Am Rande des NATO-Gipfels am 10. Juli dieses Jahres wurde folgende „gemeinsame Erklärung der Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland“ veröffentlicht. In dieser knappen 9-Zeilen-Erklärung heißt es:
„Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren.
Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen.
Die Beübung (so wörtlich) dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten verdeutlichen die Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung.“
Um was geht es eigentlich?
- SM-6 Luft-/Raketenabwehr-Raketen. Es sind defensive Waffen, überwiegend zur Abwehr bestimmt. Diese Standard Missiles-6 Raketen haben jedoch auch eine Boden-Boden-Luftangriffsfähigkeit. Ihre Reichweite zur Bodenangriffsfähigkeit wird US-seitig mit 460 km, von russischer Seite mit 740 km angegeben.
- Tomahawk-Marschflugkörper (cruise missiles) fliegen im Unterschallbereich, dafür extrem tief, unterhalb eines gegnerischen Radars und können so der Luftabwehr entkommen. Sie werden von auf Straßen bewegbaren Abschussrampen gestartet und haben eine Reichweite von 1.700 bis 2.500 km. Sie sind der NATO bereits seegestützt verfügbar, neu ist die Landstützung.
- Bei den hypersonischen Waffen handelt es ich um eine noch in der Endphase ihrer Erprobung befindliche Hyperschall-Rakete, Dark Eagle, die ein Reichweite von ca. 2.800 km hat und mit 17-facher Schallgeschwindigkeit auf variabler Flugbahn fliegt und mit einem Sprengkopf von hoher Explosionskraft Ziele präzise ansteuert. (Siehe hierzu „Die Debatte zur Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland. Vom Zwang, aus Solidarität nicht vorurteilslos zu denken„)
Über die Zahl dieser Waffensysteme die in Deutschland stationiert werden sollen, gibt es bisher keine Angaben. Wer die Kosten trägt und in welchem Umfang ist unbekannt. Auch wer die Befehlsgewalt haben wird, ist nicht angesprochen. Da die Waffensysteme im Rahmen der sog. Multi-Domain Task Force von den USA stationiert werden, um (so wörtlich) „die Handlungsfreiheit der US-Streitkräfte (zu) unterstützen“, ist davon auszugehen, dass die deutsche Regierung nicht einmal ein Veto-Recht besitzt.
Eine neue Qualität dieser Aufrüstung
Mit der Stationierung solcher amerikanischen Waffensysteme ab 2026 werden zum ersten Mal seit dem Inkrafttreten des INF-Abrüstungs-Vertrags im Jahr 1988 von Deutschland aus wieder Ziele tief in Russland mit landgestützten Systemen strategischer Reichweite von Deutschland aus bedroht. Das harmlos klingende „strategisch“ meint übrigens kriegsentscheidend. Die Reichweite schließt nämlich Städte wie Moskau ebenso ein wie Basen der russischen strategischen Nuklearstreitkräfte, aber auch kritische Infrastruktur oder Industrie- und Rüstungspotenzial – jedenfalls bis zum Ural.
Es sollen konventionelle Waffen sein. Aber zumindest von den Thomahawks weiß man, dass sie technisch auch nuklear bewaffnet werden könnten.
Außerdem wird die geringere Zielgenauigkeit von Nuklearraketen der 80er Jahre durch die weitaus höhere Sprengkraft heutiger konventioneller Waffen nahezu ausgeglichen.
Was sind die Unterschiede zum Nachrüstungs- oder „Doppelbeschluss“ von 1979?
– Erstens: Es handelt sich um eine Stationierung ausschließlich in Deutschland und nicht auch – risikoverteilt – in anderen NATO-Ländern.
Wir hatten schon einmal Mittelstreckenraketen in Europa, nämlich nach 1983. Damals hat Bundeskanzler Helmut Schmidt die deutschen Interessen nachhaltig gegenüber dem damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter vertreten. Schmidt hat massiv darauf hingewirkt, eine ausschließliche Stationierung in Deutschland zu vermeiden. Das Risiko wurde dann auch auf vier weitere Bündnispartner verteilt.
Obwohl die bilaterale Vereinbarung erhebliche Auswirkung auf die Sicherheitslage nicht nur für Deutschland, sondern auch für alle anderen Bündnispartner hat, taucht die neuerliche Stationierungs-Entscheidung in der Schlusserklärung des Gipfels anlässlich des 75. Jubiläums der NATO vom 9. bis 11. Juli dieses Jahres nicht auf. Im Gegenteil: In dieser Washingtoner Gipfelerklärung wurde die Bereitschaft zu Rüstungskontrolle und Abrüstung bekräftigt. (Siehe Ziffer 9 der Schlusserklärung)
Die Stationierung ausschließlich in Deutschland widerspricht dem in der NATO verankerten Gebot der Risiko- und Lastenteilung. Mit der bilateralen Stationierungsmitteilung weicht Deutschland zum ersten Mal von seinem bisher strikt eingehaltenen Kurs ab, nämlich sich nicht singularisieren zu lassen.
Zweitens: Bei der bilateralen Vereinbarung fehlt eine rüstungskontrollpolitische Einhegung
1979 gab es einen sog. „Doppelbeschluss“ mit einer Abrüstungs- bzw. Rüstungskontrollperspektive, die ja dann 1988 auch zum INF-Abrüstungsvertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) führte. Dieser Vertrag verbot landgestützte Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern, die auch Atomsprengköpfe tragen können. Etwa 3.000 Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten wurden danach abgezogen und großteils vernichtet. Auch Tests solcher Waffen waren verboten.
Drittens: Anders als damals gab es keine vorherige parlamentarische oder öffentliche Diskussion
Dem damaligen sog. Nachrüstungsbeschluss von 1979 ging eine intensive Diskussion auch innerhalb der NATO voraus und ihm folgten mit die größten Demonstrationen, die Deutschland je erlebt hat. Bundeskanzler Scholz verkündete die gemeinsame Erklärung en passant des NATO-Gipfels, ohne vorher das Parlament oder die Öffentlichkeit informiert zu haben.
Olaf Scholz schob als Erklärung nach: „Diese sehr gute Entscheidung ist lange vorbereitet und für alle, die sich mit Sicherheits- und Friedenspolitik beschäftigen, keine wirkliche Überraschung“.
Allzu lange konnte diese Vorbereitungszeit allerdings nicht gewesen sein. In einem erkennbar vom Kanzleramt „gebrieften“ Artikel mehrerer Autoren in der Süddeutschen Zeitung (vom 27.07.2024) heißt es, die Vereinbarung sei das Ergebnis „vertraulicher Gespräche mit den USA, die im Spätsommer vor einem Jahr (also 2023) begonnen haben“.
Olaf Scholz begründete zusätzlich: Die Stationierung passe „genau in die Sicherheitsstrategie der Bundesregierung“. „Das haben wir in der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ festgelegt. Ich habe das im Übrigen auch bei der Münchner Sicherheitskonferenz sehr ausführlich dargelegt und zur Debatte gestellt.“
Haben die Parlamentarier, die Medien und die Öffentlichkeit gar nicht bemerkt, was die Bundesregierung mit der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ beschlossen hat und was Olaf Scholz anfangs dieses Jahres in München gesagt hat? Es ist erstaunlich, dass viele Medien, die nun plötzlich wissen, dass die bilaterale Vereinbarung mit den USA Resultat schon länger andauernder vertraulicher Gespräche sei, nicht schon im Vorfeld darüber berichtet haben.
In der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ vom 14. Juni 2023 heißt es: „Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähigen Präzisionswaffen befördern.“ Einmal davon abgesehen, dass bis in die jüngste Zeit jedenfalls unklar war, was unter „abstandsfähigen Präzisionswaffen“ zu verstehen ist, ist ein Hinweis auf eine bilaterale Stationierung von US-Systemen außerhalb einer NATO-Bündnisentscheidung den bisherigen öffentlichen Äußerungen von Seiten der Regierung nicht zu entnehmen. Auch nicht, dass es sich um Raketen handelt mit Reichweiten, die Moskau bedrohen können und damit das – auch atomare – Risiko für ein singularisiertes Deutschland erhöhen. Dass unter „abstandsfähig“ auch Mittelstreckenraketen mit strategischer Reichweite fallen, wurde auch zur Überraschung von Fachkreisen erstmals in der Vereinbarung vom 10. Juli 2024 offenbart.
Vielmehr ist es sogar so, dass die gravierenden negativen Auswirkungen den in der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ hervorgehobenen Zielen, nämlich Rüstungskontrolle oder Abrüstung zu fördern, widersprechen.
In seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 17. Februar 2024 merkte Bundeskanzler Scholz nur allgemein an: „Die Bedrohung durch Russland ist real. Darum muss unsere Fähigkeit zur Abschreckung und Verteidigung glaubwürdig sein und glaubwürdig bleiben.“ Von einer bilateralen Vereinbarung über die Stationierung von amerikanischen weitreichenden Waffensystemen ist dort nicht die Rede. Im Gegenteil in München schränkte Scholz die betreffende Aussage über „abstandsfähige Präzisionswaffen“ in der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ sogar noch ein, indem er hinzufügte, dass wir darüber mit Frankreich und Großbritannien sprächen.
Absichtserklärung zur Entwicklung bodengestützter Marschflugkörper
Und in der Tat haben am Rande des NATO-Gipfels am 11. Juli Polen, Deutschland, Frankreich und Italien eine Absichtserklärung zur Entwicklung bodengestützter Marschflugkörper mit einer Reichweite von mehr als 500 Kilometern unterzeichnet. Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte, die Waffen der Amerikaner sollen Deutschland Zeit geben, bis man selbst in ähnliche Waffen investiert habe.
Diese Absichtserklärung wurde übrigens auch ohne vorherige parlamentarische Debatte abgegeben. Obwohl über entsprechende Haushaltsmittel der Bundestag entscheiden muss.
Eine gemeinsame Erklärung zu einer einseitigen Entscheidung
Die Bundesregierung versucht den Eindruck erwecken, als handelte es sich um eine gemeinsame Entscheidung. In der Mitschrift der Pressekonferenz beim NATO-Gipfel sagt Olaf Scholz dann aber genauer: „Die jüngste Entscheidung der USA!“ sei „eine sehr verantwortungsvolle und sehr passende Entscheidung der Vereinigten Staaten, diese Raketen…stationieren“ .
Im „Joint Statement“ des Weißen Hauses heißt es: “The United States will begin episodic deployments of the long-range fires capabilities of its Multi-Domain Task Force in Germany in 2026, as part of planning for enduring stationing of these capabilities in the future.”
Von einem zweiseitigen Stationierungsabkommen ist da nicht die Rede. Es handelt sich vielmehr um eine gemeinsame Erklärung zu einer einseitigen Entscheidung der USA. (Siehe auch Heribert Karch in der Berliner Zeitung v. 18.08.2024)
Ist die Stationierung eine Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine?
In der politischen und medialen Darstellung wird allgemein der Eindruck erweckt, als handele sich bei der Stationierung von Langstreckensystemen in Deutschland um eine Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. So ausdrücklich in einem Schreiben der Parlamentarischen Staatssekretärin Siemtje Möller und des Staatsministers im Auswärtigen Amt Tobias Lindner an den Verteidigungs- und den Auswärtigen Ausschuss, in dem der „Hintergrund der jüngsten gemeinsamen Erklärung“ erläutert werden soll .
Tatsache ist allerdings, dass schon unter der Obama-Administration die USA grundsätzlich entschieden haben fünf Einheiten mit landstationierten weitreichenden Waffen aufzustellen. 2017 unter Präsident Trump wurde mit der Aufstellung einer militärischen Verbandsstruktur der US-Armee begonnen und – wie einem Dokument des US-Kongress Forschungsdienstes zu entnehmen ist – handelt es sich um eine seit dem 13. April 2021 bereits unter Präsident Biden – also vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine – vorbereitete Entscheidung der USA aufgrund der Bedrohung der nationalen Sicherheit eine von fünf Multi-Domain Task Forces in Wiesbaden aufzubauen.
Gerüchte über eine Stationierung von Langstreckenraketen „Dark Eagle“ in Mainz-Kastel und eine mündliche Anfrage von Sevim Dağdelen von der Fraktion DIE LINKE haben Ende 2021 den damaligen Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende veranlasst, die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht zu bitten, sich beim Pentagon zu erkundigen. Staatssekretär Andreas Michaelis antwortete am 10. Januar 2022 auf eine mündliche Anfrage: „Die Bundesregierung hat von der Regierung der Vereinigten Staaten die Auskunft erhalten, dass keine Raketensysteme beim 56th Artillery Command im Ortsbezirk Mainz-Kastel der Stadt Wiesbaden stationiert sind und es auch keine Pläne der USA gebe, dort solche zu stationieren . Auch noch am 15. Juni 2022 – also nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine – erklärte die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der LINKEN: Es gebe keine bilateralen Pläne zur Stationierung von weitreichenden Waffensystemen. (Drucksache 20/2284, Ziffer 8)
Tatsache ist allerdings, dass schon unter der Obama-Administration die USA grundsätzlich entschieden haben, fünf Einheiten mit landstationierten weitreichenden Waffen aufzustellen. 2017 unter Präsident Trump wurde mit der Aufstellung einer militärischen Verbandsstruktur der US-Armee begonnen und – wie einem Dokument des US-Kongress Forschungsdienstes zu entnehmen ist – handelt es sich um eine seit dem 13. April 2021 unter Präsident Biden – also vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine – vorbereitete Entscheidung der USA aufgrund der Bedrohung der nationalen Sicherheit eine von fünf Multi-Domain Task Forces in Wiesbaden aufzubauen. Im April 2024 – also knapp drei Monate vor der gemeinsamen Erklärung – erfolgte ein Update zur MDTF-Ausrichtung und Stationierung, wonach das Heer die Mittelstrecken- und Langstrecken-Hyperschallbatterien in einem Long-Range Fires Battalion zusammenfassen und in den nächsten fünf Jahren abschließen soll. (So heißt es in einem Dokument des „Congressiona Research Service“ v. 19. April 2024)
Es handelt sich also um eine von langer Hand vorbereitete einseitige Entscheidung der USA. Die Verquickung mit dem russischen Angriff auf die Ukraine, dient eher dazu mit der Angst vor Putin eine öffentliche Diskussion zu lähmen oder zu unterbinden.
Ein rein exekutiver Akt, ohne Zustimmung des Parlaments?
Eine nachträglich erstellte „Kurzinformation“ der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zur Stationierung von US-amerikanischen weitreichenden Waffensystemen in Deutschland – nebenbei bemerkt unter dem in diesem Zusammenhang eher zynisch wirkenden Logo „75 Jahre Demokratie lebendig“ – kommt unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1984 zum juristischen Ergebnis, dass die Vereinbarung zwischen den USA und Deutschland ein rein exekutiver Akt sei, der weder die Rechte des Bundestags gefährde oder verletze noch gegen das Demokratieprinzip verstoße oder einem Gesetzesvorbehalt unterliege.
Die Rechtsgrundlagen, wonach die Bundesregierung ohne weitere Einbindung der legislativen Gewalt die Zustimmung zu dieser Vereinbarung geben konnte, „dürften (so heißt es wörtlich) auch hier wohl der NATO-Vertrag sowie der Aufenthaltsvertrag“ ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik vom 23. Oktober 1954 i.V.m. den dazugehörigen Zustimmungsgesetzen sein. Die Stationierung von US-amerikanischen Raketen und Marschflugkörpern (wiederum wörtlich) „dürfte sich ebenfalls im Rahmen des NATO-Bündnissystems abspielen“. Als Beleg für diese Begründung wird genannt, dass die geplante Stationierung auf dem NATO-Gipfel im Juli verkündet wurde und die Vereinbarung auf die „Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO“ verweise.
In der Schlusserklärung des NATO-Gipfels in Washington taucht diese Entscheidung jedoch – wie schon erläutert – gar nicht auf. Die Bindungswirkung zur NATO ist eher rhetorisch. (So Heribert Karch, in der Berliner Zeitung v. 18.08.2024). Und ob ein „Commitment to NATO“ – wie es in der amerikanischen Fassung des „Joint Statement“ heißt, also eine „Verpflichtung“ der USA gegenüber der NATO, also einseitig und ohne einen Bündnisbeschluss sich noch im Rahmen des Bündnissystems „abspielt“, kann man auch in Frage stellen. Die juristische Begründung der Wissenschaftlichen Dienste ist jedenfalls ziemlich dünn.
Dass eine im Vergleich etwa zu einem Truppeneinsatz in Mali so weitreichende Entscheidung für die Sicherheit Deutschlands als exekutiver Akt schmallippig mitgeteilt wird, ist eine sehr weite Auslegung des Demokratieprinzip und wird der politischen Bedeutung für die Sicherheit der Bevölkerung wohl kaum gerecht.
Gibt es einen neuen Rüstungswettlauf?
Das Fehlen einer rüstungskontrollpolitischen Einhegung der Eskalationsgefahren birgt das Risiko eines weiteren Stationierungswettlaufs.
Schon vor der Vereinbarung zwischen USA und BRD hat Putin verlautbart, Russland müsse in Reaktion auf die Verlegung von Thomahawk und SM-6 mehr russische Kurz- und Mittelstreckenwaffen produzieren und ggf. stationieren. Einen Tag nach der Veröffentlichung der bilateralen Vereinbarung, nämlich am 11. Juli, erklärte der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow: „Wir werden in aller Ruhe und mit kühlem Kopf eine militärische Antwort auf die neue Bedrohung entwickeln“ . Rijabkov schloss sogar die Stationierung von Raketen mit Atomsprengköpfen nicht aus. Auch die Antwort Putins folgte prompt: Russland werde im Fall einer Umsetzung der Pläne „spiegelbildlich“ reagieren, kündigte der Präsident Ende Juli in einer Rede vor Matrosen in Sankt Petersburg an.
Aus russischer Sicht entsteht eine Art Kuba-Analogie zu 1962 als die damalige Sowjetunion versuchte Mittelstrecken auf der den USA vorgelagerten Insel zu stationieren. Dies Situation ist mit der geplanten Stationierung von weitreichenden US-Waffen in Deutschland jedenfalls für die russische Wahrnehmung vergleichbar. Noch mehr: Die geplanten Hyperschall-Raketen sind weiter reichend, zielgenauer, zerstörerischer und kaum abzuwehren, vor allem sind sie um ein Mehrfaches schneller als damals die Raketen, die in Kuba stationiert werden sollten. Die Gefahr, dass solche bedrohlichen Waffen wegen der kurzen Vorwarnzeiten durch Russland präventiv ausgeschaltet werden könnten, ist also um ein Vielfaches höher. Es ist naheliegend, dass Russland die Stationierung bodengestützter Waffensysteme nicht als defensive Abschreckung auffasst, sondern als Aufbau der Fähigkeit zu einem Überraschungsangriff.
Ist es also nicht eher so, dass durch diese Stationierung in Deutschland, das als Drehscheibe der NATO in Europa ohnehin rüstungspolitisch exponiert ist und viele sog. Hochwertziele im Lande hat, noch mehr ins Zentrum möglicher Attacken Putins rückt? Zumindest mehr als die USA selbst als auch als andere NATO-Verbündete.
Aus Moskauer Perspektive sind solche weitreichenden Waffen – auch wenn sie nur mit konventionellen Sprengköpfen bestückt sind – eben auch strategische Waffen, da sie grundsätzlich in der Lage wären, Elemente der russischen Nuklearstreitkräfte zu zerstören. Umgekehrt besteht jedoch diese strategische Bedeutung zumindest für die USA nicht, sondern nur für Deutschland. Es ist sogar nicht auszuschließen, dass Russland deswegen auch mit seiner Nukleardoktrin reagiert, wonach der Verzicht auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen nicht mehr gilt, wenn der Gegner Mittel- und Langstreckenmarschflugkörper stationiert.
Die Verteidiger einer Stationierung sagen, Russland habe aufgrund der aktuellen Hochrüstung und der Sanktionen des Westens als Reaktion auf den Angriffskrieg in der Ukraine gar nicht die Produktionskapazitäten um ein Flugkörper-Wettrüsten zu beginnen. Aber ist dies nicht gerade ein Grund für Putin präventiv loszuschlagen?
Überdies muss wohl davon ausgegangen werden, dass mit der Stationierung der Marschflugkörper und Hyperschallgleiter eine Verlängerung des 2026 auslaufenden New-Start-Vertrags mit Obergrenzen für die strategischen Atomwaffen beider Seiten unmöglich wird.
Läge es nicht im deutschen Interesse, trotz der anhaltenden russischen Aggression gegen die Ukraine ein „Wie Du mir, so ich Dir“-Raketenwettrüsten zu verhindern?
Ist die Stationierung eine Reaktion der USA auf die russische Aufrüstung?
Immer wieder wird argumentiert, dass Russland schon längst eine Überlegenheit bei Mittelstreckenraketen, bei Marschflugkörpern mit (Zolfaghar-) Raketen aus dem Iran und Nordkorea, mit Hyperschall-Marschflugkörpern, mit der ballistischen Iskander SS 26 usw. habe. Außenministerin Annalena Baerbock gab ausschließlich Putin die Schuld für die nun beginnende Wiederaufrüstung, dieser habe schon seit Jahren „unsere gemeinsame Friedensarchitektur gebrochen“.
Jedenfalls formal haben allerdings die Amerikaner wesentliche Abrüstungsvereinbarungen, die sie zuvor mit den Russen geschlossen hatten, „aus Selbstüberschätzung“ (so Rüdiger Lüdeking u.a. Vertreter der BRD beim Büro der UN in Wien in der Süddeutschen Zeitung v. 24-08-2024) gekündigt. Dazu zählt der ABM-Vertrag, der Open Sky-Vertrag und auch der INF-Vertrag oder der angekündigte Austritt der USA aus dem Vertrag über die Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag) 2002. (Richter 2022)
Der westliche Vorwurf, Russland habe etwa den INF-Vertrag, über nukleare Mittelstreckenraketen gebrochen, wurde von Moskau stets bestritten.
Im Gegenteil: Russland behauptet, die USA hätten diesen Vertrag durch die Stationierung von Raketen eines Vertical Launch Systems (VLS) in Deveselu, in Rumänien und Redzikowo, Polen, verletzt.
Heribert Prantl hat das in der Süddeutschen in das Bild gefasst: „Man tat und tut so, als sei die Abrüstung ein Käse – ein Käse mit Löchern, den man dieser Löcher wegen gleich gar nicht mehr produziert.“
Wenn es Differenzen in der Wahrnehmung und der Interpretation von vertraglich geregelten Sachverhalten gibt, versuchen Vertragspartner üblicherweise Streitfragen in Verhandlungen zu klären. So verlangen es auch die Verträge.
Auf die Vorschläge von Putin nach der Auflösung des INF-Vertrages aus den Jahren 2019 und 2020 ein neues Moratorium für landgestützte Mittelstreckenraketen und dem Angebot von gegenseitigen Verifikationsmaßnahmen ging der Westen zunächst nicht ein. Erst im Dezember 2021 griffen die USA diesen Vorschlag auf, der russische Angriffskrieg beendete diese Vorhaben.
Der damalige Präsident Donald Trump erwähnte die Sicherheit Europas nicht, als er am 20. Oktober 2018 ankündigte, den INF-Vertrag zu verlassen. Vielmehr sei es China, das mit dem Aufbau seines Raketenarsenals die USA in der Region in eine strategisch nachteilige Position gebracht habe. Das zentrale Motiv für die Kündigung des INF-Vertrages durch Donald Trump scheint deshalb ein anderes gewesen zu sein. Trumps damaliger Sicherheitsberater John Bolton hat das auch offen ausgesprochen, er teilte seinem russischen Amtskollegen Nikolai Patruschew am 23. Oktober 2018 bilateral mit: Es gehe nicht um Russland. Die USA versuchten vielmehr mit Chinas Aufrüstung bei Mittelstreckenraketen mitzuhalten. (So auch Lüdeking a.a.O.)
Besteht eine Fähigkeitslücke?
Verteidigungsminister Pistorius meint: „Wir haben kein Wettrüsten, davon kann gar keine Rede sein. Wir holen jetzt das nach, was wir als Fähigkeitslücke beschreiben.
Bislang wartet man auf Zahlen, Daten und Fakten zu den militärischen Fähigkeiten Russlands im Vergleich zu denen der NATO vergeblich.
Wolfgang Richter, Oberst a.D. stellt in einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichten Analyse fest, dass die besagte Vereinbarung vom 10. Juli ihren konzeptionellen Zweck, die Bedrohung, der begegnet werden soll, die geplante Zahl der Raketen oder die Implikationen, die sich aus ihrer Reichweite ergeben nicht erläutere. Auch würden die bisher verfügbaren Fähigkeiten der NATO in Europa, aus der sich Fähigkeitslücken ableiten ließen, nicht bewertet. Auch eine Abwägungsdiskussion zwischen erhöhtem Risiko und Verbesserung der Abschreckung fehle.
Auch würden die bisher verfügbaren Fähigkeiten der NATO in Europa, aus der sich Fähigkeitslücken ableiten ließen, nicht bewertet.
Die Kritiker von landgestützten Waffensystemen gehen davon aus, dass jedenfalls die NATO als Ganzes über umfassende Abschreckungsmaßnahmen verfüge. Die NATO-Partner verfügten, zwar in Europa nicht über konventionelle landgestützte Marschflugkörper oder ballistische Raketen im Mittelstreckenbereich, jedoch nämlich über ein breites Arsenal von luft- und seegestützten Waffen. So wie Iskander-Raketen bei St. Petersburg oder in Kaliningrad Ziele in den baltischen Staaten, in Finnland, Polen oder Deutschland bedrohen können, könnten umgekehrt Kampfflugzeuge oder U-Boote, von denen aus Cruise Missiles gestartet werden können, auch Ziele in der russischen Enklave Kaliningrad oder tiefer in Russland angreifen. Die Seestreitkräfte der NATO seien denen Russlands qualitativ und quantitativ deutlich überlegen.
Die landgestützten US-Mittelstreckenwaffen machen demnach nur in einer Hinsicht einen Unterschied: Sie eignen sich, weil sie auf Straßen bewegt werden können, eher für verdeckte Überraschungsangriffe auf Russland als luft- und seegestützte Raketen.
Wenn es eine Überlegenheit Moskaus geben sollte, warum werden dann diese weitreichenden Waffen ausschließlich in Deutschland stationiert und nicht etwa auch in Russland viel näherliegenden Länder, etwa in Polen, Finnland oder den baltischen Staaten?
Und schließlich: Wenn die Bedrohung so akut ist, warum beginnt die Stationierung dann erst in zwei Jahren?
Warum landgestützte Raketen in einem dichtbevölkerten Gebiet und nicht seegestützte?
Was hat sich eigentlich seit 1968 an dem Argument geändert, das Helmut Schmidt, damals noch als Militärexperte seiner Partei, in seinem Buch »Verteidigung oder Vergeltung« genannt hat? Er schrieb damals: Landgestützte Systeme gehörten nach Alaska, Labrador, Grönland oder in die Wüsten Libyens und Vorderasiens, keineswegs aber in dichtbesiedelte Gebiete. Sie seien Anziehungspunkte für die nuklearen Raketen des Gegners.
Im Ausgangspunkt besonderer Gefahren ausdrücklich benannten Oblast Kaliningrad oder in Belarus, wo Russland seine bedrohenden Waffen stationiert haben soll, wohnen 68 Einwohner pro Quadratkilometer, in Belarus 46.
Wiesbaden hat dagegen eine Bevölkerungsdichte von 1.400 Einwohner auf einem Quadratkilometer.
Dienen die Raketen der Abschreckung?
Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte in der Tagesschau: „Mit der neuen Bedrohungslage, die von Russland ausgeht, geht es jetzt um die Frage, wie schrecken wir effektiv ab…Wir sind in der Lage und bereit, uns zu verteidigen. Also jeder Schlag gegen uns wird auch beantwortet werden, und das konventionell.“
Ist der Entscheider über den Einsatz dieser Waffen aber nicht fernab in Washington?
Der politische Weggefährte von Helmut Schmidt, Klaus von Dohnanyi, spitzt dieses Dilemma wie folgt zu: „Ich halte das für eine gefährliche Entwicklung, dass ein Land – nämlich die USA – über unsere Sicherheit mitentscheidet, das später von den entsprechenden Folgen dieser Entscheidung gar nicht betroffen wäre.“
Der gewiss US-freundliche Vorsitzende der „Atlantik Brücke“ und frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel fragt in einem Interview zurecht: „Wie wirksam ist die gewünschte Abschreckung, wenn jeder weiß, dass im Falle des Einsatzes das eigene Land der totalen Zerstörung preisgegeben wäre? Das ist der Grund, warum die USA immer klar gemacht haben, dass sie ihr strategisches nukleares Waffenpotenzial gegen Russland nur einsetzen würden, wenn sie selbst durch solche Nuklearwaffen bedroht wären. Also nicht etwa, wenn Europa betroffen wäre. Damit ist ein potenzielles nukleares Schlachtfeld klar definiert: Es liegt in Europa.“
Ein steter Alarmzustand
Selbst wenn man die Abschreckungsthese für richtig hält, so entsteht jedenfalls durch die Raketenstationierung ein ständiger Alarmzustand auf beiden Seiten. Das kann zu Fehlwahrnehmungen, Fehlalarmen führen. Die geplante Hyperschallrakete fliegt mit 17-facher Schallgeschwindigkeit. Je kürzer die Vorwarnzeiten sind desto größer ist die Gefahr einer präemtiven, also zuvorkommenden Kurzschlussreaktionen.
Wenn auch nur der Verdacht besteht, dass die weitreichenden Waffen nuklear bestückt sein könnten, dann entsteht daraus sogar die Gefahr eines nuklearen Präventivschlags. Und der erste Schlag würde jedenfalls dem Land gelten, wo die Abschreckungswaffen stationiert sind, nämlich Deutschland.
Droht man also mit der Stationierung nicht seinem potentiellen Gegner mit etwas, das für einen selber gefährlicher ist als für den Gegner?
Eine gefährliche Abschreckungslogik
Meint Pistorius wirklich, dass mit den zu stationierenden Raketen die Angriffsfähigkeit Russlands völlig ausgeschlossen werden kann, dass man also einen Enthauptungsschlag führen könnte? Hätte Moskau aber nicht Atomraketen weit außerhalb der Reichweite der jetzt geplanten US-Raketen? Bedeutet das nicht eine Abschreckung mit einer Drohung zum Selbstmord?
Ganz deutlich wird diese gefährliche Logik durch ein Erklär-Video des wichtigsten politischen Beraters von Verteidigungsminister Pistorius, nämlich Dr. Jasper Wiek.
Er sagt in dem Video: Es sollen mit der Stationierung der US-Mittelstreckenraketen Raketenabschussrampen in der Tiefe Russlands zerstört werden können, bevor Putin selbst seine Raketen startet.
Wiek hat offenbar gar nicht bemerkt, was er damit sagt: Er redet nämlich damit von einem überraschenden Entwaffnungserstschlag seitens des Westens in Russland das Wort. Es ist als ob man mit dieser Rüstungseskalation Selbstmord aus Angs vor dem Tod betreibe.
Gefahr eines Erstschlages durch Russland
Die Entscheidung, diese weitreichenden Waffen weg von der See-und/oder Luft-Stützung zu nehmen und zusätzlich zur Landstützung zu bringen, ist eine Entscheidung, das Territorium des Stationierungsstaates einem Präventivschlag-Riskio auszusetzen.
Jedenfalls besteht das Risiko, dass Russland die Stationierung nicht als defensive Abschreckung auffasst, sondern als Aufbau der Fähigkeit zu einem Überraschungsangriff, der auch die eigenen nuklearen Fähigkeiten bedroht. Warum sollen also umgekehrt die Russen abwarten, bis ihre Raketenabschussrampen zerstört werden? Wäre es dann nicht klüger, die Abschussbasen der westlichen Seite zuerst auszuschalten?
Selbst ein Gefälligkeitsgutachten der Stiftung Wissenschaft und Politik zugunsten der Bundesregierung kommt zu dem Urteil, dass die Eskalationsrisiken überzeichnet würden. Es gebe „keine großen zusätzlichen Risiken“ und „das Risiko für Deutschland (sei) moderat“. Und selbst in diesem Gutachten wird ein Rüstungskontrollvorschlag bevor Fakten geschaffen würden als hilfreich angesehen. Droht man also mit der Stationierung nicht seinem potentiellen Gegner mit etwas, das für einen selber gefährlicher ist als für den Gegner?
Es ist erstaunlich, dass in den politischen Erklärungen und in öffentlichen Kommentaren zur Stationierungsentscheidung die Reaktionen Russlands kaum eine Rolle spielen.
Unterschiedliche Interessen
Abschließend will ich noch ein Tabu in der öffentlichen Diskussion ansprechen:
Nämlich, dass es unterschiedliche nationale Interessen zwischen denen der USA und Deutschlands gibt.
In der am 19. April aktualisierten Fassung über die Bedeutung der Multi-Domain Task Force heißt es, „der Kongress hat seine Besorgnis über die von Russland und China ausgehende Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA zum Ausdruck gebracht“ und die MDTF sei das „organisatorische Herzstück“ um dieser (nationalen) Bedrohung zu begegnen. Daraus wird deutlich, dass die Stationierung weitreichender Waffensysteme in erster Linie der nationalen Sicherheit der USA und nicht etwa der Sicherheit Deutschlands oder Europas vor der russischen Bedrohung dienen soll.
Es liegt doch auf der Hand, dass das primäre nationale Interesse der USA ist, dass das eigene Territorium bei einem Krieg möglichst unberührt bleibt. Umgekehrt müsste die Bundesregierung in Deutschland doch alles dafür tun, dass es keinen auf Deutschland begrenzten Krieg gibt.
Im schon zitierten Interview sagt Sigmar Gabriel dazu: „Für uns Deutsche gibt es bei dieser Stationierung eine besonders heikle Frage: Die Stationierung solcher Waffensysteme hat ja immer das Ziel, dass sie nie eingesetzt werden, weil die gegnerische Macht weiß, dass es am Ende nur Verlierer gibt. Das Problem aller nuklearen Strategien in Europa ist aber, dass für den Fall, dass es trotzdem einmal zum Einsatz solcher Waffen kommen könnte, Zentraleuropa und damit Deutschland immer das Schlachtfeld wäre, auf dem ein solcher Schlagabtausch ausgetragen würde.“
Die Kernfrage ist also: Dient die Raketenstationierung eher den Schutzinteressen Deutschlands oder dient unser Land nicht eher der „Handlungsfreiheit“ der US-Streitkräfte und damit als potentielles Schlachtfeld der Vorwärtsverteidigung der USA?
Welche Meinungen gibt es in der Bevölkerung?
In einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Civey vom 5. bis 7. August bejahten 50 Prozent die Frage, dass es durch das Vorhaben zu einer Eskalation kommen könnte. 38 Prozent glauben dies nicht. Der Umfrage zufolge erwarten 47 Prozent der Befragten eine Abschreckungswirkung auf Russland. 45 Prozent sehen das nicht so.
60 Prozent der Befragten in Ostdeutschland sprechen sich gegen die Stationierungspläne aus, 26 Prozent befürworten sie. Im Westen überwiegt die Zustimmung – 50 Prozent sind dafür, 36 Prozent dagegen.
Zur politischen Lage in der Frage der Raketenstationierung
In der FDP und der CDU gab es Zustimmung zu der Stationierungs-Vereinbarung. Marie-Agnes Strack-Zimmermann meint, Putin verstehe nur die Sprache der Abschreckung, das heiße, wir müssten „aufrüsten“ .FDP-Chef Lindner setzte sogar noch einen drauf und sagte: „Meine größte Sorge hinsichtlich der Stabilität der Bundesregierung…ist inzwischen die SPD-Fraktion“ und bezog sich damit auch auf kritische Stimmen in der SPD an der Stationierung weiterer US-Waffen. Annalena Baerbock warnte in diesem Zusammenhang vor Naivität gegen über einem „eiskalt kalkulierenden Kreml“ und Habeck bezeichnet die geplante Stationierung als „notwendig“. Die Co-Vorsitzenden der SPD, Lars Klingbeil und Saskia Esken, halten die Stationierung für richtig, Generalsekretär Kevin Kühnert auch https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/interview-mit-kevin-k%C3%BChnert-olaf-scholz-soll-ja-nicht-das-sommerhaus-der-stars-gewinnen/ar-AA1pfnp6. Esken räumte im Sommerinterview im ZDF nur ein, dass „Fehler im Verfahren gemacht“ worden seien .
Eine parlamentarische Mehrheit dürfte Bundeskanzler Olaf Scholz somit hinter sich haben.
Wenn jetzt das SPD-Präsidium am 12. August – mitten in der Sommerpause – beschlossen hat, dass sich die SPD auch in Zukunft intensiv dafür einsetzen werde, dass es neue Ansätze für glaubwürdige Rüstungskontrolle und Abrüstungsinitiativen gibt und wenn Lars Klingbeil am 25. September in einer Online-Konferenz über die „Zukunft sozialdemokratischer Friedens- und Sicherheitspolitik“ mit den Parteimitliedern „sprechen“ (!) will, so ändert das rein gar nichts an der getroffenen Vereinbarung. Die entscheidenden Fragen werden vom SPD-Präsidium weder zur Sprache gebracht, geschweige denn beantwortet.
Eine Debatte mit einem schon vorher feststehenden Ergebnis kennt man eher von autoritären Regimen, meint Stefan Reinecke in der taz.
Die Gruppe der Linken forderte in einem Antrag vom 19. August im Bundestag unter anderem:
– Analog zur Bundestagsdebatte über den NATO-Doppelbeschlusses dem Bundestag einen Antrag vorzulegen und die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen im Bundestag zu debattieren;
Und darüber hinaus wird gefordert, das bilaterale Abkommen mit den USA über die Stationierung von Raketenmittlerer Reichweite in Deutschland zu annullieren;
– die US-Regierung aufzufordern, das 56th Artillery Command aus Wiesbaden aufzulösen oder abzuziehen.
Die BSW-Vorsitzende Wagenknecht erklärte, die Stationierung würde die Gefahr erhöhen, dass Deutschland selbst zum Kriegsschauplatz werde. Der AfD-Co-Vorsitzende Chrupalla betonte, die Stationierung von US-Waffen mache Deutschland zur Zielscheibe.
Kritiker werden niedergemacht
Aus der SPD-Bundestagsfraktion hat zuerst der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich vor den Risiken der Stationierung gewarnt und auf die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Konfrontation hingewiesen. Ralf Stegner verlangte eine Debatte im Parlament und in der Gesellschaft und wies darauf hin, dass die NATO bei see- und luftgestützten Systemen qualitativ und quantitativ überlegen sei. Auch Erik von Malottki (Meck-Pom) in seiner Funktion als Sprecher des Forums Demokratische Linke (DL 21), Thüringens SPD-Innenminister Georg Maier oder der Berliner Abgeordnete Michael Müller warnten vor einer Eskalation. An der SPD-Basis – so hört man – breite sich Unmut aus, schreibt die ZEIT.
Die Medien fallen zum allergrößten Teil über Rolf Mützenich her. Er sei „gefährlicher als jede Rakete“ , er „irrlichtere“, sei „unbeirrbar und unbelehrbar“, der frühere Dreisternegeneral Heinrich Brauß nannte seine Vorstellungen „absurd“. Der Unterbezirk der KölnSPD, dem Mützenich angehört, unterstützt ihn uneingeschränkt.
Norbert Walter-Borjans empört sich darüber, dass über Kritiker meist im herablassenden Ton geredet werde, sie würden als Träumer hingestellt oder sie müssten „sicherheitspolitisch erwachsen werden“. Die Unterstützer der Stationierung würden hingegen als Experten gelten.
Diesmal sind es nicht die Jüngeren, sondern die Alten, von denen der Widerstand gegen die Aufrüstung zuerst ausgeht, sie demonstrieren nicht, sie schreiben Briefe. Der Erhard-Eppler-Kreis – federführend Ex-Staatsministers im Auswärtigen Amt Gernot Erler, der ehemalige Co-Vorsitzenden des Club of Rome Ernst Ulrich von Weizsäcker und auch der frühere SPD-Co-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans -veröffentlichte vergangene Woche ein Schreiben, in dem – unter anderem – „eindringlich“ davor gewarnt wird, „die Gefahren einer Stationierung mitten in Europa“ zu unterschätzen. Auch der Willy-Brandt-Kreis warnt in einem Schreiben, Deutschland werde durch die geplante Stationierung zu einem „vorrangigen Ziel russischer Raketen“, Vorwarnzeiten würden „drastisch verkürzt“.
Den Aufruf „Frieden schaffen“ haben viele Gewerkschafter unterschrieben.
Es herrscht zwar keine Totenstille um diese Stationierungsentscheidung, wie Heribert Prantl schreibt. Aber aus der Gesellschaft heraus haben sich bisher nur die üblichen Verdächtigen aus der Friedensbewegung zu Wort gemeldet.
Bei einigen dieser Friedensappelle wird die Kritik an der Stationierung von Raketen mit Forderungen nach einem Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine oder allgemein mit der Forderung nach einem Waffenstillstand verknüpft. Man mag zu diesen Forderungen stehen wie man will, die Verknüpfung dieser Forderungen schadet m.E. jedoch, weil sie spaltet und nicht vor allem auf die persönliche Bedrohung durch die Stationierungsentscheidung setzt. Das Besondere an der Stationierung ist, dass zum ersten Mal seit dem Nachrüstungsbeschluss 1979 wieder eine unmittelbare Bedrohungssituation für die Bevölkerung entsteht.
Von der katholischen Kirche hat bisher nur der Militärbischof Franz-Josef Overbeck bedauert die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. Und von der evangelischen Seite hat bisher nur die frühere evangelische Bischöfin Margot Käßmann gewarnt.
Die Sorge vor der geplanten Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenraketen müsste eigentlich noch viel größer sein als anfangs der 80er Jahre. Doch eine Friedensbewegung vergleichbar zu den frühen 80er-Jahren ist nicht in Sicht.
Die Angst vor Putin lähmt die öffentliche Debatte
Heute scheint die Angst vor Putin zu lähmen. Man will nicht als Putin-Freund gelten. Wenn aber der Vorwurf, Moskaus Propaganda zu unterstützen, eine gesellschaftliche Debatte und eine rationale Risikoabwägung über dieses wichtige Thema verhindert, so spielt das nicht nur Systemgegnern und Populisten in die Hände, sondern ein solche Debattenlücke schürt auch die Logik der Konfrontation und der Aufrüstung.
Der Ausgang der Parlamentswahlen in Sachsen und Thüringen wird CDU, SPD, Grünen und der FDP die Quittung für ihr Vorgehen ausstellen.
Ich stimme Wolfgang Liebs sehr genauer Analyse des Stationierungs-Beschlusses völlig zu.
Es muss jetzt darum gehen, eine Bewegung zu entwickeln, die eine Mehrheit gegen diese Stationierung und die daraus resultierende Eskalationsgefahr für einen atomaren Krieg auf dem Schlachtfeld Europa zu gewinnen versucht. Für mich gibt es keinen geeigneteren Weg als den von 1980, als sich um den Krefelder Appell im ganzen Land lokale Friedensinitiativen in allen gesellschaftlichen Bereichen bildeten, die 4 Millionen Unterschriften sammelten, Großdemonstrationen organisierten und mit vielfältigen Protestaktionen das politische Klima bestimmten. Wer organisiert einen neuen KREFELDER APPELL, der ungeachtet unterschiedlicher Einstellungen zum Ukraine-Krieg den Fokus auf die Verhinderung der Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen richtet ?