„Deutsche Zustände“ überschrieb das Sozialforschungsinstitut in Bielefeld ihre bis vor kurzem jährliche Untersuchung über Rechtsextremismus in Deutschland. Kein Weckruf für die politische Debatte im Land. Er verhallte zumeist schon wenige Tage nach Vorstellung der neuesten Daten über die Wanderung des Rechtspopulismus vom Rand der Gesellschaft in deren gesellschaftliche Mitte. Längst mehren sich auch im demokratischen Parteienspektrum Stimmen, die den Rechtskonservativen nahe kommen, die jedes Verständnis entbehren lassen, Flüchtlingen aus den Hungerzonen der Welt oder aus Bürgerkriegsländern Asyl zu gewähren. Es gelte die „Heimat“ vor „Überfremdung“ zu retten.
65 Millionen Menschen sind nach Angaben des UNHCR derzeit weltweit auf der Flucht. Die Sprengkraft ist groß, und dividiert die Mitgliedsländer der Europäischen Union auseinander. Allein der Versuch, die in Italien über das Mittelmeer in Europa anlandenden Flüchtlinge geordnet zu verteilen, ist gescheitert. Polen, Ungarn und die Tschechische Republik weigern sich Flüchtlinge aufzunehmen, dem wird sich die rechtskonservative neue Regierung in Wien sicher gern anschließen.
Aufkündigung von Grundsätzen
Gleichzeitig mehren sich die Zeichen vor allem in Osteuropa, an Brüssel keine Kompetenzen abzugeben, die wirtschaftlich und sozial die innere Einheit Europas stärken, und seine Stimme politisch und wirtschaftlich zur Geltung zu bringen. Im Gegenteil, scheinen die Osteuropäer vor allem daran interessiert zu sein, nationale Kompetenzen von Brüssel zurückzuholen. Das gilt auch für Entscheidungen in Polen und Ungarn, die als Aufkündigung freiheitlicher Grundsätze gesehen werden und die Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern gefährden.
Kein Wunder, dass die SPD die Stärkung Europas bis zu der Finalisierung der Vereinigten Staaten von Europa als die Herausforderung deutscher Politik ansieht. Dazu gehört auch, die zunehmenden nationalen Egoismen zu überwinden, damit ein einiges Europa einen Beitrag zur Lösung der großen weltweiten Herausforderungen leisten kann. Absolute Priorität hat dabei der Kampf gegen den Klimawandel, der schon jetzt Teile des blauen Planeten unbewohnbar macht. Dass dies von der gegenwärtigen US-Administration als eine Erfindung Chinas zum Nachteil der USA betrachtet wird, zeigt vor allem, wie wichtig ein einiges Europa wäre.
Soziale Verwerfungen
Desgleichen gilt für die globalen sozialen Verwerfungen. Immer mehr Menschen brauchen Perspektiven in einer zwischen Arm und Reich geteilten Welt. Das gilt für den Norden, aber noch mehr für den Süden des Planeten. Die Aufzählung von sechzig Namen in der Welt reichen, um zu wissen, wer über die Hälfte des weltweiten Vermögens verfügt. Das zeigt weiter, wohin die Entwicklung gehen kann: Kampf um Wasser oder um landwirtschaftliche Nutzflächen, die noch nicht zur Wüste wurden. Es steht vieles auf dem Spiel.
Vor diesem Hintergrund zeigt sich, mit welcher politischen Leichtfertigkeit bislang unter dem Stichwort „Jamaika“ politische Verantwortung verspielt wurde. Gleichzeitig zeigt sich, wie berechtigt die Zurückhaltung der SPD gegenüber einer Union ist, die bislang nicht hat erkennen lassen, was sie denn von einer „stabilen“ Regierung in einer erneuten, wenn auch erheblich geschrumpften Großen Koalition in den nächsten vier Jahren erwartet.
Altersarmut ist ein Thema
Es ist gewiss mehr nötig als herablassende Äußerungen gegenüber einer SPD, die wichtige Reformprojekte auf dem politischen Zettel hat. Da reicht es nicht, wenn das als „Sozialromantik“ abgelästert wird. Nichts ist falsch daran, wenn Altersarmut ins Visier genommen wird, auch nicht, zwar Digitalisierung aller Lebensbereiche zu fordern, ohne zugleich eine Folgenabschätzung für Jobs und Bildung vorzunehmen. Die wachsende Zahl von Stadtmagazinen wie in Berlin, die sich „motz“ oder „straßenfeger“ nennen, geben denen eine Stimme, die als Wohnungslose bei Freunden unterkommen oder als Obdachlose nachts auf Straßen oder unter Brücken kampieren, weil sie die explodierenden Mietpreise nicht mehr aufbringen können.
Es wird sich daher zeigen, ob es gelingt, erneute eine Koalition zu schmieden, die nach dem Beschluss des SPD-Vorstandes in Verhandlungen einzutreten, nur dann möglich erscheint, wenn von der Union mehr zu hören ist als Frau Merkels Wunsch, weiter Kanzlerin zu bleiben. Wenn es nicht gelingt, für Deutschland in Europa eine Mission zu beschreiben, die Menschen davon überzeugt, das es dabei auch um ihre Interessen geht, die erkennbar von der Politik wahrgenommen werden, wird dieser Versuch scheitern. Dann bleiben nur Neuwahlen als letzter Ausweg und Richtung deutscher Zustände.
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