Es ist an der Tagesordnung, die demokratischen Parteien, vor allem die Christdemokraten und die Sozialdemokraten zu kritisieren. Kritik an der CDU und der SPD zu üben, ist nicht verboten, auch nichts Schlimmes, sie ist fester Bestandteil demokratischer Auseinandersetzung unter politischen Gegnern. Aber wenn gelegentlich der Eindruck erweckt wird, als hätten die genannten Parteien ihre Existenzberechtigung verloren, geht das an der Realität vorbei, weit vorbei. Dieser Staat ist nun mal das Beste, was es bisher auf deutschem Boden und in der wechselvollen deutschen Geschichte gegeben hat, bei aller berechtigten Kritik an den Schwächen, Mängeln und Fehlern, die gemacht worden sind und weiter gemacht werden. Ein Ersatz für die beiden Volksparteien ist nicht mal im Ansatz in Sicht.
Wobei die Rolle der FDP nicht vergessen werden sollte, die mal mit der CDU und dann mit der SPD jeweilige Koalitionsregierungen bildete und mit dafür sorgte, dass die neue Republik nicht zu schwarz und nicht zu rot wurde. Auch die Bedeutung der Grünen ist zu beachten, sie wurden erst 1980 gegründet, bildeten mit der SPD erste Landesregierungen in Hessen und später in NRW, ehe es mit der SPD 1998 zu einer ersten rot-grünen Bundesregierung kam. Die Linke vollzog einen mehrfachen Namenswechsel, aus der SED wurde die PDS und eben dann die Linke.
Heilloses Durcheinander in London und Co
Die Bedeutung der Volksparteien in Deutschland kann gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung in Großbritannien nach dem Brexit nicht deutlich genug herausgestellt werden. Auf der Insel ist ein heilloses Durcheinander zu beobachten, man hat den Eindruck, dass die meisten Briten nicht wussten, was sie beim Referendum taten. Andere gingen offensichtlich davon aus, dass das Votum nicht gegen die Europäische Union ausfallen würde. Versprechen wurde gemacht, die längst Makulatur sind, man hatte sich halt in diesem Wahlkampf versprochen.
Nun ist es passiert und die politischen Akteure in London und Co wissen nicht, was sie tun sollen. Am Ende könnte aus dem Groß- ein Little-Britannien werden, könnten Nordirland und Schottland sich vom Vereinigten Königreich lösen, weil sie weiter der EU angehören wollen, weil sie darauf pochen, dass sie nicht den Austritt aus der Union Europas angestrebt hatten. Auch hier ist zu betonen, dass natürlich Kritik an Brüssel berechtigt ist, dass ein weniger an Einmischungen in nationale Dinge und an Vorschriften der europäischen Sache mehr gedient hätte. Es ist richtig, dass wir nicht gelernt haben, die europäische Geschichte zu schreiben und zu erzählen, die Europa ausmacht und seine Notwendigkeit unterschreibt. Europa ist heute dringender nötig denn je. Man lese und höre die Reaktionen vieler Briten nach dem Ausgang des Referendums.
Zurück nach Deutschland. Nach dem Ja der Briten zum Brexit haben die führenden Politiker hier im Lande sehr besonnen reagiert, hat sich Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier mit seinen Amtskollegen aus den Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft, Frankreich, Italien, Benelux in Berlin getroffen, um den Zusammenhalt der Europäer herauszustreichen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, zugleich CDU-Vorsitzende, versuchte, keine Unruhe aufkommen zu lassen und vermied allzu laute Töne, die ohnehin nicht ihre Sache sind. Man will Ruhe bewahren, damit sich das Durcheinander auf der Insel nicht ausweitet. Großbritannien mag den Austritt aus der EU beantragen, der Rest der EU bleibt bestehen. Die Idee ist ja nicht tot, sie lebt fort und das ist gut so.
Die Europäische Union ist ein Segen
Die Nationalisten sehen das natürlich anders, sie möchten das Rad zurückdrehen, ohne zu wissen, wohin die Fahrt denn gehen soll. Das gilt für die Nationalisten in Frankreich ebenso wie die in Italien und auch in Deutschland. Gerade vor dem Hintergrund der verheerenden europäischen Geschichten mit ihren Weltkriegen und Millionen von Toten auf allen Seiten ist die EU ein Segen. Es darf daran erinnert werden, dass wir seit 1945 Frieden in Europa haben. Dass die so genannte Todfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland auf den Friedhöfen beider Länder zu Grabe getragen wurde, dass unsere Nachbarn sich vor der deutschen Übermacht nicht mehr zu fürchten brauchen, weder die Polen, noch die Belgier, Holländer und Luxemburger und die anderen auch nicht.
Daran haben viele Politiker aus besagten Ländern mitgewirkt wie Robert Schuman, Alcide De Gasperi, Paul-Henri Spaak, Jean Monnet, Charles de Gaulle, um nur die auf ausländischer Ebene zu nennen, ohne den Anteil anderer zu schmälern. Auch deutsche Politiker sind hier zu erwähnen, wie Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Politiker aus den Volksparteien CDU und SPD, aber auch Freidemokraten wie Theodor Heuss, Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher. Man vergesse die Bemühungen Adenauers nicht, nach dem Zweiten Weltkrieg, als alles am Boden lag, als die Alliierten Nazi-Deutschland besiegt und uns von der NS-Diktatur befreit hatten. So hatte es Richard von Weizsäcker bei seiner herausragenden Rede anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag gesagt. Richard von Weizsäcker war Mitglied der CDU.
Adenauer gelang schon 1952 das Luxemburg-Abkommen, das die Wiedergutmachung der Bundesrepublik gegenüber Israel regelte, erst am 14. März 1960 trafen sich Adenauer und sein israelischer Amtskollege Ben Gurion im Hotel Waldorf Astoria in New York, eine historische Begegnung nach der schlimmen deutschen Vorgeschichte.
Willy Brandts Kniefall in Warschau
Oder man nehme den Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt in Warschau. Ausgerechnet Willy Brandt, der selber vor den Nazis geflüchtet war, bat um Vergebung. Seine Politik der Aussöhnung Deutschlands mit den östlichen Nachbarn hat ihm den Friedens-Nobelpreis gebracht. Dass die Nachbarn, die unter den Nazis gelitten hatten, die viele Opfer gebracht hatten, wieder mit Deutschen sprachen, uns die Hand gaben und sich mit uns an einen Tisch setzten, war damals keine Selbstverständlichkeit. Wir haben hier im Blog-Der-Republik vor ein paar Tagen an den 75. Jahrestag erinnert, an dem Hitler die Sowjetunion überfiel, es war der 22. Juni 1941, wir haben an die Einkesselung von St. Petersburg, das damals Leningrad hieß, erinnert, an die 27 Millionen Toten, die allein Russland der Krieg an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir haben im Januar an den Holocaust erinnert, an die Ermordung von sechs Millionen Juden durch Nazi-Deutschland.
Helmut Kohl, der als Kanzler der deutschen Einheit gilt, hat erheblichen Anteil an der Weiterentwicklung der Europäischen Union, an der auch Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterrand mitgewirkt hat. Das Treffen Kohls mit Mitterrand in Verdun ist nicht vergessen, an einem Platz, an dem im Ersten Weltkrieg Millionen Soldaten aus Europa gefallen sind. Dass die Einheit zustande kam, lag auch an Kohl, der es verstand hat, ein besonderes persönliches Verhältnis zu seinen Kollegen zu pflegen, auch und gerade zu Michail Gorbatschow, dem zu verdanken ist, dass die russischen Panzer zur Zeit der Wende in der damaligen DDR in den Kasernen blieben, dass kein einziger Schuss fiel und die Revolution friedlich verlief.
27 Millionen sowjetische Opfer im Krieg
Kohls Nachfolger Gerhard Schröder hat vor kurzem in einem beachtenswerten Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ an den Zweiten Weltkrieg erinnert, auch an die vielen Opfer auf sowjetischer Seite, an die eine Million Toten in St. Petersburg, daran, dass Hitler die Bevölkerung der Stadt verhungern lassen wollte. Schröders Vater starb an der Ostfront, Putins Bruder starb bei der Einkesselung St. Petersburgs durch die Wehrmacht, Gemeinsamkeiten, die verbinden. Und Schröder hat auch darauf hingewiesen, dass Russlands immer wieder die Nähe zu Deutschland gesucht habe und suche, ungeachtet aller Verbrechen.
Seit Jahr und Tag wird Deutschland von einer großen Koalition regiert, das zweite Mal binnen weniger Jahre bilden CDU, CSU und die SPD eine Bundesregierung, politisch kein glücklicher Umstand, weil die politische Debatte von der inhaltlichen Auseinandersetzung gerade zwischen den beiden Volksparteien lebt. Jedes Parlament braucht eine starke Opposition. Kritiker werfen der Kanzlerin Angela Merkel vor, die CDU, der sie seit Jahren vorsteht, sozialdemokratisiert und die CDU damit um ihren Kern gebracht zu haben. Ob das stimmt, sei dahin gestellt, tatsächlich wurden Gesetze unter Merkel beschlossen, die vor allem inhaltlich von der SPD betrieben wurden, man nehme den Mindestlohn als Beispiel. Die Arbeit der SPD-Minister in der Großen Koalition wurde schon in der ersten Merkel-Regierung-damals 2005 bis 2009 mit Müntefering, Steinmeier, Steinbrück- gelobt, der Wähler allerdings sah das anders und die SPD landete bei der Bundestagswahl bei schlappen 23 Prozent.
CDU profitiert nicht von SPD-Verlusten
Heute ist das nicht anders, wieder wird die Arbeit auch der SPD-Minister gewürdigt, vor allem die von Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der nicht aufhört, den Gesprächsfaden mit Russland und Putin ungeachtet aller Kritik am russischen Präsidenten nicht abreißen zu lassen, der nicht aufhört, zwischen den streitenden Parteien in Syrien zu vermitteln, damit der Bürgerkrieg endlich ein Ende habe und die Flüchtlinge in ihrer Heimat bleiben oder dorthin zurückkehren können. Und doch ist die SPD in Umfragen auf runde 21 Prozent abgerutscht.
Davon profitiert allerdings die andere Volkspartei, die CDU, nicht. Folgt man Umfragen würden etwas über 30 Prozent noch die Union wählen. Angela Merkel hat mit der Flüchtlingsproblematik zu kämpfen, damit, dass sie damals, als 150000 Flüchtlinge vor Grenzen standen und sie den Weg frei gab für die Menschen, damit sie versorgt und untergebracht wurden. „Wir schaffen das“, sagte sie damals. Herz habe sie gezeigt, so hat es ihr Amtsvorgänger Schröder formuliert, aber kein Konzept gehabt. Das mag stimmen, aber wie hätte man auf die Schnelle Hunderttausende von Wohnungen bereitstellen können, sie zu bauen kostet Zeit, wie hätte man auf die Schnelle den Menschen die Sprachkenntnisse beibringen und ihnen Arbeitsplätze verschaffen können? Auch das dauert.
Solidarität der EU gefragt
Auf diesem Sektor hat Europa versagt, haben viele andere Mitgliedsstaaten in der EU den Flüchtlingen die kalte Schulter gezeigt und sich geweigert, entsprechend einer Einigung in Brüssel Flüchtlinge aufzunehmen. Europa hat auch Italien und Griechenland mit den Flüchtlings-Problemen lange allein gelassen, Solidarität sieht anders aus. Dann der Deal mit Erdogan, der die Flüchtlinge im Lande hält, von der EU, wohl vor allem von Deutschland sechs Milliarden Euro erhält, der aber viele demokratischen Spielregeln außer Kraft gesetzt hat, Pressefreiheit ist für ihn ein Fremdwort. Einem deutschen Staatssekretär, der die deutschen Soldaten in der Türkei besuchen wollte, wurde brüsk die Einreise verweigert.
Aber vielleicht lernt Europa ja aus dieser Entwicklung, vielleicht besinnt sich Europa auf die Werte, die es stark gemacht hat und die es zu verteidigen gilt: Demokratie, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Solidarität, Menschenwürde, Toleranz, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Rechte von Minderheiten, man schaue ins Grundgesetz. Es gibt Probleme auch im reichen Deutschland, keine Frage: Es fehlt bezahlbarer Wohnraum, die sozialen Unterschiede zwischen wenigen Reichen und Millionen Armen wachsen, die Nöte allein erziehender Frauen sind ein Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit, Übergriffe von Rechtsradikalen auf Ausländer.
Nationalisten haben keine Lösung
Aber die Antworten liefern nicht die nationalistischen Kräfte mit ihren Parolen, die so einfach klingen. Denn so einfach ist es nicht, weil die Probleme schwieriger sind, ihre Lösung bedarf differenzierter Wege.
Die Parteien sind kein Selbstzweck und nicht für Banken und Großunternehmer da. Gerade die Volksparteien müssen künftig noch mehr den Menschen aufs Maul schauen, um zu erfahren, wo der Schuh drückt, aber sie dürfen den Leuten nicht nach dem Mund reden. Diese Art von Populismus sollten sie ruhig anderen überlassen.
Und was Europa betrifft: Europäische Politik muss den Bürgern besser erklärt werden, damit sie den Sinn und die Notwendigkeit begreifen, damit sie begreifen, dass diese Politik ihnen hilft, für sie da ist. Die nationalen Eigenheiten machen den Charme Europas aus. Und Einigkeit macht stark- ob Großbritannien, das sicher Teil Europas ist, dabei sein will oder nicht.
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