Als Kai Wegner noch Oppositionsführer im Berliner Abgeordnetenhaus war, begleitete der CDU-Politiker eines Nachts einen Kältebus, der bei Dauerfrost die bekannten Stationen der Treberszene ansteuerte und Obdachlose mit Schlafsäcken, Decken, heißen Getränken und vitaminreicher Nahrung versorgte. Wegner zeigte sich von der Tour an den Rand der Stadtgesellschaft tief beeindruckt. Besonders berührte ihn das Schicksal einer Frau in den Fünfzigern, von der ein Sozialarbeiter berichtete, dass sie tagsüber in einer Wohnung lebt, aber nachts zu ihrer „Familie“ zieht, die seit Jahren unter einer S-Bahn-Brücke kampiert. Seither ist der inzwischen zum Regierenden Bürgermeister aufgestiegene Wegner überzeugt:“Es ist nicht damit getan, einer Obdachlosen einen Wohnungsschlüssel in die Hand zu drücken, und alle Probleme sind gelöst.“
Intern soll Wegner das Modell „Housing First“, auf das der vorige rot-grün-rote Senat setzte, als „totalen Quatsch“ abqualifiziert haben. Das war besonders an die beiden Ex-Sozialsenatorinnen Elke Breitenbach und Katja Kipping von der Linkspartei gerichtet, die den Kampf gegen die Obdachlosigkeit in Berlin ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hatten – mit einem „Masterplan“, auskömmlicher Finanzierung und Runden Tischen mit Verwaltung, Verbänden und Trägern. Bis 2030 sollte es keine Obdachlosen an der Spree mehr geben, so das ehrgeizige Ziel. Dagegen lassen Kai Wegner und seine Stellvertreterin Franziska Giffey (SPD) die amtierende Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) gern links liegen, wenn es um die Unterbringung von Flüchtlingen oder Wohnungslosen geht. Es heißt:“Es knirscht zwischen Wegner und Kiziltepe.“ Keine gute Voraussetzungen für die Fortsetzung des von Breitenbach und Kipping so engagiert begonnenen Programms.
Tatsächlich haben die vier neuen Projektträger, die seit Anfang 2023 Finanzmittel vom Land erhalten, noch keinen Wohnungslosen in eigene vier Wände vermitteln können. Doch diese ernüchternde Bilanz ist nicht die ganze Wahrheit. Vielleicht sollte sich der Regierende Bürgermeister mal mit Esther Maria Köb unterhalten, die beim „Housing First für Frauen“ für Immobilien und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Das ursprünglich aus den USA stammende Konzept sieht vor, dass obdachlose Menschen zunächst in eine Wohnung vermittelt werden, ohne Differenzierung nach Alter, Bedürftigkeit oder Dauer ihrer Obdachlosigkeit. Erst dann setzt eine intensive soziale und psychologische Betreuung ein mit dem Ziel, die Betroffenen auf ihrem Weg in ein nachhaltig normales Leben zu unterstützen. Immerhin 6,1 Millionen Euro stellte das Land im Doppelhaushalt 2022/2023 für diese Projekte zur Verfügung.
Die aus Bregenz am Bodensee stammende Soziologin Köb lächelt milde, wenn sie von Wegners Vorbehalten gegen „Housing First“ hört:“So naiv sind wird nicht, dass wir glaubten, allein mit unserer Arbeit die Obdachlosigkeit in Berlin beseitigen zu können.“ Köb kümmert sich bei dem Projekt des Sozialdienstes katholischer Frauen um die Bereitstellung von geeigneten Wohnungen für bis dahin Obdachlose. Seit dem Start der Initiative im Oktober 2018 sind immerhin 84 Betroffene mit einem Dach über dem Kopf versorgt worden, 32 davon allein in diesem Jahr. Die eingegangenen Mietverhältnisse bezeichnet Köb als „stabil“. Auf einer Warteliste stehen weitere 280 alleinstehende Frauen, die eine Wohnung suchen, neun hauptamtliche Mitarbeiterinnen (Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Verwaltungsangestellte, Handwerkerinnen) sind für die Betreuung zuständig.
„Housing First“, räumt Köb ein, sei lediglich „ein Baustein“ unter vielen, „kein Allheilmittel“. Es gebe Frauen, die zunächst mit einer Schlafstelle in Notunterkünften angemessener versorgt werden könnten, weil der akute Betreuungsbedarf größer sei. In ganz Berlin gibt es rund 1100 solcher Unterkünfte, davon 700 nur temporär. Wie dramatisch das Problem von Wohnungs- und Obachlosigkeit in der Hauptstadt wirklich ist, weiß niemand so genau. Der Versuch, die betroffenen Personen zu zählen, scheiterte in jüngster Zeit gleich zwei Mal daran, dass sich nicht genügend Freiwillige für die Aktion auf der Straße meldeten. Experten schätzen, dass es in Berlin rund 6000 Obdachlose und 60 000 Wohnungslose gibt. Für die Bundesrepublik wurden zum Stichtag 30. Juni 2022 etwa 447 000 Menschen ohne Wohnung gemeldet – im Jahr davor waren es nur 268 000. Die Steigerung wurde vor allem auf die hohe Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine zurückgeführt. Aber auch der Zustrom von EU-Bürgern aus Osteuropa (Polen, Rumänien, Bulgarien) ohne Job und Wohnung hält an, gerade in der Metropole an der Spree. Unter den Obdachlosen, die auf der Straße leben, sind rund 70 Prozent nichtdeutscher Herkunft.
Rein theoretisch könnten die Obdachlosen von Berlin auf einen Schlag untergebracht werden. Die Bezirksverwaltungen, so wurde jüngst durch eine Anfrage der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus bekannt, wissen von mindestens 5300 leerstehenden Wohnungen in der Stadt – die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Das Problem: Weil ein amtliches Wohnungskataster fehlt, ist die Bürokratie auf pflichtbewusste Eigentümer oder aufmerksame Nachbarn angewiesen, automatisch erfahren die Kommunalbeamten nicht von ungenutztem Wohnraum. Ein Skandal, wie nicht nur die Opposition im Landesparlament findet. Dabei gibt es sogar eine „Zweckentfremdungsstelle“ in Schöneberg, die Akten anlegt, sobald sie von entsprechenden Objekten Kenntnis erlangt.
Doch das 2014 erlassene „Zweckentfremdungsverbots-Gesetz“ erweist sich als weitgehend zahnlos. Zwar droht Immobilienbesitzern, die Wohnungen oder Häuser lange leerstehen lassen, eine Geldstrafe, im Extremfall sogar eine vorübergehende Enteignung, doch ehe solche Verfahren rechtskräftig abgeschlossen sind, vergehen meist Jahre. Und wie viel Wohnraum in den Jahren seit Inkrafttreten des Gesetzes wieder seiner eigentlichen Nutzung zugeführt wurde, wird statistisch nicht erfasst. So wird in Berlin weiter munter spekuliert. Nicht nur im Charlottenburger Umfeld des Luxuskaufhauses KaDeWe ist seit sechs Jahren ein Mehrfamilienhaus „entmietet“, im benachbarten Wilmersdorf stehen zahlreiche Privatvillen, Gebäude öffentlicher Einrichtungen und ein kleines Hotel leer.
Für die nächsten Monate bereiten sich die Sozialverbände auf einen wachsenden Bedarf an Notunterkünften und Wärmestuben vor. Sogar das Humboldt Forum offeriert einen „Ort der Wärme“ für bis zu 150 Personen. Finanzprobleme durch steigende Kosten für Energie und Nahrungsmittel setzen die Projektträger unter erhöhten Druck. Die Caritas unterhält seit 30 Jahren eine Anlaufstelle für Hilfesuchende am Wilmersdorfer Bundesplatz. In den Monaten von November bis März öffnet die Einrichtung ihre Türen täglich von 15 bis 18 Uhr als Ort zum Aufwärmen und Austausch mit 20 ehrenamtlichen Betreuern. Thomas Gleißner von der Caritas berichtet von „immer mehr Menschen, die wenig Geld haben und außerdem einsam sind“. Gut 80 Frauen und Männer sind Stammgäste der Wärmestube, Obdachlose, Rentner, Alleinstehende. Sie werden mit heißen Getränken und warmen Speisen versorgt, können Zeitungen lesen oder Karten spielen. Nur etwas dulden die Betreiber nicht. „Sie sind unter Alkoholeinfluss“, so stellt sich die resolute Mitarbeiterin Elzbieta Stolarczyk vier Männern am Eingang entgegen,“Sie kommen hier nicht rein.“
Bei den Experten der Caritas verweist man gern auf positive Erfahrungen beim Kampf gegen die Obdachlosigkeit – jenseits von „Housing First“. So bietet das Sozialgesetzbuch Leistungen für wohnungslose Personen an, die „nicht ganz so komfortabel“ seien wie beim vom früheren Senat favorisierten Konzept, aber sehr effektiv. Kai-Gerrit Venske, Fachreferent für Wohnungslosenhilfe bei dem katholischen Sozialverband, schätzt, dass pro Jahr rund 2000 von Wohnungslosigkeit betroffene oder akut bedrohte Berliner auf diesem Weg in Mietverträge vermittelt werden könnten. Dass die Behörden bei den Bewilligungen für diese Notfälle in jüngster Zeit „auf der Bremse stehen“, kann Venske nicht nachvollziehen, schon gar nicht angesichts wachsender Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch im zunehmend betroffenen Speckgürtel in Brandenburg.
Der Mainzer Arzt Gerhard Trabert, der mit seiner mobilen Praxis die Obdachlosen in seiner Heimatstadt aufsucht und kostenlos behandelt, nennt Wohnungslosigkeit „die Spitze des Armutseisbergs“. Am Leopoldplatz im Berliner Wedding bilden Armut und Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Drogenkonsum eine Kulisse der Verwahrlosung, die vielen Menschen Angst macht. Sogar die Anrainer von der Initiative „Wir am Leo“ sind inzwischen ratlos. Ihr Sprecher Sven Dittrich, der einen Trödelladen am Platz betreibt, sagt: “Hier wird das Elend nur noch verwaltet.“ Auch Kai-Gerrit Venske von der Caritas befürchtet, dass sich das Problem mittelfristig verfestigt. Er vermisst bei der verantwortlichen Politik ein klares Konzept mit konkreten Zielvorgaben für die nächsten Jahre. Dem Betrachter kommen die zahlreichen Einzelinitiativen – Wärmestuben, Tafeln, Kältebusse, Bahnhofsmissionen – vor wie ein Kurieren an Symptomen, wie Heftpflaster auf blutenden Verletzungen. „Ja“, meint Venske,“das mag so wirken, aber wenigstens verhindert das Pflaster, dass sich die Wunde weiter entzündet.“
Bildquelle: flickr, Uwe Hiksch, CC BY-NC-SA 2.0