Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf eine Hochschule in gesellschaftlicher Verantwortung
Die deutschen Hochschulen haben seit der Jahrhundertwende die größten Umbrüche seit den preußischen Universitätsreformen hinter sich. Es fand ein Leitbildwechsel weg vom humboldtschen Bildungsideal hin zum hayekschen Glauben an die Überlegenheit der Markt- und Wettbewerbssteuerung einer vom Staat „entfesselten Hochschule“ statt.
Unter dem positiv und vor allem bei den Hochschulangehörigen sympathisch empfundenen Tarnwort „Autonomie“ wurde in Deutschland ein Systemwechsel von der sich selbstverwaltenden Gruppenuniversität zur „unternehmerischen“ Hochschule vollzogen.
Dieser Leitbildwechsel hat zwar in den verschiedenen Hochschulgesetznovellierungen der Länder im Verlauf der zurückliegenden Dekade unterschiedliche Ausprägungen erfahren, aber die Grundtendenz war überall gleich. Nämlich weg von der demokratisch verantworteten, sich selbst verwaltenden Hochschule hin zur wettbewerbsgesteuerten Hochschule. Der Wettbewerb auf dem Forschungs- und Ausbildungsmarkt und „Standortkonkurrenz“ sollten zu den wichtigsten Steuerungsinstrumenten der Hochschul- und Forschungsentwicklung werden.
Die einer privatrechtlichen Aktiengesellschaft nachgebildete Aufsichtsratsstruktur der Hochschulräte kam einer „funktionellen Privatisierung“ der öffentlichen und staatlich nur noch „bezuschussten“ Hochschulen gleich. Die öffentlichen Hochschulen wurden zwar noch staatlich subventioniert, die Differenz zwischen staatlicher und privater Hochschulträgerschaft verlor aber an Bedeutung.
Wie kam es zu diesem Leitbildwechsel?
Um die These einer „funktionalen Privatisierung“ – wie ich es nannte – der deutschen Hochschulen plausibel zu machen und die Akteure in diesem Prozess auszumachen, muss ich etwas ausholen und zurückschauen: Nach dem Bruch der sozial-liberalen Koalition, angestoßen durch ein „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche...“ des damaligen Bundeswirtschaftsministers Graf Lambsdorff von der FDP aus dem Jahre 1982, haben der „Thatcherismus bzw. die „Reaganomics“ auch in Deutschland ihren Siegeszug angetreten. Das Rezept war, vereinfacht gesagt: Der Markt kann alles besser als der Staat.
Auf diesen politischen Mainstream sind die meisten Parteien eingeschwenkt, auch die SPD mit ihrer Agenda-Politik und auf dem Feld der Hochschulpolitik mit dem Anstoß zur „Exzellenzinitiative“ im Jahre 2005 durch die damalige Wissenschaftsministerin Edelgard Bulmahn und auf Länderebene mit den Bologna-„Reformen“. Um dieser Markt- und Wettbewerbsideologie politisch zum Durchbruch zu verhelfen, mussten die staatlichen Angebote schlecht geredet werden. Das betraf auch die Hochschulen: Sie seien „Mittelmaß“, im „Kern verrottet“ (so der damalige Bundesgeschäftsführer der SPD, Peter Glotz) oder einfach nur „krank“. Über die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten ist allmählich auch die überwiegende Mehrheit der Hochschulangehörigen auf den neoliberalen Mainstream eingeschwenkt bzw. hat sich nicht mehr dagegen gewehrt, auch weil man angesichts der jahrelangen Unterfinanzierung der Hochschulen vom Staat nichts mehr erwartet hat.
Die Bertelsmann Stiftung als Triebkraft für den Leitbildwechsel
Einer der stärksten gesellschaftlichen Motoren für den hochschulpolitischen Leitbildwechsel war die Bertelsmann Stiftung mit der Mission ihres Stifters Reinhard Mohn, wonach eine über den Wettbewerb hergestellte Effizienz ein überlegenes Steuerungsmittel auch für die bis dahin selbstverwalteten Hochschulen sei. Für Mohn waren die Hochschulen der „Schlüssel zur Gesellschaftsreform“. Mohn versuchte zunächst mit der ersten deutschen Privaten Universität Witten-Herdecke, deren Hauptsponsor er war, einen „Stachel ins Fleisch“ der öffentlichen Hochschulen zu setzen. Weil sich jedoch nicht ausreichend private Geldgeber fanden, vor allem aber weil aufgrund der Qualität der öffentlichen Hochschulen offenkundig wenig Bedarf an teuren privaten Hochschulen bestand, schien es für Mohn zielführender, staatlich finanzierte öffentliche Hochschulen wie private Unternehmen in den Wettbewerb zu schicken. Diese Erkenntnis haben Mohn und seine Berater wohl veranlasst 1994 das „Centrum für Hochschulentwicklung“ (CHE) in Gütersloh zu gründen. Der damalige Leiter des CHE, Detlef Müller-Böling, entwickelte im Jahr 2000 das Leitbild einer „Entfesselten Hochschule“.
Klugerweise nahm das CHE die damals ohne jeden Apparat und ohne großen institutionellen Einfluss auf die Hochschulpolitik agierende, aber umso standesbewusstere Hochschulrektorenkonferenz (HRK) mit ins Boot und konnte sich so ein unverdächtiges Entree in die öffentlichen Hochschulen verschaffen – vor allem über die Hochschulleitungen. Die Bertelsmann Stiftung entwickelte sich wie Harald Schumann im Tagesspiegel schrieb zu einer „Macht ohne Mandat“.
Die Entstehungsgeschichte des sog. „Hochschulfreiheitsgesetzes“ (HFG) in Nordrhein-Westfalen unter der schwarz-gelben Koalition in den Jahren 2005 und 2006 ist ein Musterbeispiel dafür, wie sich Parlament und der Regierung aus ihrer Verantwortung für ein zentrales Feld der Zukunftsgestaltung zurückzogen und dem Druck einer privaten Lobbyorganisation nachgaben und sich quasi zur verlängerten Werkbank des „Centrums für Hochschulentwicklung“ degradieren ließen.
Schaut man nämlich einmal genauer hin, woher das im HFG in Gesetzesform gegossene Konzept vom Rückzug des Staates zugunsten einer „unternehmerischen Hochschule“ (so der damalige Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP)) stammt, so stößt man auf die sog. „Governance Struktur“ des „New Public Management“-Modells, das vom bertelsmannschen Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), dem „Stifterverband für die deutsche Wissenschaft“ – dem Interessenverband deutscher Unternehmen auf dem Feld der Wissenschaftspolitik – und der OECD seit den 90iger Jahren der Politik angedient, um nicht zu sagen aufgenötigt wurde.
Dem CHE ist es darüber gelungen ein vielfältiges Netzwerk finanzstarker Unterstützer aufzubauen. Im „Privatisierungsreport Nr. 6“ der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) werden über den „Stifterverband“ hinaus etwa der „Aktionsrat Bildung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V.“ (vbw), die von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanzierte „Initiative Neue Soziale Markwirtschaft“ (INSM), das arbeitgebernahe „Institut der deutschen Wirtschaft“ (IW) oder auch die McKinsey&Company Inc. genannt.
Die „Unterfinanzierung“ als Triebfeder für die „Entstaatlichung“ der Hochschulen
Statt Selbstverwaltung und staatlicher Garantie der grundgesetzlich garantierten individuellen und subjektiven Wissenschaftsfreiheit, sollte der Wettbewerb auf dem Forschungs- und Ausbildungsmarkt und „Standortkonkurrenz“ zu den wichtigsten Steuerungsinstrumenten der Hochschul- und Forschungsentwicklung werden.
Wir hatten es zu tun mit einer Verschiebung der Organisationsverantwortung zu Lasten der klassisch-parlamentarischen Repräsentation der gesellschaftlichen Interessen und einer Erosion der klassischen Verbändebeteiligung zu Lasten der Selbstverwaltung der als öffentliche Körperschaft organisierten Hochschulen und – wie der Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg 2016 geurteilt hat – zu Lasten der Träger der Wissenschaftsfreiheit, nämlich die einzelnen Wissenschaftler.
Neben der Markt- und Wettbewerbsideologie und den Interessen der Wirtschaft gab es für die Politik eine weitere Triebfeder für die „Entstaatlichung“ der Hochschulen. Die jahrzehntelange „Unterfinanzierung“ der Hochschulen wurde von Regierung und Parlament „in aller Freiheit“ als Verteilungskonflikt auf die Hochschulebene nach unten weiter gereicht. In Zeiten der „Schuldenbremse“ auch für die Länderhaushalte blieb für die teurer werdende Forschungsentwicklung an den Hochschulen vor allem der Rückgriff auf außerhochschulischen Drittmittel und „private Einnahmen“: „Mehr Wissen für weniger Geld und gleichzeitig mehr Geld aus der Verwertung von Wissen“ galten als zukunftsträchtige Forschungsstrategie an den Hochschulen. „Fishing-for-Money“ und „Business Case-Denken“ wurden ganz unverblümt als Methoden zum Ausgleich für noch weiter rückläufige staatliche Grundmittel empfohlen. Ohne Drittmittel wäre der Forschungsbetrieb an den Hochschulen heutzutage kaum mehr möglich. Etwa jeder dritte Euro der Drittmitteleinnahmen kommt von der (überwiegend vom Bund finanzierten) „Deutschen Forschungsgemeinschaft“ (DFG), diese wurde faktisch immer mehr in die Rolle eines Grundfinanziers von Hochschulforschung gedrängt; gut ein Fünftel der Gelder kommt von der gewerblichen Wirtschaft. An einzelnen Technischen Hochschulen kommt fast die Hälfte der Forschungsmittel von der Wirtschaft.
Annähernd 40 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen sind (ganz überwiegend in befristeten Arbeitsverhältnissen) drittmittelfinanziert. Der „Stifterverband“ schätzt, dass an die tausend Lehrstühle von Finanziers mit Eigeninteresse gefördert oder komplett finanziert werden. „Transparency International“ und das Online-Portal „hochschulwatch.de“ machen mehr und mehr dubiose Sponsoring-Fälle öffentlich. Die Pharma-Industrie ist mit der Finanzierung von sog. „Anwendungsbeobachtungen“ besonders aktiv.
„Exzellenzinitiative“ führt zu einer hierarchisch gestaffelten Hochschullandschaft
Auch bei der „Exzellenzinitiative“, ein von Bund und Ländern ab 2005/06 ausgelobtes Programm zur Förderung der Spitzenforschung, war der Grundgedanke, dass Wettbewerb die Leistungsfähigkeit der deutschen Hochschulwissenschaft steigern würde. Man wollte die Abwanderung kluger Köpfe stoppen und mit den Eliteuniversitäten etwa in den USA konkurrieren.
Spitzenforschung ist jedoch herausragendes Arbeiten einzelner Wissenschaftler in einem weltweiten Verbund. Deshalb ist es auch Unsinn, ganze Universitäten mit der Plakette “Elite” zu versehen.
Tatsächlich zielt dieser Wettbewerb auf eine hierarchische bzw. vertikale Differenzierung unter den Hochschulen ab, wie auch dem Bericht der sog. Imboden-Kommission von 2016 ganz offen sagte. Daraus hat sich mehr und mehr ein Zwei- oder gar Dreiklassensystem in der Hochschullandschaft ergeben. Es gibt eben nicht nur Gewinner, sondern eine Mehrheit an Verlierern. Damit verlor Deutschland eines der weltweit anerkannten Qualitätssiegel seiner Hochschullandschaft: Eine zwar nicht gleichartige, aber eine qualitativ relativ hochwertige und gleichwertige Breite. Das Matthäus-Prinzip schlug das humboldtsch Universitätsideal: Wer hat, dem wird gegeben. „Exzellent“ ist, wer die meisten Geldgeber findet.
Die Zielvorstellung der „Exzellenzinitiative“ entspricht also in etwa dem amerikanischen Hochschulsystem mit einer hierarchisch tief gestaffelten Hochschullandschaft einiger weniger Spitzenuniversitäten mit hoher Forschungsreputation und Ausbildungsangeboten für den Nachwuchs der Upper Class und der großen Masse von Hochschulen ganz unterschiedlicher Qualität für die große Masse der Studierenden. Dabei wird übersehen, dass einige der Eliteuniversitäten in den USA ein höheres Jahresbudget haben als die meisten Haushalte für die Hochschulen in den Bundesländern.
Um in diesem „Exzellenz“-Wettbewerb bestehen zu können, sind z.B. zwei Exzellenzcluster erforderlich, das konnten nur die großen und finanzstarken Hochschulen schaffen. Bis auf wenige Ausnahmen sind unter den 11 Gewinnern der letzten Runde immer nur die „üblichen Verdächtigen“ also vor allem die großen Technischen Hochschulen in Aachen und München, der Verbund der drei Berliner Unis und als Zugeständnis für den regionalen Proporz, die TU Dresden und die Unis in Hamburg und Bonn. Hinzu kommen dann noch die Ludwig-Maximilian-Universität München und die Unis in Konstanz, Heidelberg, Tübingen und das Karlsruher Institut of Technology. Das ganze Ruhrgebiet ist noch nie zum Zuge gekommen. Seit 2005 flossen mit der „Exzellenzinitiative“ etwa 45 Milliarden, gleichzeitig stagnierten die Grundmittel der Hochschulen und im Verhältnis zu den Studierendenzahlen waren sie sogar rückläufig.
Für eine Hochschule in gesellschaftlicher Verantwortung
Natürlich haben die Hochschul-„Reformen“ der letzten Dekaden Fakten geschaffen, die nicht mehr oder nur schwer korrigierbar sind, aber da diese Reformwellen inzwischen auf zahllose Sandbänke aufgelaufen sind und allmählich zurückschwappen, ist vielleicht ein guter Zeitpunkt gekommen, die öffentliche Debatte von der wettbewerbsgesteuerten in Richtung auf eine wieder mehr demokratische und vor allem auch auf eine soziale Hochschule zu lenken.
Auf der administrativen und gesetzgeberischen Ebene müsste zur Vermeidung des steuernden Einflusses von gesellschaftlichen Partikularinteressen die Freiheit der Wissenschaft – wie das etwa das hochschulpolitische Programm des Deutschen Gewerkschaftsbundes aus dem Jahre 2012 fordert – wieder vom Nutzen und Fortschritt der gesamten Gesellschaft her gedacht werden.
Die Autonomie- und die Demokratiefrage für die öffentlichen Hochschulen müsste neu gestellt werden. D.h. die Selbstbestimmung der Grundrechtsträger der Wissenschaftsfreiheit und die gesellschaftliche Verantwortung der öffentlichen Hochschulen müsste wieder besser miteinander vermittelt werden. Mitbestimmung und Partizipation der Wissenschaftler (und auch der Studierenden) als Grundrechtsträger wäre ein unverzichtbarer Bestandteil einer autonomen Hochschule.
Gerade die staatliche gewährte Freiheitsgarantie und nicht zuletzt die ganz überwiegende Finanzierung durch die Allgemeinheit begründen nicht nur die Verantwortung der Hochschulen gegenüber der Gesellschaft, sondern auch eine Pflicht der Wissenschaftler über die Ziele, Inhalte, Ergebnisse und die Folgen von Forschung und Lehre selbstkritisch gegenüber der Öffentlichkeit Rechenschaft abzulegen. Die Hochschule in der Demokratie wäre zu Transparenz und Kommunikation verpflichtet (Stichworte: „Open Access“, Wissenstransfer).
Parlament und Regierung sollte eine Rahmenplanung, etwa über den Ausbau von Studienplätzen für einzelne Fächer (z.B. Kapazitäten in der Medizin oder der Lehrerausbildung) oder für den Erhalt von sog. „Rosinenfächern“ (z.B. Numismatik, Orientalistik etc.) überlassen werden.
Statt externen, freischwebenden Hochschulräten sollten für den Austausch zwischen Hochschulen und Gesellschaft plural zusammengesetzte Kuratorien als institutionelle Beratungsinstitutionen dienen.
Auf der Finanzierungsebene müsste vor allem eine deutlich verbesserte Grundfinanzierung wieder Grundlage für eine freie Forschung jedes einzelnen Hochschulwissenschaftlers werden. Im Sinne der Garantie der Freiheit von Forschung und Lehre wäre eine größtmögliche Transparenz darüber nötig, wie viel für welche Forschungsziele von privaten oder auch staatlichen Auftraggebern bezahlt wird.
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Im Urteil des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg von 2016 wird eine verfassungskonforme Neuregelung bis zum 31. März 2018 gefordert. Hat diese die Hochschulen wieder etwas unabhängiger von vorrangig an einzelwirtschaftlichen Interessen orientierten Gremien gemacht?