1. Pandemie, Energiepreisexplosion durch den Krieg in der Ukraine, Inflation – wie haben sich die Krisen dieser Zeit auf die Armut und soziale Ungleichheit in Deutschland konkret ausgewirkt?
Sowohl die Covid-19-Pandemie wie auch die Energiepreisexplosion und die Inflation haben polarisierend auf die Verteilungsverhältnisse gewirkt. Während die Armen zahlreicher geworden sind, wurden viele Reiche in diesen Krisenzeiten noch reicher. Nur spricht kaum jemand über die Inflation der Gewinne. Hinsichtlich der Armutsentwicklung zeichnen sich drei Tendenzen ab: Erstens nimmt die Zahl der Einkommensarmen zu, die bereits Ende 2021 mit 13,8 Millionen, was 16,6 Prozent der Bevölkerung entsprach, auf einen historischen Höchststand lag. Zweitens droht relative Einkommensarmut in mehr Fällen in absolute, existenzielle oder extreme Armut umzuschlagen, wenn Menschen durch Zwangsräumungen wohnungs- oder gar obdachlos werden. Drittens wächst die statistisch nicht erfasste und auch nur schwer erfassbare, weil eher verborgene Armut von Mittelschichtangehörigen, deren Einkommen zwar über der Armutsrisikoschwelle liegt, aber wegen steigender Ausgaben trotzdem nicht mehr ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu decken.
2. Die Ampel-Koalition hat versucht, die gravierendsten Folgen steigender Energiekosten für Privathaushalte und Unternehmen durch diverse Entlastungspakete abzufedern – mit Erfolg?
Bei den Entlastungspaketen standen – wie schon bei den staatlichen Finanzhilfen für Pandemiegeschädigte – Unternehmen und Erwerbstätige im Vordergrund. Vor allem die Steuerentlastungen nützten Geringverdiener(inne)n wenig und Transferleistungsbezieher(inne)n gar nichts, weil sie kaum bzw. gar keine Einkommensteuer zahlen. Auch breit streuende Pro-Kopf-Zahlungen an einen großen Personenkreis wie die Energiepreispauschale halfen nicht passgenau. Selbst die Transfers für bedürftige Haushalte wie der Heizkostenzuschuss oder die Einmalzahlungen für Menschen in der Grundsicherung waren nur begrenzt geeignet, die Hauptbetroffenen zu entlasten. Denn sie bekämpfen zwar die Symptome, beseitigen jedoch nicht die Ursachen. Liquiditätshilfen und Entlastungspakete zur Bewältigung akuter Notlagen während einer Wirtschaftskrise, einer Pandemie oder einer Inflation können Armen helfen, aber nicht für immer verhindern, dass finanzschwache Bevölkerungsgruppen durch solche Krisenereignisse in Schwierigkeiten geraten. Deshalb müssten die bestehenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen angetastet werden, damit sich die sozioökonomische Ungleichheit verringert und niemand mehr in Existenznot gerät.
3. Sie kritisieren seit Jahren die Berichte der Bundesregierungen zur Entwicklung von Armut und Reichtum in der Bundesrepublik. Was ist falsch daran?
Alle sechs bisherigen Armuts- und Reichtumsberichte ähneln Erfolgsbilanzen der Bundesregierung, anstatt die soziale Spaltung unseres Landes zu dokumentieren. Armut wird eher verharmlost und die Konzentration des Reichtums verschleiert. Eine gute Basis für die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der Bundesregierung könnten Armuts- und Reichtumsberichte nur dann sein, wenn sie die im Titel genannten „Lebenslagen in Deutschland“ darstellen, die gesellschaftlichen Ursachen für wachsende Ungleichheit analysieren und daraus entsprechende Handlungsempfehlungen ableiten würden. Obwohl der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht nicht ganz so blauäugig ausfiel wie frühere Dokumente seiner Art und der Reichtum weniger stiefmütterlich als in den Vorgängerberichten behandelt wurde, wuchs das Problem der sozioökonomischen Ungleichheit, ohne dass die Bundesregierung hieraus Konsequenzen gezogen hätte. Es fehlt nämlich längst nicht mehr an statistischen Daten, aber immer noch an politischen Taten.
4. Welche politischen Instrumente wären sinnvoll und wirksam, um die Kluft zwischen Arm und Reich mindestens etwas zu schließen – Erhöhung der Erbschaftsteuer, Wiedereinführung der Vermögensteuer, Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle oder eines staatlich finanzierten Startkapitals für jeden volljährigen Bundesbürger?
Ungleichheit muss bekämpft, Armut beseitigt und Reichtum begrenzt werden. Nötig wären eine weitere Anhebung des Mindestlohns und des Bürgergeldes, die Wiedererhebung der Vermögensteuer – sie steht noch im Grundgesetz und muss nicht neu geschaffen werden –, die Erhöhung des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer und die Verschärfung der Erbschaftsteuer für Firmenerben, weil man in Deutschland einen ganzen Konzern erben kann, ohne einen einzigen Cent betriebliche Erbschaftsteuer zahlen zu müssen. Von einem bedingungslosen Grundeinkommen halte ich nichts, weil eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip weder gerecht ist noch etwas an der sozialen Ungleichheit ändert. Dies gilt auch für ein Grunderbe, also die Ausstattung der Volljährigen mit einem Startkapital durch den Staat. Einerseits bliebe das drängende Problem der Kinderarmut ungelöst, weil die Unter-18-Jährigen (zunächst) leer ausgehen. Andererseits würden genau wie beim Grundeinkommen alle Menschen über einen Leisten geschlagen. Schon die griechischen Philosophen der Antike wussten aber, dass man Gleiche gleich und Ungleiche ungleich behandeln muss, soll es gerecht zugehen. Millionen armen Familien, Rentnerinnen und Minijobbern müsste es wie Hohn erscheinen, dass junge Erwachsene über Nacht zu „kleinen Kapitalisten“ gemacht werden sollen.
5. Welche Auswirkungen hat ein immer stärkeres Sozialgefälle für die Demokratie?
Es fördert Tendenzen zur Entsolidarisierung, Entpolitisierung und Entdemokratisierung. Die ausgeprägte Ungleichheit ist Gift für den sozialen Zusammenhalt. Sowohl das Ideal der politischen Gleichheit aller Staatsbürger/innen wie auch die Legitimationsbasis der Demokratie leiden unter der sozialen Polarisierung, weil diese mit einer schwindenden Partizipationsbereitschaft der Armen ebenso verbunden ist wie mit einer politischen Überrepräsentation der Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen. Arme gehen kaum noch zur Wahl, weil sie merken, dass ihre Interessen keine Berücksichtigung finden. Wer einen sozialen Abstieg oder Absturz fürchtet, wendet sich aus Enttäuschung über die etablierten Parteien erfahrungsgemäß politisch häufig nach Rechtsaußen. Die ökonomische und soziale Zerrissenheit der Bundesrepublik zieht auch eine politische Zerrissenheit nach sich: Das parlamentarisch-demokratische Repräsentativsystem befindet sich in einer tiefen Krise, das wegen seiner Stabilität gerühmte Modell der „Volksparteien“ franst aus, die Wahlbeteiligung sozial Deklassierter ist stark gesunken und Teile der unteren Mittelschicht sind für die rechtspopulistische Demagogie (etwa der AfD) ebenso anfällig wie für die rassistische bzw. nationalistische Ideologie, mit der sie nur Sündenböcke für von ihnen beklagte Fehlentwicklungen finden, aber nicht die wahren Verursacher der gesellschaftlichen Spaltung haftbar machen.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ veröffentlicht.