Es gab Zeiten, da trat die SPD mit voller Überzeugung und offensiv für soziale Gerechtigkeit ein. Und mit gesundem Selbstbewusstsein. „Deutsche Arbeiter. Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen.“ Dieses Plakat voller Ironie und Spott für den politischen Gegner hatte der Polit-Grafiker Klaus Staeck entworfen. Die SPD plakatierte dieses Kult-Objekt im Willy-Brandt-Wahlkampf 1972. Fortan schmückte es so manche Studenten-WG. Der frische Wind des Aufbruchs durchwehte damals die Republik und zog viele Menschen in den Bann – vor allem auch junge.
Und heute? Verzagt versteckt sich die SPD in der Ampel-Koalition hinter der neoliberalen Lindner-FDP, für die das Thema soziale Gerechtigkeit des Teufels ist. Und man wird das Gefühl nicht los, als herrsche zumindest in Teilen der SPD sogar klammheimliche Freude darüber, dass man das Thema Gerechtigkeit nicht grundsätzlich neu anfassen muss – und dass die FDP dafür als Alibi dienen kann. Getreu der Devise: „Wir würden ja gerne – aber was können wir schon machen?“
Ein gutes Beispiel dafür, wie verzagt die SPD agiert, zeigt die jüngste Debatte um das Elterngeld. Die nun geplanten Kürzungen in diesem Bereich haben bei den betroffenen Gutverdienern teils wütende Reaktionen ausgelöst. Das Elterngeld bei einem zu versteuernden Einkommen oberhalb von 150.000 Euro pro Jahr zu kappen, behindere die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, sei ungerecht und leistungsfeindlich, wird von etlichen Usern in den sogenannten Sozialen Medien bemängelt. Wohlgemerkt: Es handelt sich um eine relativ kleine Gruppe, die da Lärm macht: Betroffen sind – je nach Schätzung – maximal fünf Prozent der Steuerpflichtigen im entsprechenden Alter. Aber es ist halt jene Gruppe von Betroffenen der gut situierten „Mittelschicht“, die es versteht, sich überproportional Gehör und Einfluss zu verschaffen. Man vergleiche diesen Wirbel nur mit dem öffentlich relativ lauen Gegenwind, den die wirklich skandalös kleine Anhebung des Mindestlohns um 41 Cent auf 12,41 Euro ab 2024 ausgelöst hat. Doch die trifft halt „nur“ die zwar große, aber schweigende Gruppe der Kleinverdiener, könnte man zynisch anmerken. Auch von Seiten der SPD ist da wenig zu hören. Dabei ist die Einführung des Mindestlohns ein Pfund, mit dem die Partei wuchern könnte.
Nicht mit der Gießkanne
Doch zurück zum Elterngeld: Hier mag man beklagen, dass bei einer Kappung das Argument mit den negativen Auswirkungen auf die Gleichberechtigung zumindest theoretisch nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Wenn die Neuregelung tatsächlich dazu führt, dass gutverdienende Männer künftig noch weniger Familienarbeit übernehmen als heute, so ist das zu bedauern. Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass der positive Effekt des Elterngeldes auf die Gleichberechtigung auch zur Zeit nur minimal ist.
Dass es aber eine SPD-geführte Bundesregierung überhaupt einmal wagt, Geldleistungen nicht mit der Gießkanne über Arm und Reich zu verteilen, sondern sich auf Menschen beschränkt, die diese Leistungen benötigen, ist zu begrüßen. Und sollte von der Sozialdemokratie mutig und mit breiter Brust verteidigt werden.
Tatsächlich kommen Kürzungen im Familienbereich – ob angemessen oder nicht – in der Öffentlichkeit nicht gut an. Sie sind leicht zu attackieren. Wie sollen sich die Sozialdemokraten nun positionieren? Sie könnten sich kleinlaut entschuldigend zurückziehen, den Vorschlag abändern und auf die klamme Haushaltslage verweisen. Oder aber sie könnten in die Offensive gehen. Sie könnten den Streit zum Anlass nehmen, eine breite Debatte über Gerechtigkeit zu befeuern, über unverdiente Armut und unverdienten Reichtum in Deutschland. Hier könnte die SPD Profil und neues Vertrauen gewinnen, sie könnte Menschen mobilisieren und für sich gewinnen. Diese große Debatte um soziale Gerechtigkeit aber muss die SPD auch wirklich wollen – und dann bei dem Thema endlich aus der Deckung kommen. Oder wollen die Sozialdemokraten tatenlos zusehen, wie in Deutschland die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht? Denn trotz aller Krisen – Pandemie, Krieg, Inflation – sind die Reichen in den vergangenen Jahren immer reicher geworden, während auf der anderen Seite die Armut sichtbar für alle um sich greift.
Wie wäre es, wenn die Sozialdemokraten mit einigen praktischen Vorschlägen für mehr Gerechtigkeit in den nächsten Wahlkampf zögen?
Da wäre etwa das Thema Spitzensteuersatz. Der lag unter CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl – bekanntlich kein Kommunist – noch bei 53 Prozent. Und wurde dann unter Kanzler Gerhard Schröder von der SPD (!) auf 42 Prozent gesenkt. Das war neben der Einführung von Hartz IV einer der Kardinalfehler der damaligen Sozialdemokraten, die sich dem neoliberalen Zeitgeist angedient hatten. Von diesem Kurswechsel nach rechts hat sich die Partei bis heute nicht erholt.
Da wäre als nächstes das Ehegatten-Splitting, das völlig anti-sozial und anti-emanzipatorisch wirkt. Das Splitting ist eine riesige Finanzspritze für die Besserverdienenden und fördert die „Hausfrauen-Ehe“. Natürlich müsste die SPD die Abschaffung und deren Wirkung den Menschen gut erklären, das Desaster um das Heizungsgesetz sollte da eine Lehre sein. So könnte man mit den Mehreinnahmen etwa die unteren und mittleren Einkommen entlasten.
Die Liste der möglichen Korrekturen an der sozialen Schieflage ließe sich mühelos verlängern. Doch allein diese beiden Instrumente des Steuerrechts erbrächten Milliarden, die endlich mal vor allem die Wohlhabenden tragen müssten. Gleichzeitig würde der Staat, der in den letzten Jahrzehnten kaputtgespart wurde, dringend benötigte Einnahmen erzielen. Für bessere Schulen und mehr innere Sicherheit, für Wohnungsbau und die Reparatur maroder Brücken, für Integration und eine bessere Bahn….
Mehr Gerechtigkeit wagen
Sollte sich die SPD im nächsten Wahlkampf mit solchen Forderungen tatsächlich in Richtung Gerechtigkeit aufmachen, so muss sie natürlich mit heftigem Gegenwind rechnen. Diejenigen, die in den vergangenen Dekaden immense Vermögen angehäuft haben, werden das nicht widerstandslos hinnehmen. Sie werden die SPD heftig attackieren. Wirtschaftsverbände werden den Untergang des Standorts Deutschland beschwören, der FDP-nahe Bund der Steuerzahler (schon der Name ist Hochstapelei) die schreiende Ungerechtigkeit bejammern. Dabei werden sie von FDP-Chef Lindner und CDU-Boss Merz trompetend unterstützt. Und auch aus so mancher konservativen Chefredaktion wird der Kampf für sozialen Fortschritt gegeißelt werden – von Menschen, die sich viel eher mit dem Porsche-Fahrer Lindner und dem Privat-Flieger Merz identifizieren können als mit der vierköpfigen Familie in einer 60-Quadratmeter-Wohnung – einer Familie, die bei der krassen Inflation schon heute kaum noch über die Runden kommt. Gemeinsam werden die Konservativen und Neoliberalen die angebliche „Sozialneid-Debatte“ der SPD anprangern – als ob die Forderung nach mehr Gerechtigkeit mit Neid zu tun hat. Und sie werden arrogant proklamieren, dass Leistung sich wieder lohnen müsse. Als ob Millionen Arbeitnehmer halt zu wenig leisten – sonst wären sie ja reicher.
Diesem zu erwartenden Trommelfeuer von rechts entgegenzutreten, erfordert zweifellos Mut. Es gab Zeiten, da hatte die SPD diesen Mut und diesen Offensiv-Geist. Und sie hatte etwas, das man heute „Narrativ“ nennt, eine Vorstellung, eine Vision, wie eine bessere, eine gerechtere Welt aussehen könnte.
Willy Brandt stellte seine Regierungszeit damals unter das Motto „Mehr Demokratie wagen“. Trotz teils widerlicher Anfeindungen der politischen Rechten gegen seine Friedenspolitik in Osteuropa und schmähender Attacken gegen die so dringend nötige gesellschaftliche Öffnung im Innern blieben Brandt und seine Partei in den 60er und Anfang der 70er Jahre ihrer Linie treu. „Mehr Demokratie wagen“ – tatsächlich wurden dieser Mut und dieses Wagen von den Wählern belohnt. 1972 fuhr die SPD ein historisch gutes Ergebnis ein: Sie wurde zum ersten Mal stärkste Partei bei der Bundestagswahl: 45,8 Prozent. Nie wieder waren die Sozialdemokraten so erfolgreich.
„Mehr Gerechtigkeit wagen“. Das wäre doch ein guter Slogan für die SPD im nächsten Wahlkampf. Ein Slogan, dem allerdings mutig Taten folgen müssten. Nein, Villen im Tessin brauchen die deutschen Arbeiter und Angestellten wirklich nicht. Aber dringend ein größeres Stück vom Kuchen – und eine Partei, die zu ihnen steht.
Bildquelle: Plakat von Klaus Staeck zum Bundestagswahlkampf 1972