingestellt bleiben, für Europa sind sie zwingend.
Die USA haben 300 Millionen Menschen, also 3 % und sind die Nummer eins der Welt. Wie passt das?
Dieser Einwand ist berechtigt. Gründe sind die übergroßen militärischen und Geheimdienstfähigkeiten, atomare Abschreckung und die Hegemonie auf dem amerikanischen Kontinent. Die USA können ihre Weltmachtstellung kontinuierlich nutzen – im Unterschied zu Europa. America First signalisiert allerdings, dass wohl auch in den USA eine Überforderung besteht.
Das alternative Modell wäre, die demokratischen Länder des Westens mit den USA an der Spitze schließen sich noch enger zusammen. Sind nicht die gemeinsamen Werte entscheidend?
Diesem Modell entsprechen die G7-Staaten. Das hat den Handelskonflikt der auch seit Ende 2022 zwischen den USA und Europa stattfindet, nicht verhindert.
Aber es gibt doch ein Wertebündnis zwischen den USA, Japan und Europa?
Als gemeinsame westliche Werte lassen sich politische Systeme mit Wahlen und Rechtsstaatlichkeit verstehen. Dabei ist die Realität der Rechtsstaatlichkeit kritisch umstritten, so die Auffassungen des Europäischen Gerichtshofes bezüglich Polens und Ungarns, die Beurteilung des Verfassungsgerichts der USA.
Die längere und kürzere geschichtliche Einordnung dieser Werte ist allerdings komplex kritisch. Diese Werte gehen auf die Menschenrechtsklärungen in den USA und Frankreich zurück, vorlaufend auch auf die Bill of Rights von 1689 in Großbritannien. Deren Umsetzung war allerding mit dem Genozid an den Indigenen in Nordamerika und mit dem Sklavenhandel verbunden. Beim Kolonialismus gab es übrigens keinen Unterschied zwischen England und Frankreich wie dem, angeblich verspätetet westorientierten, Deutschland.
Bei der zeitgeschichtlichen Realität gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den USA, mit Todesstrafe und exzessivem Waffenrecht, und den europäischen Staaten.
Dazu kommen die Weltpolitik und die Funktion der UN. Die UN sind eine „Erfindung“ der drei mächtigsten Männer des Jahres 1944, des US-Präsidenten Roosevelt, des Sowjet-Herrschers Stalin und des britischen Premiers Churchill. Sie haben die Menschenrechte in der UN-Charta niedergelegt. Aber sie haben aber auch vereinbart, die Charta der UN jederzeit brechen zu können, wenn es um ihre weltweiten Interessen geht – mittels ihres Vetorechts im UN-Sicherheitsrat. Wegen dieses Vetos funktioniert die UNO seit ihrer Gründung unvollkommen. Auf dieser völkerrechtlichen Grundlage verhalten sich die USA und Russland in der Nachfolge der Sowjetunion imperialistisch, zumindest interventionistisch, ohne Mandat der UN. In Afghanistan sind dabei zuerst die Sowjetunion und dann die USA tragisch gescheitert. Diese machtpolitische Gemeinsamkeit der USA mit der Sowjetunion relativiert das Wertebündnis. Europa sollte sich in der UNO engagieren, wo Aufgaben nicht durch die Vetomächte verhindert werden.
Auch in der konkreten Menschenrechtspolitik unterscheiden sich die USA und Europa. Den USA geht es vor allem um Glaubens- und Redefreiheit weltweit, Europa auch um Freiheit von Hunger und (kriegerischer) Not – zusammen sind das die vier Freiheiten Roosevelts. Die USA haben bei ihren militärischen Aktionen die Menschenrechte wenig bis gar nicht geachtet – zuerst in Vietnam und in Laos. Zuletzt hat sich das in Afghanistan gezeigt und nicht unerheblich dazu beigetragen, dass die radikalislamischen Taliban sich durchsetzen konnten.
Warum berufen sich die Europäer und die Amerikaner dann immer wieder auf diese gemeinsamen Werte? Sind sie nicht konstitutiv für unser Bündnis?
Wesentlich ist das Bündnis, die Werte sind eine zusätzliche Begründung, nicht die Substanz – die NATO-Mitgliedschaft der Türkei zeigt das deutlich.
In der gesellschaftlichen Lebenswelt werden die Werte in den USA von einer politisch interessierten Oberschicht geteilt. Ob das auch die Mehrheit der Bevölkerung dort tut, ist fraglich, wie die Wahl Trumps zeigt.
Reden wir über Europa. Muss Deutschland dort eine Führungsrolle einnehmen, wie der SPD Vorsitzende Klingbeil unlängst gefordert hat?
Ökonomisch geht in der Europäischen Union wenig ohne Deutschland. Das ist unbestritten. Den Anspruch zu erheben, dass Deutschland die EU führen soll, schadet Europa.
Was ist dann die Rolle Deutschlands in der EU?
Deutschland muss sein Gewicht für vernünftige Lösungen und Kompromisse einbringen, die allen nützen. Es darf nicht seine Interessen möglichst in Reinform durchsetzen. Wenn ein deutscher Kanzler oder eine Kanzlerin lange genug im Amt sind, orientieren sich die anderen Regierungschefs wie selbstverständlich an dieser Person. Der frühere schwedische Ministerpräsident Persson, ein Sozialdemokrat, hat mir einmal gesagt, dass die Europäer in Helmut Kohl, einem Christdemokraten, ihre Leitfigur sahen. Für Angela Merkel galt das nach Jahren wohl auch. Sie hatte es in ihrer Amtszeit wohl mit 200 wechselnden Regierungschefs aus der EU zu tun, die kamen und gingen. Dauerhaft sollte gelten, wenn Deutschland seine Möglichkeiten gemeinsam mit Frankreich und Polen, also im Weimarer Dreieck, einsetzt, wäre das besonders effektiv.
Das führt zu den außenpolitischen Aufgaben Deutschlands und damit Europas, wie schon aufgezeigt gegenüber Russland, und dann gegenüber den südlichen und östlichen Mittelemeerstaaten. Zusammenarbeit mit diesen ist nicht zu trennen von illegaler Migration
nach Europa, Kriege sind deren wesentliche Ursache. Die Beziehungen Deutschlands zu Israel sind dabei ein besonderes Problem. Der Staatsraison muss Völkerrecht vorgehen. Es sollte Israel vermittelt werden, dass dauerhafte Unterdrückung der Palästinenser in Deutschland schadet, vermehrt zuwandernde Araber sind immer schwieriger an ihren aggressiven Taten zu hindern.
Eine drängende Menschheitsfrage ist, wie schon angesprochen, die Möglichkeit eines Atomkriegs. Der Ukraine-Krieg zeigt, dass er möglich sein kann. Wie stark schätzen Sie die Gefahr ein?
Im Ukraine-Krieg würde ich ihn, trotz Putins Rhetorik, ausschließen. Ein unbeschränkter Atomkrieg zwischen den beiden Weltmächten USA und Russland würde zur Auslöschung der Menschheit führen. Die Weltgesellschaft, wie ich sie sehe, ist entstanden nach den Atombombenabwürfen der USA in Japan, durch die Möglichkeit der Menschheitszerstörung. Auch die Sowjetunion hatten bald darauf die Atombombe. Seitdem bestimmt diese Möglichkeit der gegenseitigen Vernichtung die Weltpolitik. Regelungen zwischen allen atomwaffenfähigen Staaten müssen erste Aufgabe internationaler Sicherheitspolitik sein.
Überraschend hatten sie am Anfang unseres Gesprächs gesagt, dass sie keine Klimakatastrophe erwarten. Was macht sie so optimistisch?
Es ist unstreitig, dass sich die Erdoberfläche erwärmt und sich die durchschnittlichen Temperaturen in der Atmosphäre erhöhen. Ich vermute, dass das Ziel von 1,5 Grad Erderwärmung nicht zu halten ist. Es verständlich, dass die junge Generation in Europa ihre privilegierten Lebensverhältnisse behalten möchte, die durch den Klimawandel gefährdet sind. Aber Klimapolitik in Europa allein löst das globale Problem nicht. Etwas wundert mich die wissenschaftsgläubige Haltung der Klimaengagierten. Wenn Erkenntnisse der Wissenschaft auf soziales Handeln stoßen, wie bei der Corona-Pandemie, aber gerade auch beim Klimawandel, dann stoßen divergierende, ja konkurrierende wissenschaftliche Auffassungen aufeinander und es ergeben sich viele Probleme, die nicht allein von der Wissenschaft gelöst werden können. Zu erinnern ist an die von allen wichtigen Physikwissenschaftlern euphorisch begrüßte friedliche Nutzung der Kernenergie und die damit verbundenen Gefahren durch menschliches Handeln – auf das Carl Friedrich von Weizsäcker dann hingewiesen hat.
Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es?
Es muss alles getan werden, um erstens den Ausstoß an CO2 weltweit zu reduzieren, zuerst in den USA, in Europa und in den Ölstaaten auf der arabischen Halbinsel. In wenig industrialisierten Staaten kann die sich jetzt verstärkte wirtschaftliche Entwicklung auf den Einsatz fossiler Energie von Beginn an verzichten.
Dann besteht zweitens die Notwendigkeit, die eingetreten klimatischen Veränderungen zu erfassen und ihnen zu begegnen. Das geschieht schon in Europa, den weniger entwickelten Staaten müssen die besser entwickelten Finanzmittel bereitstellen.
Reicht es, neben der Begrenzung der Klimagase ausschließlich auf Schadensbegrenzung zu setzen?
Das reicht nicht. Es ist erforderlich, die planetarischen und damit erdgeschichtlichen wie die geographischen Zusammenhänge des Einsatzes von fossiler Energie zu erfassen. Die planetare Grundlage fast aller Energie auf der Erde ist die Sonne – durch Direkteinstrahlung, die zu Pflanzen und zu fossilierten Pflanzen Kohle, Öl Gas. führt.
Kohle gibt es überwiegend polwärts des 35. Breitengrads – sowohl nördlicher wie südlicher Breite, also auch in Südafrika und Australien. Das macht den Begriff des globalen Südens zu geographischem Unsinn. Kohle hat historisch zuerst in England die Industrialisierung ermöglicht. Mit ihr kamen Wohlstand, dann Demokratie, der Rechtsstaat, die Wissenschaft und vieles andere mehr – in den meisten Staaten des Nordens, aber auch im Australien. Kohle machte die Europäer und später die US-Amerikaner zu Herren der Welt, im Zeitalter des Imperialismus.
Öl, auch Gas, gibt es entlang der Wendekreise, was seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zum Erstarken der Ölförderländer am nördlichen Wendekreis geführt hat.
Seit Jahrzehnten wird es weltweit heißer, in den nördlichen und südlichen Breiten, an den Wendekreisen und am Äquator, wo der Regenwald wächst. Die Klimaprobleme im Süden der Erde sind global gesehen geringer, weil es im Süden wesentlich weniger Landfläche gibt. In den nördlichen Breiten lässt die Erwärmung zusätzliche Lebens- und Agrarräume entstehen. Und so hält es der in Singapur lehrende indische Politikwissenschaftler Parag Khana in seinem Buch von 2021 „Move“ für möglich, dass in den kommenden Jahrzehnten Millionen von Migranten nach Russland und Kanada ziehen werden.
Die Bevölkerung in Deutschland wird sich dabei radikal ändern?
Die deutsche Bevölkerung wird in einer Weise diverser und vielfältiger, die sich heute noch viele nicht vorstellen können. Hätten die USA die Hypothek der Sklaverei überwunden, wären sie heute ein Modellstaat für das Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe, Kanada ist dabei bereits weiter fortgeschritten. Auch in Europa gibt es sowohl rassistisches Unverständnis wie bemerkenswerte Tatsachen: In Großbritannien ist eine aus Nigeria stammende Politikerin Oppositionsführerin mit sehr konservativen Auffassungen. In westlichen Oberschichten gelingt Migration. Multikultureller Sicherheit wird nur zu erreichen sein mit sozialer Sicherheit, weniger sozialen Unterschieden.
Wie sollen denn die Anpassungen vor Ort in den heißen Gebieten erfolgen?
Am nördlichen Wendekreis ist sozialökonomisches Leben schon jetzt erfolgreich, Eine der wesentlichen Erkenntnisse der Fußball-WM in Katar ist, dass man dort leben und den Volkssport Nummer eins ausüben kann – weil dort genügend Solarenergie zur Kühlung verfügbar ist. Katar ist Modell für viele Staaten entlang dieses Wendekreises. Die Ölförderländer können zur Klimaregulierung und zur Meerwasserentsalzung Solarenergie nutzen.
Das gilt auch für den Äquator, dessen Regenwald kann besser erhalten werden, wenn es dort klimatisch erträgliche urbane Räume gibt, Singapur zeigt es seit Jahren Der Äquator kann so weltumspannend ein Naturschutzgürtel werden.
Physikalisch ist jede direkte Nutzung von Sonnenenergie anzustreben. Sie entsteht auf der Sonne durch die Fusion von Helium, diese Fusionsprozesse auf der Erde zu ermöglichen ist eine Herausforderung.
Beschreiben Sie eine Utopie?
Wie gerade dargelegt nicht. Neumann betont, dass die „westliche“ Sicht auf die Welt von Eliten geprägt wird, von „Personen, die zu politisch relevanten Themen Ideen formulieren und dadurch Einfluss auf das Denken von Entscheidern (…) gewinnen“. Wird die Sicht asiatischer Eliten eingebracht, werden westliche Utopien zu möglicher Wirklichkeit. Die Beiträge Parag Khannas sind aufschlussreich, neben „Move“ ist vor allem aus 2019 „Unsere asiatische Zukunft“ von Bedeutung.
Sehen Sie die Digitalisierung und das Ende der Arbeit, wie wir sie kennen, genauso entspannt?
Die gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung lassen sich nicht wirklich voraussehen, die Erfahrungen und die auch fachlichen Diskussionen gehen durcheinander. Es mag sein, dass Künstliche Intelligenz verbunden mit Fortschritten in der Biotechnologie auch den Menschen verändern wird. Aber das sind Utopien, deren Realitätsbezug ich nicht zu beurteilen vermag.
Fragen nach dem Ende der Arbeit sind eine Fokussierung auf bezahlte Arbeit in Industriegesellschaften. Schon immer und auch immer weiter ist die meiste Arbeit unbezahlt. Das galt auch in Industriegesellschaften bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts für Dienstleistungen, weil Frauen diese Dienste unentgeltlich zuhause geleistet haben – das ist inzwischen überholt.
Damit sind bezahlte Dienstleistungen ein wesentlicher Beitrag zum Sozialprodukt. Künftig mögen Roboter und Computer die meiste Arbeit in der Produktion übernehmen. Aber es braucht Menschen, die diese Systeme verwalten und reparieren können. Und es braucht immer mehr Menschen in „sozialen Diensten“, die vergütet werden müssen,
Wie wird die Arbeitswelt aussehen?
Die Arbeitswelt ist eine Seite der Wirtschaftswelt. In Europa und besonders in Deutschland sind tiefgreifende wirtschaftsstrukturelle Veränderungen erforderlich. Ihr Rahmen ist die Verringerung der Importabhängigkeit verbunden mit der Exportabhängigkeit. Die Importe von Energie und Rohstoffe lassen sich durch erneuerte Energie ersetzen, importierte Rohstoffe durch europäische Rohstoffe und vor allem durch Recycling. So trägt mit Klimapolitik zur wirtschaftlichen Entwicklung bei. Diese wirtschaftsstrukturelle Strategie kann auch die Abhängigkeit von China und den USA verringern. Trumps USA werden mit weniger europäischen Importen belästigt, die sicherheitspolitische Autonomie Europas erlaubt die Verringerung von Rüstungsgüterimporten aus den USA. Europäisch Sicherheitsautonomie erfordert europäische Rüstungsindustrie, damit ein – leider notwendiger – Wirtschaftsfaktor.
Zum Autor: Christoph Zöpel
1978–1980 Minister für Bundesangelegenheiten des Landes NRW und 1980–1990 Minister für Stadtentwicklung in NRW; verantwortlich für die denkmalrechtliche Unterschutzstellung der Zeche Zollverein 1986 sowie 1989 die Initiierung der IBA Emscher Park; 1990–2005 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1999–2002 Staatsminister im Auswärtigen Amt; 2016–2022 Berater des Präsidenten der SPE für Zentral- und Osteuropa; div. Lehrtätigkeiten, u.a. 2009-2024 Hon.-Prof. an der TU Dortmund, 2010–2019 Prof. an der GJU Amman; Lehraufträge an der Ruhr-Universität Bochum und der TU Berlin, seit Januar 2024 Vorsitzender der Johannes-Rau-Gesellschaft.