Wir haben es mit zwei „Ukraine Krisen“ zu tun, nicht nur mit einer. Es steht gegenwärtig nicht nur die „Ukraine Krise“ im Sinne der Grundsatzfragen auf der Tagesordnung, die die beiden russischen Vertragsentwürfe aufwerfen. Auf den Grundsatzkonflikt – Stichwort „Ende der NATO-Expansion“ – wird in den Beiträgen, die den Westen zur Lösung der Konfliktlage aufrufen, so auch auf dem Blog der Republik, fast ausnahmslos Bezug genommen.
Diese Fokussierung ist gefährlich. Kurzfristig gibt es nämlich auch das Problem, dass Russland erhebliche Truppen grenznah – unter Winterbedingungen – stationiert hat. Es geht, im besten Fall, um deren gesichtswahrenden Abzug – oder um deren Verwendung. Es gibt auch diese militärische Lage, die eine Auflösung in kurzer Frist braucht. Grund der Truppenmassierung Russlands ist natürlich auch der Aufwuchs militärischer Kapazitäten der Ukraine – das zählt zu Russlands Gravamina. Irritierend ist die geringe Berichterstattung dazu. Denn es gilt doch: Außenpolitik ist in aller Regel eine Funktion der Innenpolitik. Das gilt nicht allein für Russland, es gilt auch für die NATO-Staaten, es gilt inbesondere auch für die Ukraine.
Eine zentrale Rolle scheint die Bereitstellung von Drohnen-Kapazitäten zu spielen. Die Türkei hat nicht lediglich, und das ohne Beschränkungen des Einsatzes, Bayraktar TB2 Drohnen verkauft, die Türkei und die Ukraine haben überdies ein Abkommen geschlossen, eine Produktionsstätte für diesen Drohnen-Typ in der Ukraine zu errichten. Man muss dazu wissen, dass die sowjetische Raketen-Produktion ihr Zentrúm im Raume Dnipropetrowsk hatte. Am 26. Oktober 2021 hat die ukrainische Armee erstmals eine solche Drohne eingesetzt, mit vollem Erfolg, gegen eine Artillerie-Stellung auf der Rebellen-Seite. Dabei gilt die Abmachung, dass die OSZE-Überwachungskräfte die einzigen sind, die Drohnen einzusetzen berechtigt sind. Diese Entwicklung bedroht die ungefähre Balance bzw. Patt-Situation der Landstreitkräfte beider Seiten, weil die Ukraine nun einseitig „in den Luftraum geht“ – was von seiten Russlands, das mit seinen Luftstreitkräften völlig überlegen ist, nur ausgeglichen werden kann, wenn es die Verdeckung seiner Unterstützung aufgibt und seine Luftstreitkräfte offen zum Einsatz gebracht werden können.
Die Verhandlungen zur Beschränkung der NATO-Erweiterung können nicht in der erforderlichen Frist zu Ergebnissen kommen; das ist für den Westen – seinerseits gesichtswahrend – kaum möglich.
Für das in kurzer Frist zu lösende Problem gibt es die Option eines Minimal-Szenarios. einer russischen „Invasion“, dass die Streitkräfte Russlands das Rebellengebiet militärisch offen übernehmen. Anfang Dezember ist dieses Szenario und das mögliche Kalkül dahinter auf diesem Blog bereits erläutert worden.
Russische Gerichte haben inzwischen offenbart, dass im Rebellengebiet reguläre russische Streitkräfte eingesetzt sind. Wenn die dort tätigen Soldaten ihre korrekten Uniformen anziehen und ihre korrekten Personalpapiere auf sich tragen, so hat sich nichts Wesentliches geändert.
Die Frage ist, wie der Westen darauf reagiert. Was nämlich faktisch keine Änderung gegenüber dem jetzigen Zustand ist, ist völkerrechtlich eine „Invasion“.
Bislang ist von den Experten der sicherheitspolitischen Community wie in den Medien, meiner Wahrnehmung nach, keine Debatte darüber geführt worden, was die rote Linie, die Präsiden Biden am 7. Dezember 2021 im Gespräch mit Präsident Putin gezogen hat, bedeuten könnte. Der Schlüsselbegriff „Invasion“ blieb unangetastet. Selbstverständlich ist, dass es unterschiedliche Grade des Ausmaßes einer „Invasion“ gibt und man klugerweise sich vorbehalten sollte, darauf differenziert zu reagieren. Klug wäre auch, die westlichen Öffentlichkeiten darauf vorzubereiten. Das ist bislang nicht der Fall gewesen.
In diese medial unvorbereitete Situation hinein hat nun ausgerechnet Präsident Biden selbst diese Differenzierung öffentlich erstmals eingebracht – das ist nicht sonderlich strategisch gedacht. „Minor incursion“ ist das Stichwort. Es geschah bei seiner Pressekonferenz aus Anlass seines einjährigen Präsidentschaftsjubiläums – da durfte zu allem gefragt werden; das hat ihn wohl überfordert, er ist ins „Plaudern“ gekommen. Ein Betriebsunfall.
Jedenfalls ist er umgehend unter Feuer gekommen, seitens der Ukraine und der GOP – zwei Akteure, deren Agenden leicht durchschaubar sind. Seitdem ist das Großthema in diversen Medien , auch im Empörungsmodus. So droht eine gesichtswahrende Begrenzungsoption, verfrüht ausgeplaudert, auf dem Medienmarkt „zerschossen“ zu werden – ein Trauerspiel, denn deren Vorrat ist äußerst knapp.