Die Wochenzeitung Der Freitag hatte vor kurzem das Schwerpunktthema Einsamkeit. Darin heißt es: Viel ist im Moment von der Einsamkeit die Rede, die sich angeblich wie eine Epidemie durch unsere Gesellschaft zieht. Einsamkeit, liest man, sei so tödlich wie 15 Zigaretten täglich. Aber sie ist so viel schwerer zu greifen als andere Leiden. Man schätzt, dass etwa 20 Prozent der Älteren sich hierzulande isoliert fühlen; aber auch 10 bis 15 Prozent der Jüngeren. In all diesen Fällen ist Einsamkeit so etwas wie eine soziale Krankheit.
Aber es gibt auch Menschen, die der Einsamkeit positive Eigenschaften zuschreiben: etwa Künstler oder Gläubige. Für sie ist Einsamkeit eine Lebensform, die ihrem Anliegen zugute kommt. Z.B. galt die Affinität von Einsamkeit und Freiheit lange Zeit als Leitbild reiner Wissenschaftlichkeit; dieses auf Wilhelm v. Humboldt zurückgehende Bildungsideal wurde noch in den 60er Jahren vom Soziologen Helmut Schelsky gegen die aufkommende Massenuniversität in Stellung gebracht.
Es gibt also unterschiedliche Formen der Einsamkeit: die durch äußere Zwänge herbeigeführte und die selbst gewählte. Dies soll im Folgenden am Beispiel einiger literarischer Texte gezeigt werden. Es geht dabei um den Heiligen Antonius von Gustave Flaubert; den Anton Reiser von Karl Philipp Moritz, Hermann Hesses Gertrud und den namenlosen Dichter aus meinem Roman Das Haus des Dichters.
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In meinem Roman verliert der Protagonist seine Arbeit und zieht sich daraufhin aus der Gesellschaft zurück; aus Scham, aber auch, um ein neues Leben zu beginnen. Sein Alltag ist nicht länger von Routinen und Zwängen bestimmt. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er auf sich selbst verwiesen.
Als ich meine Arbeit verlor, war von einem Tag auf den anderen alles anders. Ich hatte plötzlich Zeit und musste mir meinen Tag selbst gestalten. Das sagt sich so leicht. Ich hatte nie darüber nachgedacht, was man gemeinhin den Sinn des Lebens nennt. Bisher war ich ganz einfach in der Welt unterwegs gewesen und machte mir keine Gedanken, wie es anders hätte sein können. Ich war mit allen möglichen Dingen beschäftigt. Zum Nachdenken blieb nicht viel Zeit. Jetzt hatte ich Zeit im Überfluss. Aber sie war ganz leer. Wie sollte ich sie ausfüllen? Je mehr ich nachdachte, desto stärker spürte ich, da war nichts. All die angepriesenen Sinnbeschaffungsprogramme – zum Beispiel die vielen Reise- und Freizeitangebote – ich hatte dafür keine Mittel, sie kamen für mich nicht infrage. Also beschäftigte ich mich nicht näher mit ihnen. Es war nicht das, was ich suchte. Meine Hauptbeschäftigung bestand zu dieser Zeit darin, ziellos umherzulaufen. Irgendwo hatte ich gelesen, das Gehen sei ein Ins-Leben-Kommen; aber mir wollte sich das sogenannte Leben nicht zeigen. Ich fand keinen Ansatzpunkt, um etwas Sinnvolles zu beginnen. Allmählich breitete sich eine namenlose Angst in mir aus, diese Königin aller Stimmungen. Ich war kurz davor zu resignieren. Andrerseits begriff ich, dass ich mich dagegen stemmen musste, wollte ich nicht sang- und klanglos untergehen.
Er beschließt, die Stadt, in der er bisher gelebt hat, zu verlassen und sich an den Rand eines kleinen Dorfes zurückzuziehen. Von den Dörflern hält er sich fern. Er lebt völlig für sich allein. Er möchte all das nachholen, was er in seinem bisherigen Leben versäumt hat oder was ihm versperrt war. Zunächst nimmt er seine neue Umgebung unter die Lupe; macht nie gekannte Naturerfahrungen und hält sich immer wieder an seinen poetischen Orten auf, wo er innehält und über sein Leben nachdenkt. Er beginnt, sich all die Eindrücke und Gedanken, die ihn inspirieren, zu notieren.
Einmal im Monat fährt er in die Stadt und versorgt sich in einem Antiquariat mit Büchern. Alles, was er fortan liest, saugt er förmlich in sich auf. Und als er selbst zu schreiben beginnt, wird ihm die Literatur zur Passion, die ihm eine neue Identität verschafft. Er lebt jetzt intensiver als je zuvor. Alles, was er bei seinen Spaziergängen oder durch seine Bücher erfährt, ist ihm eine Entdeckung, die ihn anspornt und das Leben bereichert. Er leidet nicht mehr unter seiner Einsamkeit; im Gegenteil: Schon als Kind hatte er sich ein Robinsondasein gewünscht.
Dass ich tatsächlich eines Tages wie ein Einsiedler leben würde, hätte ich mir damals nicht träumen lassen. Mittlerweile habe ich mich mit meinem Eremitentum versöhnt. Ich fühle mich in meiner Abgeschiedenheit keineswegs als Reinkarnation des Heiligen Antonius, der allen weltlichen Versuchungen getrotzt hat: vielmehr versuche ich ganz einfach, mir ein Dasein mit den Möglichkeiten und Bedeutungen zu schaffen, die meine Mittel mir gestatten.
Ich habe die Phase, in der ich Gefahr lief, in Selbstmitleid zu zerfließen, überwunden. Ich habe erkannt: Die Einsamkeit gibt mir die Möglichkeit, mich an den einfachen Dingen zu erfreuen. Den frühen Morgen. Den Sonnenaufgang. Den Gesang der Vögel. Die Blumen in all ihren Facetten. Die Kostbarkeit der Steine, wenn wir sie in die Hand nehmen und geduldig betrachten. Ist das etwa nichts, sage ich mir dann, wenn ich wieder einmal daran erinnert werde, dass ich ansonsten nichts besitze.
In seiner Zurückgezogenheit gelingt es ihm, seinem Leben einen neuen Sinn zu verleihen, und er bedauert diejenigen, die diese Erfahrung nicht kennen:
Es macht mich wehmütig, daran zu denken, dass ein derartiges Empfinden und Erleben womöglich aus der Welt zu verschwinden droht: dieses Gefühl für die Poesie des Daseins. Mittlerweile scheint mir, dass die einzige Möglichkeit, wirkliche Freiheit zu erlangen, die selbstgewählte Einsamkeit ist. Und seit ich zu dieser Einsicht gekommen bin, habe ich kaum noch unter meiner Einsamkeit gelitten. Im Gegenteil: Sie scheint mir jetzt eine notwendige Bedingung dafür zu sein, dass ich meinen eigenen Weg finde. Die Gesellschaft anderer würde mich nur ablenken.
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Anders verhält es sich im Fall des Anton Reiser. Dieser versucht zeitlebens, den ihm gebührenden Platz in der Gesellschaft zu finden. Fast immer wird er zurückgewiesen, verhöhnt, diskriminiert. Trotz aller Anstrengungen, die er unternimmt, bleibt ihm die gesellschaftliche Anerkennung, nach der er buchstäblich hungert, verwehrt. Er leidet unter seiner Vereinsamung, einer von seiner Umwelt erzwungenen. Schon seine Kindheit ist von einem Mangel an Wärme, Liebe und Geborgenheit gekennzeichnet gewesen. Durch seine pietistische Erziehung entwickelt Reiser einen fast krankhaften Hang zur Selbstbeobachtung. Ständig sieht er sich durch die Brille der Anderen und neigt dazu, deren Urteil zu übernehmen. Um der tristen Realität mit ihren ständigen Demütigungen zu entkommen, zieht R. sich zeitweise von allem zurück. Er hängt seinen Träumen und Phantasien nach, um sich auf diese Weise zumindest ein Mindestmaß an Entlastung und Selbstvergewisserung zu verschaffen.
Die äußeren Zwänge werden von Reiser in gewisser Weise internalisiert und als persönliche Schwäche erlebt; daher seine Verletzlichkeit und das Übermaß an Sensibilität, das er entwickelt. Die Flucht in die Einsamkeit hat rein kompensatorische Funktionen. Sie sind kein Ersatz für ein Leben in der Gemeinschaft Gleichgesinnter, nach dem er sich sehnt. Sein zeitweiliges Einsamkeitsverlangen und die Sehnsucht nach einem Einsiedlerdasein haben eine reine Schutzfunktion. Es sind Phasen, in denen er versucht, seine ständigen Selbstzweifel zu überwinden. An einer Stelle heißt es: Dieser einsame Spaziergang war es, welcher Reisers Selbstgefühl erhöhte, seinen Gesichtskreis erweiterte, und ihm eine anschauliche Vorstellung von seinem eignen wahren, isolierten Dasein gab; das bei ihm auf eine Zeitlang an keine Verhältnisse mehr geknüpft war, sondern in sich und für sich bestand .-
Indem er einen Blick auf das Ganze des menschlichen Lebens warf, lernte er zuerst das Große im Leben von dessen Detail unterscheiden.
Alles was ihn gekränkt hatte, schien ihm klein, unbedeutend, und nicht der Mühe des Nachdenkens wert. –
Anton Reiser zieht sich immer dann von allem zurück, wenn er das Übermaß an Ignoranz, das er erfährt, nicht länger ertragen kann. Aber es sind nur vorübergehende Phasen in seinem Leben, das von einem ständigen Auf und Ab geprägt ist. Die vielen Rückschläge und Niederlagen werden durch kleinere Erfolgserlebnisse unterbrochen, die ihn immer wieder hoffen lassen, irgendwo Anschluss zu finden. Es sind die engen gesellschaftlichen Normen und Standesgrenzen, die seinen sozialen Aufstieg verhindern und ihn in die Isolierung treiben. Aber er ist für die Einsamkeit nicht geschaffen. Reiser hat immer wieder versucht, sich gegen seine gesellschaftliche Isolierung zu wehren und nie aufgehört, sich nach einem Leben in der Gemeinschaft zu sehnen. Ständig sinnt er darüber nach, welchen Weg er einschlagen könnte, um sich in der Gesellschaft zu behaupten. Er widmet sich der Dichtkunst zu, spielt Theater, geht auf Wanderschaft u.a.m. Er durchlebt die Wonne des Denkens und die Leiden der Poesie und erfährt durch sie eine zeitweilige Befreiung von der Mühsal seines Daseins. Die Phasen des Rückzugs bleiben Episoden; es sind nur Übergänge zu einem erneuten Bemühen, in der Gesellschaft anzukommen. Man kann auch sagen: er führt einen lebenslangen, verzweifelten Kampf um Anerkennung (Hegel). Er führt seinen zermürbenden Kampf weiter, wohl wissend, dass er ihn nicht gewinnen kann. In solchen Situationen wird ihm die einsamste Wüste wünschenswert – und da ihn endlich auch in dieser die tödliche Langeweile quälte, so blieb das Grab sein letzter Wunsch – und weil er nun nicht einsah, warum er sich die Jahre seines Lebens hindurch, in der Welt von allen Seiten hatte müssen drücken, stoßen, und wegdrängen lassen, so zweifelte er endlich an einer vernünftigen Ursach seines Daseins – sein Dasein schien ihm ein Werk des schrecklichen blinden Ohngefährs. – Für Anton Reiser trifft zu, was Thomas Mann seinem Adrian Leverkühn im Doktor Faustus ins Stammbuch schrieb: Einige gehen mit Notwendigkeit in die Irre.
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Der Heilige Antonius zieht sich aus der Welt in die Einsiedelei zurück, um Buße zu tun. Er führt ein asketisches Leben; frei von allen Verführungen des Weltlichen. Er hofft auf diese Weise zur Erkenntnis der letzten Dinge des Universums zu gelangen. Je intensiver er sich bemüht, desto stärker werden seine Zweifel. Flaubert lässt, als würde er ein Gemälde von Bruegel interpretieren, alle denkbaren Todsünden aufmarschieren, um den Heiligen in Versuchung zu führen und von seinem Weg abzubringen. Phantasmen aller Art versetzen ihn in Angst und Schrecken. Immer wieder holt ihn die Vergangenheit ein. Früher war das Alleinsein erträglicher gewesen, die Arbeit nicht so mühsam, der Fluss nicht so weit entfernt. Noch früher war die Zeit der Jugend gewesen, die Mädchen am Brunnen, die Zeit des Abschieds von der Welt, die Zeit der Gefährten, des Lieblingsschülers.
Seine Erinnerungen erscheinen immer wieder als verdrängte Wünsche, Begierden und Phantasien, so sehr er sich auch dagegen auflehnt. In seinem scharfsinnigen Nachwort schreibt Michel Foucault: Der heilige Antonius hatte sich in die Einsamkeit der Muße zurückgezogen. Jegliche Anwesenheit war beseitigt worden: Alle sichtbaren Formen waren verbannt worden, aber sie waren mit Macht zurückgekehrt und hatten den Heiligen – durch ihre Nähe wie durch ihre Ferne – auf die Probe gestellt: sie umgaben ihn, schlossen ihn ringsum ein, aber sobald er die Hand nach ihnen ausstreckte, waren sie zerstoben.
Der Heilige träumt davon, ein Blitz der Wahrheit möge ihn erfassen und ihm die Geheimnisse des Universums in all ihren Erscheinungsformen erschließen: Die gespenstische Vergangenheit des Orients sowie die gesamte Kultur Europas: das Mittelalter mit seiner Theologie, die Renaissance mit ihrer Gelehrsamkeit, die Neuzeit mit ihrer Wissenschaft von der Welt und dem Lebendigen. Wie eine nächtliche Sonne wandert die Versuchung von Osten nach Westen, von der Begierde zum Wissen, von der Phantasie zur Wahrheit, von den ältesten Sehnsüchten zu den Bestimmungen der modernen Wissenschaft.
Als ihm im Traum sein Lieblingsschüler Hilarion erscheint, ist ausgerechnet der es, der Antonius auf die Fragwürdigkeit seines Unterfangens hinweist und seinem ehemaligen Meister den Spiegel vorhält:
Heuchler, der sich in die Einsamkeit vergräbt, um desto ungestörter seine Triebe zu befriedigen! Du verzichtest auf Fleisch, Wein, Bäder, Sklaven, Ehrungen; aber in deiner Phantasie berauschst du dich an Gelagen, Parfums, nackten Frauen und jubelnden Mengen! Deine Keuschheit ist nur eine subtilere Art des Lasters, und deine Weltverachtung nur die Ohnmacht deines Hasses auf sie! Darum seid ihr alle so verfinstert, oder auch, weil ihr zweifelt. Wer in der Wahrheit ist, ist fröhlich. War Jesus traurig? Er war von Freunden umgeben, ruhte im Schatten des Ölbaums, ging zu dem Zöllner, verwandelte Wasser in Wein, vergab der Sünderin, heilte die Leiden. Du hast nur Mitleid für dein eigenes Elend. Es ist, als ob Gewissensqualen und eine Art rasenden Wahnsinns dich alles, auch die Zärtlichkeit eines Hundes oder das Lächeln eines Kindes, zurückweisen ließen.
Der Versuch, allem Weltlichen zu entsagen, um Buße zu tun und zum wahren Glauben zu finden, mündet in wahnhaften Phantasmen, denen Antonius nur unter Aufbietung aller Kräfte entkommt. Es scheint, dass der Heilige seine Unschuld nicht wiedererlangen kann, weil er ein früheres Leben gekannt hat. Man könnte auch sagen: er weiß zu viel vom Leben draußen, und dieses Wissen lässt ihn nicht los. Ich habe soviel gedacht, dass ich nichts mehr sagen kann. Was bleibt, ist eine große Ratlosigkeit und die Einsicht in die Vergeblichkeit aller Versuche, die Geheimnisse des Lebens und der Welt zu entschlüsseln: Nie wirst du das Universum in seinem ganzen Ausmaß begreifen: deshalb kannst du nichts über seine Entstehung wissen, dir keinen wirklichen Begriff von Gott machen, nicht einmal von der Unendlichkeit des Universums reden – zuvor müsstest du die Unendlichkeit kennen!
Der heilige Antonius erkennt schließlich die Vergeblichkeit seines Tuns. Als alter Mann sitzt er auf der Schwelle seiner Hütte und schließt die Augen.
Wieder ein Tag! ein Tag vergangen!
Früher war ich doch nicht so elend! Noch vor Tagesanbruch begann ich zu beten; dann ging ich zum Fluß hinunter, um Wasser zu holen, ich stieg den steilen Pfad wieder hinauf, den Schlauch auf der Schulter, und sang Hymnen. Fröhlich räumte ich meine Hütte auf. Ich nahm mein Werkzeug; ich bemühte mich, die Matten schön gleichmäßig und die Körbe leicht zu machen; denn auch das kleinste, was ich tat, bedeutete mir damals eine Pflicht, die nichts Bedrückendes hatte.
Als er wieder einmal träumt, wünscht er sich, sein ganzes Dasein wäre ein lang anhaltender Schlaf, und würde er daraus erwachen, fände er seine Unschuld wieder, und alles um ihn herum erstrahlte im Glanz der Sterne. Aber es bleibt nur ein Traum. Als er erwacht, wird ihm bewusst, dass er scheitern musste, weil das Unendliche – sei es nun Gott oder das Universum – sich begrifflich nicht fassen lässt. Wir können keine Vorstellung davon haben.
Er sinniert über die Illusion des Lebens und ruft verzweifelt aus: Diese Einsamkeit! Diese Öde! Dieses Elend! Soll das immer so bleiben! Der Tod wäre mir lieber! Ich kann nicht mehr! Genug! Genug!
Er verbraucht seine letzten Kräfte, um den Versuchungen, denen er ausgesetzt ist, zu widerstehen. Seine Zweifel an allem sind größer denn je, und er begreift, dass er im Diesseits keinen Trost finden wird. Ihm wird bewusst, dass ihn ein ungeheures Schweigen von der Welt trennt.
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Für viele scheint es keinen Weg aus ihrer Einsamkeit zu geben. Sie richten sich darin ein und verstärken gerade dadurch ihr Leid. Der Protagonist in Hermann Hesses Roman Gertrud ist so ein Fall. Mehr zufällig trifft er eines Tages auf seinen alten Lehrer, einem Theosophen, dem er stets mit einer gewissen Distanz begegnet war. Als dieser sich nach seinem Befinden erkundigt, klagt er ihm sein Leid. Ich kann nicht leben und nicht sterben. Ich finde das Ganze falsch und dumm. Eine Antwort oder gar einen Rat hatte er gar nicht erwartet, aber zu seiner Überraschung antwortet ihm sein Lehrer: Sie haben eine Krankheit, die leider Mode ist und der man jeden Tag bei intelligenteren Menschen begegnet. Die Ärzte wissen natürlich nichts davon. Es ist mit moral insanity verwandt und könnte auch Individualismus oder eingebildete Einsamkeit genannt werden. Die modernen Bücher sind voll davon. Es hat sich bei Ihnen die Einbildung eingeschlichen, Sie seien vereinsamt, kein Mensch gehe Sie etwas an, und kein Mensch verstehe Sie.
Und – nachdem er die Verwunderung seines ehemaligen Schülers bemerkt hat – fährt er fort: Sehen Sie. Für den, der die Krankheit einmal hat, genügen ein paar Enttäuschungen, um ihn glauben zu machen, es gebe zwischen ihm und andern Menschen überhaupt keine Beziehungen, höchstens Missverständnisse, und es wandle eigentlich jeder Mensch in absoluter Einsamkeit, könne sich den andern nie recht verständlich machen und nichts mit ihnen teilen und gemeinsam haben. Es kommt auch vor, dass solche Kranke hochmütig werden und alle andern Gesunden, die einander noch verstehen und lieben können, für Herdenvieh halten. Wenn diese Krankheit allgemein würde, müsste die Menschheit aussterben. Aber sie ist nur in Mitteleuropa und nur in den höheren Ständen zu treffen. Bei jungen Leuten ist sie heilbar, sie gehört sogar schon zu den unumgänglichen Entwicklungskrankheiten der Jugend.
Er rät seinem Schüler, nicht so sehr auf sich zu schauen, sondern zu versuchen, andere zu verstehen, andern Freude zu machen und ihnen gerecht zu werden. Damit könne er ganz in der Nähe anfangen: bei seinen Freunden und Verwandten. Lernen Sie eine Zeitlang mehr an andere als an sich selber denken! Das, was die Menschen gemeinsam haben, ist viel mehr und wichtiger, als was jeder einzelne für sich hat und wodurch er sich von andern unterscheidet.
Das, was der Lehrer ihm rät, hatte ihm auch sein Vater bei ihrer letzten Begegnung als Lebensweisheit mit auf den Weg gegeben: Leben für andere, sich selber nicht so ernst nehmen! Das klingt ein wenig nach Katechismus und Konfirmandenunterricht, aber bedenkenswert ist es schon. Schließlich handelte es sich ja nicht um Meinungen oder Weltanschauungen, sondern um einen ganz praktischen Versuch, das Leben erträglich zu machen.
Ob dies ein Ausweg ist? Im konkreten Fall vielleicht. Aber jedes Menschenleben ist zugleich einzigartig und repräsentativ – so auch die jeweilige Form der Einsamkeit. In den geschilderten Fällen ging es um einen Dichter im Werden; einen Gelehrten, der nach Anerkennung strebt; einen Geistlichen, der sich entschlossen hat, als Eremit Buße zu tun; und im Roman von Hesse um einen Musiker, der seinen Weg sucht. Sie alle, sollte man meinen, könnten noch am ehesten in der Lage sein, mit ihrer Situation fertig zu werden. Aber was ist mit den sozial Abgehängten, denen die materiellen und oft auch die intellektuellen Ressourcen für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben fehlen? Sie haben kaum Fürsprecher oder Anlaufstellen; sie leben meist anonym und man weiß wenig über sie. Das zu ändern – darum hat sich der leider viel zu früh gestorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu bemüht. Gemeinsam mit einer Studiengruppe hat er eine Vielzahl von Einzelfällen dokumentiert, die zeigen, wie Menschen in Notlagen geraten, aus denen sie kaum je wieder hinausfinden. Unter dem Titel Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft erschien die umfangreiche Studie 1997. Da eine vergleichbare Arbeit meines Wissens hierzulande fehlt, soll an dieser Stelle auf die Arbeit Bourdieus und seiner Mitstreiter zumindest einmal hingewiesen werden.
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